Flaggenparade

[146] Spät hatte V 133 angelegt. Es schickte sich zum Schlafen an, wurde still und klappte ein Auge nach dem anderen zu, das heißt: seine farbigen Lichter erloschen nacheinander. Nur am Fallreep pendelte nunmehr eine weiße Lampe. Als noch ein Urlauber an Land eilte, musterte ihn der Posten im Scheine dieser Laterne etwas neidisch, doch nicht ohne aufrichtige Bewunderung. »Ah, Bootsmaat Dauke. Schlenk – Kulani – Scharfmacherstrümpfe. Selbstverständlich Kurs: Chausseekrug.«

Ja, ihr Aktiven, ihr habt den Bogen raus. Alle tragen sie diesen Kulani aus seidigem Stoff, Handschuhe in der Flosse, in der Mütze den gewissen Kniff, und alles an ihnen hat Schmiß, was sie »schlenk« nennen. Lauter junge, blühende Burschen; aber im Dienste jederzeit fix auf Posten, verteufelte Draufgänger. Und[146] wenn sie an Land gehen, laufen ihnen die Weiber zu wie das Deckwasser dem Speigatt. – Da dockt er sich nun jede Freizeit im Krug ein und legt einen bigwonschen Speech bei der dicken Alma an und klönt und klönt. Na, und sie ist ein sauberes Weibstück, und der Alte hat Koks. Dabei seine treuherzige Art – ich wette zwei Dekaden –

Willy Dauke rief ein leeres Privatgefährt an, das gleicher Richtung fuhr, und erhielt Erlaubnis, mit aufzusitzen. »Mein Herr ist auch im Krug mit noch einem; die haben heute einen Abstecher gemacht, ich bin auf sieben Uhr hinbestellt. – Was hast du in dem Tuch; das lebt ja?«

»Einen Aal, für Bades Alma.«

»Aha, der Dicken. Da willst du also mit dem Aal nach der Speckseite werfen?«

»Nix zu wollen.« Dauke winkte ernstlich unwillig ab. »Das ist ein anständiges Mädchen; wir sind so halbwegs verlobt.« –

Zahnarzt Dr. Welke und sein Freund Emmerich waren angenehmst überrascht, in dem abgelegenen Chausseehaus so vorzüglichen Wein anzutreffen. Sie hatten die Tochter der Wirtin an den Tisch und in eine Unterhaltung genötigt, die sich rasch amüsant und zutraulich gestaltete. Alma Bade besaß die Unbefangenheit und den gesellschaftlichen Halbschliff, welche simple Wirtsleute im Verkehr mit den Gästen sich aneignen, außerdem trotz ihrer auffälligen Korpulenz eine natürliche, kokette Grazie, und ihre gesunde, häusliche Heiterkeit tat den Lebemännern wohl. War auch dem kränklichen Emmerich sein Behagen nicht recht anzumerken, so blieb der Doktor dafür mit den launigsten Einfällen auf der schiefen Ebene.

Obwohl beide das Mädchen gern nahmen, wie es war, versagten sie sich doch nicht hin und wieder das eitle, billige Vergnügen, ihr zu imponieren, etwa durch die deplacierte Anrede »Gnädiges Fräulein« oder durch irgendeine Galanterie aus höherer Etikette.

»Ich hatte einmal Petrusen einen hohlen Zahn gezogen. Aus Dankbarkeit trug er mich in den Himmel, ergriff eine riesige Zange und ließ hunderttausend bildhübsche Frauenzimmer antreten. ›Betrachte sie!‹ sagte er. ›Welche Nase gefällt dir am besten?‹ Ich deutete auf ein edel geschnittenes Näschen. Sofort knipste Petrus die Nase mit der Zange ab. ›Welche Augen gefallen dir am besten?‹ Ich suchte zwei entzückende dunkle Augen aus. Knips! hatte Petrus sie abgezwackt und jener Nase beigefügt. So hieß er mich[147] eins ums andere, Stirn, Haare, Ohren und alle Gliedmaßen auswählen, knipste sie ab und baute daraus eine berauschende ideale Venusgestalt. Die stellte er auf eine silberne Platte und reichte sie mir mit den Worten: ›Nimm sie zur dauernden Freundin, zeige ihr die Wunder der Wissenschaft, lehre sie die heiligen Künste verehren, führe sie in die hohe Gesellschaft; sie werde eine Königin.‹ Aber – sei es, daß der Präsentierteller etwas schlüpfrig war – kurz: das holde Wesen klitschte herab und fiel aus dem Himmel. Ich ließ mich sogleich zur Erde tragen und suchte meine Venus, in Berlin und in London, in Paris und Taschkent. Und was meinen Sie, Gnädige, wo ich sie endlich fand?«

»Nun, in Ihrer Frau.« Alma freute sich, die Pointe der Geschichte versperrt zu haben.

Man hörte draußen einen Wagen knirschen und Menschenstimmen. »Das ist dein Wagen, Doktor.«

»Meinetwegen. Ich bleibe hier, bis Tokio Vorstadt von Rostock oder bis Berlin englisch wird.«

»Sie müssen etwas ganz besonderes Freudiges erlebt haben, da Sie so vergnügt sind. Oder freuen Sie sich so, daß Sie nicht Soldat zu spielen brauchen?«

»Es ist nicht meine Schuld, wenn ich's nicht spielen darf«, sagte Welke, jählings ernst, resigniert. Herr Emmerich fiel rasch ein: »Er hat heute höchst feudal bei einem dicken Botschafter gegessen und getrunken.«

Der Doktor nickte, wieder lächelnd, klang sein Glas an dasjenige Almas und sah ihr lange, begehrlich in die Augen. »Lauter Speisen, die einen göttlich anlachten, Weine, die wie Sonnenschein schmeckten.«

»Ja, Sie haben es gut.«

»Gewiß, ich habe es gut, und ich schäme mich deswegen nicht. Denn bei mir geht's Gott sei Dank ohne unlautere Geschichten – sogar besser als im Frieden. Da kann man sich schon hier und da eine Schlemmerei leisten. Heute bin ich besonders gut aufgelegt. Nur zweierlei fehlt mir noch, mein Glück komplett zu machen ...«

Polterig sprang die Tür auf. Ein adrett gekleideter, heißwangiger Matrose, das schwarzweiße Band im Knopfloch, trat wohlgemut mit lautem »Guten Abend« ein; es klang wie: »Was kostet die Welt?«

»Guten Abend!« »Guten Abend!«[148]

»Wie? Du?« fragte Alma mit wenig schmeichelhaftem Erstaunen. »Ist hundertdreiunddreißig schon eingelaufen?«

»Jawoll! – Fang auf!« Der Matrose warf dem Mädchen etwas zu, was sie erhaschte, aber sofort mit einem Schrei des Entsetzens wieder fallen ließ. Auf dem Tische, zwischen den Weingläsern ringelte sich ein Aal, dessen blutendes Maul das saubere Linnen rot befleckte.

»Pfui! So ein richtiger, gemeiner Matrosenwitz«, schalt Alma empört.

»Der beißt nicht.« Der harmlose Dauke lachte tüchtig. Er nahm rechts neben Alma Platz, und als der links von ihr sitzende Doktor sowohl als auch Herr Emmerich sich verbeugend Namen nannten, nickte der Maat nur flüchtig verlegen, wohl weil ihm das Gefühl kam, irgendeine Höflichkeit versäumt zu haben. »Einen steifen Rum, Almchen. Ich mußte bis an die Knie ins Wasser waten, weil das Biest die Schnur zerrissen hatte.«

»Dürfen wir Sie einladen?« Herr Welke tippte an die Flasche. »Bitte noch ein Glas, gnädiges Fräulein, und etwas für den Appetit.«

Emmerich betrachtete den Aal. »Machen Sie ihn doch tot; er hat ja noch den Angelhaken im Maul. Abscheuliche Quälerei.« Und Emmerich stand auf, um den auf der Schwelle wartenden Kutscher zu sprechen.

»Willy, hörst du denn nicht? Du sollst den Aal schlachten. Aber in der Küche.«

»So ein Vieh hat kein Gefühl wie unsereins«, meinte Dauke; aber er trug den Aal hinaus. Alma folgte ihm, um neuen Wein zu holen.

Die zurückbleibenden Freunde wechselten Blicke. »Er ist ihr Galan«, flüsterte Emmerich, an den Tisch zurückkehrend.

»So? – Wir wollen ihn einmal aufpumpen.«

Sie traktierten ihn mit allen käuflichen Genüssen, und er ließ sich nicht lange zureden, fing auch alsbald über seine Vorpostenfahrten zu plaudern an. Ein dänischer Dampfer voll Bannware gekapert. Beinahe auf Minen geraten. Sturm. Mit Vorliebe hielt er sich bei Anekdoten und Schilderungen auf, die Essen und Trinken betrafen, nicht merkend, wie gerade das übrige die feinen Herren interessierte und fesselte. Es störte ihn auch nicht sonderlich, daß seine Freundin für seine Erzählungen wenig übrig hatte; ihr wurden täglich Bordneuigkeiten von Marinern überbracht. Der[149] übermütige Doktor wußte zudem auf geschickte Weise jeglicher Auseinandersetzung zwischen Fräulein Bade und Herrn Dauke vorzubeugen.

Aber doch rückte er geflissentlich seine blasse, mit einem Funkelring geschmückte Hand neben die grobe, blaurote Tatze des arglosen Seemanns. Als dieser mehr und mehr weinbegeistert das Flaggenlied mit Mandolinenbegleitung freimütig zum besten gegeben hatte, öffnete der Zahnarzt das Klavier und trug raffiniert Chopins Fantasie Impromtu und die Lisztsche Rhapsodie vor. Es entging ihm nicht, wie Almas Blicke beobachteten und verglichen. Nur zu oft fing er diese Blicke auf, anscheinend bescheiden, aber gleichzeitig schürend und verheißend.

Bei aller Trunkenheit doch der Urlaubsgrenze eingedenk, erhob sich Dauke endlich. Die zwei Zivilisten bestanden darauf, ihn im Wagen bis an sein Schiff zu fahren. – – –

Bei nächstem Sonnenuntergang qualmten vier Torpedoboote im Hafen. Vier ausgefranste deutsche Heckflaggen flatterten westwärts aus. Nun stieg zwischen den Masten auch noch ein gelber Wimpel in den Wind. Und ein Kommando erscholl weithin vernehmbar: »Zurrr Flaggenparade!«

Von der Chaussee her näherten sich armverschlungen ein Herr und eine Dame. Die betrachteten aus bequemer Entfernung die grauen, von Ruß und Kohlenstaub entstellten Schiffe, ihre finsteren Maschinen und das arbeitsame Treiben der Matrosen an Bord.

»Dort!« Die Dame deutete auf einen Mann, der auf dem Achterdeck des vordersten Bootes aus Leibeskräften einen geschützverschluß abschmirgelte. Dauke. Er, der sich am Abend zuvor so schneidig präsentiert hatte, steckte nun in einer schmierigen, schlotternden Takelkleidung.

Dr. Welke lächelte, Alma lachte. Der Matrose schaute auf, erkannte die beiden und wollte sich, offenbar beschämt, abwenden. In diesem Moment ertönte, schreckend wie eine Himmelsstimme, ein zweites Kommando: »Nieder!«

Nun auf allen Fahrzeugen gleichzeitig die Flagge niedergeholt wurde und alle Leute an Deck von da aus, wo sie sich gerade befanden, ihr stramm salutierten, nahm auch Dauke vor der sinkenden Flagge seines Schiffes eine straffe, militärische Haltung an. Und nun das glutige Gefolge der Sonne seine trotzige Miene und seinen schmutzigen Anzug vergoldete, meinte Welke, nie ein[150] treueres und ergreifenderes Soldatengesicht geschaut zu haben. –

Alma begriff nicht, warum der Doktor auf dem Rückwege mit eins so verstimmt war, warum er sie, im Krug angelangt, mehr abgab, als daß er sich von ihr verabschiedete.

Ohne ein Wiedersehen mit ihr vereinbart zu haben, wanderte er nach kurzem Gruß den fast doppelstündigen, einsamen Weg zur Stadt.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 146-151.
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