Mein Bruder

[294] Mein Bruder löst immer Probleme.

Mein Bruder verfolgt ein Ziel.

Mich nennt er eine bequeme

Schlawinernatur ohne Stil.


Mein Bruder wohnt – Ehrensache –

Und sagt, er habe Niveau.

Doch wenn ich darüber lache,

Beschimpft er mich: Ich sei roh.


Mein Bruder muß Rechnung tragen

Und spricht gern über Kultur.

Mich hat er einmal geschlagen,

Weil mir dabei was entfuhr.


Mein Bruder haut mich sehr häufig.

Er nennt das dann »aus Prinzip«.[294]

Solche Worte sind ihm geläufig.

Ich habe ihn deshalb so lieb.


Ich würde ihn auch gern mal hauen.

Doch er ist leider sehr stark.

Nur wenn er Glück hat bei Frauen,

Dann schenkt er mir immer zwei Mark.


Ich bin zwar ein saudummes Luder,

Meine beiden Beine sind schief.

Im übrigen ist mein Bruder

Gar nicht verwandt, sondern stief.


Doch wenn ich »gestiefelter Kater«

Ihn nenne, dann schäumt er wie Most

Und schreibt Beschwerden an Vater,

Und die trage ich dann zur Post.


Ich trage ihm alle Pakete,

Die größer sind, als er denkt.

Jetzt hat er meine Trompete

Hinter meinem Rücken verschenkt.


Ein Bischof hat einen braunen

Frack meinem Bruder verehrt.

Sie würden überhaupt staunen,

mit wem mein Bruder verkehrt.


Dagegen lebe ich – meint er –

Ganz stur wie ein Vieh in den Tag.

Manchmal, wo Damen sind, weint er;

So einer stirbt mal am Schlag.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 294-295.
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