Wenn ich allein bin

[112] Wenn ich allein bin, werden meine Ohren lang,

Meine, meine Pulse horchen bang

Auf queres Kreischen, sterbenden Gesang

Und all die Stimmen scheeler Leere.


Wenn ich allein bin, leck ich meine Träne.


Wenn ich allein bin, bohrt sich meine Schere,

Die Nagelschere in die Zähne;

Sielt höhnisch träge sich herum die Zeit. –

Der Tropfen hängt. – Der Zeiger steht. –


Einmal des Monats steigt ein Postpaket

Aufrührerisch in meine Einsamkeit.

So sendet aus Meran die Tante Liese

Mir tausend fromme, aufmerksame Grüße;

Ein jeden einzeln sauber einpapiert,

Mit Schleifchen und mit Fichtengrün garniert,

Vierblätterklee und anderm Blumenschmuck –


Ich aber rupfe das Gemüse

Heraus mit einem scharfen Ruck,

Zerknülle flüchtig überfühlend

Den Alles-Gute-Wünsche-Brief

Und fische giftig tauchend, wühlend,

Aus all den Knittern und Rosetten

Das einzige, was positiv:

Zwei Mark für Zigaretten.


Die Bilder meiner Stube hängen schief.

In meiner Stube dünsten kalte Betten.


Und meine Hoffart kuscht sich. Wie ein Falter

Sich ängstlich einzwängt in die Borkenrinde.


Wenn ich allein bin, dreht mein Federhalter

Schwarzbraunen Honig aus dem Ohrgewinde.
[113]

Bin ich allein: Starb, wie ein Hund verreckt,

Hat mich ein fremdes Weib mit ihren Schleiern

Aus Mitleid oder Ekel zugedeckt.

Doch durch die Maschen seh ich Feste feiern,

Die mich vergaßen über junger Lust. –


Ich reiße auseinander meine Brust

Und lasse steigen all die Vögel, die

Ich eingekerkert, grausam dort gefangen,

Ein Leben lang gefangen hielt, und nie

Besaß. Und die mir niemals sangen.

Wenn ich allein bin, pups' ich lauten Wind.

Und bete laut. Und bin ein uralt Kind.

Wenn ich –

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 112-114.
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