Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument

[114] Guten Abend, schöne Unbekannte! Es ist nachts halb zehn.

Würden Sie liebenswürdigerweise mit mir schlafen gehn?

Wer ich bin? – Sie meinen, wie ich heiße?


Liebes Kind, ich werde Sie belügen,

Denn ich schenke dir drei Pfund.

Denn ich küsse niemals auf den Mund.

Von uns beiden bin ich der Gescheitre.

Doch du darfst mich um drei weitre

Pfund betrügen.


Glaube mir, liebes Kind:

Wenn man einmal in Sansibar

Und in Tirol und im Gefängnis und in Kalkutta war,

Dann merkt man erst, daß man nicht weiß, wie sonderbar

Die Menschen sind.


Deine Ehre, zum Beispiel, ist nicht dasselbe

Wie bei Peter dem Großen L'honneur. –[114]

Übrigens war ich – (Schenk mir das gelbe

Band!) – in Altona an der Elbe

Schaufensterdekorateur. –


Hast du das Tuten gehört?

Das ist Wilson Line.


Wie? Ich sei angetrunken? O nein, nein! Nein!

Ich bin völlig besoffen und hundsgefährlich geistesgestört.

Aber sechs Pfund sind immer ein Risiko wert.


Wie du mißtrauisch neben mir gehst!

Wart nur, ich erzähle dir schnurrige Sachen.

Ich weiß: Du wirst lachen.

Ich weiß: daß sie dich auch traurig machen.

Obwohl du sie gar nicht verstehst.


Und auch ich –

Du wirst mir vertrauen, – später, in Hose und Hemd.

Mädchen wie du haben mir immer vertraut.


Ich bin etwas schief ins Leben gebaut.

Wo mir alles rätselvoll ist und fremd,

Da wohnt meine Mutter. – Quatsch! Ich bitte dich: Sei recht laut!


Ich bin eine alte Kommode.

Oft mit Tinte oder Rotwein begossen;

Manchmal mit Fußtritten geschlossen.

Der wird kichern, der nach meinem Tode

Mein Geheimfach entdeckt. –

Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!


Das ist nun kein richtiger Scherz.

Ich bin auch nicht richtig froh.

Ich habe auch kein richtiges Herz.

Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.

Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo

Im Muschelkalk.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 114-115.
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