Die Zeit

[169] Dreißig Maate und Matrosen marschierten wir einen Weg, der uns bis zum einzelnen Pflasterstein vertraut war, da er seit Wochen täglich zweimal von uns zurückgelegt wurde.

Seeleute sind schlecht zu Fuß, und die gewitterschwangere Luft flimmerte wie über einem Holzkohlenfeuer. In einer Brandung von Staub zogen wir schlapp, durstig und verstummt dahin, im Gleichschritt: eins, zwei, Schritt, Schritt, Scheritt, Scheritt –

Für die dürftigen Begebenheiten auf den Fußsteigen links und rechts hatte niemand von uns Aufmerksamkeit. Jeder verfolgte mit Augen, die aus Müdigkeit und vor dem stechenden Mittagshimmel halb geschlossen waren, die Hacken des Vordermannes, die Fußspitzen des Nebenmannes.

Ich bildete den linken Flügel des letzten Gliedes. Vor mir bewegte sich unheimlich gleichbleibend, wie die einem Pendel gehorchenden Reklamefiguren in den Schauläden, ein Bild, das ich hundertmal so stundenlang vor mir gehabt hatte, dem ich nicht das geringste Neue mehr abzugewinnen vermochte: Lauter gleiche Ledergurte, jeder mit dem gleichen Lichtfleck an der gleichen Stelle. Lauter gleiche Seitengewehre, die im selben Moment leise an linke Schenkel anklirrten. Prall ausgefüllte Hosenböden mit einer einzigen, sich verzerrenden Falte, die ihnen den Anschein gab, als ob sie Gesichter schnitten. Gleichmäßig vor- und rückschwingende rechte Arme mit flachen schmutzigen Händen, gleiche linke Oberarme. Rechts von mir, hintereinander, wie auf einer Schnur aufgereiht, rosa Nasenspitzen. Und über den dreißig blauen Mützen ein wanderndes Spalier von Gewehrläufen, die in einer Bewegung zwischen Schwanken und Wippen den Rhythmus der groben Soldatentritte nachäfften.

Diese Tritte werden für Sekunden laut und drohend, wenn die Holzbrücke hinter dem Fort überschritten wird. Dann biegt die Straße in scharfer Kurve ab und führt an dem Milchgeschäft vorbei, wo die dicke Hedwig mit Kannen klappert und einen Matrosenwitz provoziert. Dann ein gewundener Wiesenweg, welcher in das von der Zivilbevölkerung gemiedene, tote Viertel am Strande, hinter dem Depot mündet.[170]

Dort – ich bemerkte es flüchtig – saß diesmal auf einer Bank unter den Kastanien, bequem vornüber geneigt, mit den Ellbogen auf die Schenkel gestützt, ein alter, schneeweißbärtiger Herr. Er blickte gleichsam ausruhend zu Boden und hielt zwischen gefalteten Händen einen Stock; damit zog er, in dem Augenblicke als ich passierte, eine leichte, spielerische Linie in den Sand. Er schaute nicht auf bei unserem Vorbeimarsch.

Er hat nicht einmal nach uns geblickt, da wir im treuen Gleichschritt vorüberzogen: dreißig Maate und Matrosen, die eventuell morgen, mitten auf dem Meere, weitab vom blutwarmen Lande in einem Backofen verbrennen oder in die stumme, ewige Nacht der platten Fische versinken; vielleicht – mag das immerhin als Pose geschehen – im Sterben noch ihr Flaggenlied schreien.

Ich, selbst Soldat und dieses Standes reichlich überdrüssig, muß noch immer wie beim ersten Male hinstarren, wenn sie nahen mit Trommeln und Pfeifen, mit Staub und Schweißgeruch, singend und blumengeschmückt oder schweigend und blaß. Alles Söhne, denke ich dann, alles Brüder, Väter, Gatten, alles Kugeln, alles Kegel, alles Helden, alles Gerippe; Dumme, Kluge, Arme, Reiche, Junge, Alte, – alle für die gleiche Idee feldgrau, marineblau. Und der Alte schaut nicht einmal auf. Verstehe einer die!

»Avanzadora, ich sah einmal tief in den russischen Wäldern etwa hundert deutsche Feldgraue ruhen. Die hockten, von den glühenden Fetzen des Abendhimmels beleuchtet, in langer Reihe in einem Graben, das Gewehr wie ein Kind in den Armen, den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen und den Mund weit offen, bis auf zwei wortlos wandelnde Posten.«

»Die Ärmsten!« entgegnet Avanzadora. »Gewiß hatten sie einen anstrengenden Marsch hinter sich. Der Osten fordert viel von den Beinen, und wo Breitenbach der Atem ausgeht, beginnt Hindenburg zu laufen.«

»Avanza, was hältst du von dem Matrosen dort, der das Pferd striegelt?«

»Der Kleine? Nun: lustig, gutmütig, pomadig und nicht gerade sonderlich intelligent.«

»Wohl! Du hast einen findigen Blick für Leute aus dem Volk. Ich wünschte, du könntest dich selbst so beurteilen. Nehmen wir an, der Matrose sei in Zivil Stallbursche oder Fensterputzer, denn ich kenne ihn nicht. – Höre, Avanza, vielleicht hat dieser Mann während des Krieges einmal, vom englischen Kanal aus, in[171] Minutenfrist – durch einen einzigen kurzen Druck mit seiner Hand – tausend Frauen im fernen Indien zu Witwen gemacht.«

Meine Freundin lächelt. »Hm, die Möglichkeit existiert. Er kann jedoch möglicherweise von seiner Einberufung an bis heute als Verwalter Speck, Würste und Margarine behütet haben.«

»Zugegeben. Oder er mag manchmal, in wimmernden Nächten – während ihr in warmen, hellen Stuben schlemmtet – gar nicht auf unserer Erdkugel gewesen sein, sondern tausend Meter darüber, an den Rücken eines schnaubenden Riesenkäfers geklammert, in der grausigen Haltlosigkeit der Wolken voll Angst und Mut wider Tod und Teufel gekämpft haben.«

»Hellen Zimmern schlemmtet?« wiederholt Avanzadora kokett. Sie unterbricht kurz eine Häkelarbeit (Leibwärmer für die Marine), um eine Falte ihres modischen Trauerkleides zu ordnen. »Weißt du nicht, daß ein Pfund Butter jetzt drei Mark dreißig kostet, für das ich früher Eins Sechzig, nein –« sie besinnt sich, »Eins Vierzig zahlte; und wie rar Petroleum –.«

»Doch, ich weiß. Das heißt, ich fühle es, aber nicht wie du im Magen oder am Geldbeutel; und ich vergesse mich darüber. Ich entdecke, daß aus Kohle Gold und aus Gold Papier geworden ist, und eile, solche Wandlung nicht begreifend, zu dir, um mein Staunen an dem deinigen zu stützen, und du? Du kochst Pflaumen zu Mus ein und erzählst dabei ein komisches Erlebnis mit einem gefangenen Belgier, den du im Lazarett pflegtest. Meine stets hilfsbereite und umsichtige Kameradin, wer möchte dir warmes Herz und hellen Kopf absprechen! Aber ich glaube: Wenn du eines Tages mit liebevollem Eifer daran wärest, einen Rosenstrauch zu beschneiden und säubern, und dieser Rosenstrauch sich unversehens in einen Pudel verwandelte, du würdest keinen Moment deinen freudigen Fleiß verlieren, die Schere nicht aus der Hand legen, sondern unbekümmert, als sei nichts vorgefallen, nun den Pudel scheren und herausputzen. Überlege dir doch: Es liegt noch keine zwei Jahre zurück, daß wir die Spatzen mit Semmeln aus Weizenmehl fütterten und uns Gäste aus fremden Ländern ins Haus luden. Die verschwören sich über Nacht, uns verhungern zu lassen. – – Nun, sie haben unser Menu umgestoßen, aber gelt, uns schmeckt auch die Hausmannskost? Wir füttern unsere Russen fett. – Um sie später am Spieß zu braten. Deine Backen, Avanza, sind noch rot, deine Augen blitzen heller denn je, daß sich die stones und aires und inis und kows wütend verwundern. Es ist, als hätten[172] neidische Nachbarn mit eins dem Gebäude Deutschland alles, woran es sich lehnte, worauf es gebaut hatte, tückisch entzogen, um es zusammenbrechen zu sehen. Jedoch dies Deutschland stürzt nicht und wankt nicht, sondern befreit vom trügerischen Gerüst zeigt es sich, ein vollendeter, granitner Bau, fest auf eigenen Fundamenten, erst jetzt recht in seiner imposanten Größe, und das zertrümmerte Gebälk herum begräbt die Zerstörer.«

»Wie findest du das?«

»Großartig.«

»Ach was, großartig. Du sagst das so, wie man es vor einem Sonnenaufgang sagt.«

Sie lächelt wieder, ihr häufiges, impertinentes Lächeln, das zum Zorn reizt und dem ich doch nicht beizukommen vermag, weil ihm eine gewisse, unerklärliche Sicherheit anhaftet, wie sie eigentlich nur ein tief geklärtes, gutes Gewissen verleiht.

»Ach, Avanzadora, für dich hat die Gegenwart kein Wunder.«

»Alles ist Wunder«, erwidert sie, »und kein Wort dessen wert. Kommst du mit zu Markt, Kartoffeln einkaufen?«

Ich gehe neben ihr her, beobachte sie böse von der Seite, derweilen ich doch innerlich ein schönes Vergnügen daran habe, wie sie emsig und klug ihre Einkäufe und vielartigen Geschäfte besorgt. Sie ist eine reizvolle, gesunde Frau, die allem vorbaut und dort, wo ihre Gedanken weilen, sogleich ihre Hände hinsteckt. Aber ob sie auch dabei unaufhörlich mit den Leuten über die neuesten Heeresberichte und über ihre gefallenen oder kämpfenden Söhne schwatzt, über Demissionen und französische Niederlagen, über Türkensiege und schwarzgelbe Erfolge; ob sie auch bisweilen zwischen heiteren oder rührenden Feldanekdoten einmal klagt oder seufzt, – scheint doch ihre Seele weder das erhebende, herrliche Ereignis Krieg, noch den unheimlichen, tilgenden Zustand Krieg als Ganzes zu erfassen.

»Avanzadora, Völker, Rassen, Weltanschauungen erheben sich Riesen gleich, um Entscheidung zu ringen. Menschen überlisten sich gegenseitig wie die Zauberer der Sagen auf und in der Erde, unter Wasser und in den Lüften. Sie blicken, horchen, sprechen und töten auf Meilenweite und hauchen blutlosen Dingen schaffendes oder vernichtendes Leben ein.

Spürst du auch niemals das Berauschende des Fortschrittes? Lähmt dich nie ein dumpfes Grauen, quälst du dich nicht mit Zweifeln vor dem sinnreichen Wirrsal des Alls, da du auch liest,[173] daß Grausamkeiten wieder schreiend sich ergehen, die wir tief unterm Asphalt vermodert wähnten; daß der Mord wieder in Fürstensold steht und Menschen mit Schild und Keule gegen Menschen ziehen, mit Steinwürfen töten –?

Die Erde ward zu einer schwarzen Insel zwischen Meeren von Blut und Tränen. Darüber liegt der giftige Dunst der Weltlüge, den Donner erstickend und das Glockenläuten. Und aus diesem Chaos türmt die Wahrheit gigantische Zahlen des Schreckens und des Ruhmes für die Ewigkeit.

Sieh mal, liebe Freundin, hier diese bunte Landkarte im Schaufenster. Siehst du das große rote Gebiet? Das ist das neueste, das jüngste Deutschland!«

Aber Avanzadora gibt mir einen Nasenstüber und zieht mich weiter. »Wer staunt, bleibt stehen«, bemerkt sie. »Ich will noch zur Bank, Kriegsanleihe zeichnen, und abends ins Konzert zum Besten – –« Ich höre sie nicht weiter an; ich laufe empört davon, und ich will sie nie wiedersehen. Wer ist dieses Weib, daß ich mich ihretwegen tausendmal ärgern soll? Ich habe sie auf der Straße kennengelernt, und sie schweigt über ihr Woher und Wohin. Auch läßt sie sich doch nicht von mir beeinflussen. Ihr Wesen ist dirnenhaft.

Wenn ich das walzertrommelnde Kaffeehaus betrete und einem der losen Mädchen von Seeschlachten, von 70000 gefangenen Russen berichte, dann ruft sie wohl zum Schluß: »Aber Liebling, wie sitzt dein Scheitel heute schief.« Und wenn ich ihr erzähle: »Weißt du das Neueste über die beiden Söhne deiner Freundin? Der eine ist gefallen, der andere hat sich verlobt.« So wird sie gleich fragen: »Mit wem denn?« Und sie nennt den Krieg dumm, langweilig, weil das Tanzen, das Nachtschwärmen, das Kartenlegen, das Reisen und die Straßenbeleuchtung verboten oder beschränkt sind. – – Aber nein – Avanzadora ist anders; nein, nein, ich tue dieser braven, soliden Frau unrecht.

Die Art, wie sie den mächtigen Geschehnissen des Krieges begegnet, wie sie sich den außergewöhnlichen Verhältnissen anpaßt, hat nichts gemein mit der Leichtfertigkeit der Kokotten. Nur verstehe ich sie wohl nicht. Vielleicht lebt Avanza doch nach einer höheren Weltweisheit als ich. – Alles ist Wunder. – Unbestreitbar liegt etwas Superiores in ihrem Wesen, mich immer wieder anlockend. Ich weiß, ich würde einsam und ruhelos werden, wenn ich mich von ihr lossagte. Es würde sein, als ob ich eine[174] Mutter, eine Schwester und eine Braut zugleich verloren hätte. Denn wir sind freie Freunde, die jedes dem andern ihr Bestes schenken. Wir haben uns aneinander gewöhnt und gebildet; und wie lange ist's her, daß wir in friedlichen Stunden des Frohsinns, der Kunst und der Liebe – –

»Achtung! Au-gen rrrrechts!«

Dieses scharf ausgestoßene Kommando riß meinen Kopf herum und die Köpfe all der andern, die mit mir geschlossen marschierten, Scheritt, Scheritt. Im Nu waren unsere Muskeln gestrafft. Unsere Beine schlugen in klappenden Paradeschritten das Pflaster: wir salutierten vor einem Leutnant.

Aber etwas Seltsames war vorgefallen, ohne Zweifel empfanden es alle, obschon es weder damals noch später ausgesprochen wurde. Es war, als ob wir dreißig Maate und Matrosen während des Marsches plötzlich alle gleichzeitig eingeschlafen wären und ohne Bewußtsein doch, wie mechanische Puppen, unseren Weg fortgesetzt hätten. Nun waren wir alle gleichzeitig erwacht. Gewiß hatten wir eine lange Strecke in diesem Zustande –

Ich schaute mich um. Da saß noch, unweit hinter uns, der würdige Greis unter den Kastanien.

Und wiederum ziemlich gleichzeitig, wie von ein und demselben Gefühl getrieben, fingen wir nun an, gesprächig zu werden.

Es kam eine lebhafte, stolze und zuversichtliche Unterhaltung in Gang über kriegstechnische Neuheiten und über Deutschlands Zukunft. Aber zwischendurch, im stillen, nistete sich ein Gedanke in mein Gehirn ein. Eine fixe Idee mag Avanza es nennen. Ich werde es nicht mehr los.

Ich bildete mir ein, jener alte Herr mit dem wallenden Schneebart sei der liebe – der große – sei das große Gott gewesen, und die leichte Furche, die sein Stock im Sande zog, habe die Zeit dargestellt.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 169-175.
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