Abendgesang

[228] Werde munter, mein Gemüte,

Und ihr Sinne geht herfür,

Daß ihr preiset Gottes Güte,

Welch' er hat gethan an mir,[228]

Als er mich den ganzen Tag

Für so mancher schweren Plag

Hat erhalten und beschützet,

Daß mich Satan nicht beschmitzet.

Lob und Dank sei dir gesungen,

Vater der Barmherzigkeit,

Daß mir ist mein Werk gelungen,

Daß du mich für allem Leid

Und für Sünden mancher Art

So getreulich hast bewahrt,

Auch die Feind hinweg getrieben,

Daß ich unbeschädigt blieben.

Keine Klugheit kan verstehen

Deine Güt' und Wunderthat;

Ja, kein Menschenkind kan sehen,

Was dein' Hand erwiesen hat;

Deine Wolthat ist zu viel,

Sie hat weder Maß noch Ziel.

Herr, du hast mich so geführet,

Daß kein Unfall mich berühret.

Dieser Tag ist nun vergangen,

Die betrübte Nacht bricht an;

Es ist hin der Sonnen Prangen,

Welch' uns all' erfreuen kan.

Stehe mir, o Vater, bei,

Daß dein Glanz stets vor mir sei

Und mein kaltes Herz erhitze,

Wenn ich gleich im Finstern sitze.

Herr, verzeihe mir aus Gnaden

Alle Sünd' und Missethat,

Die mein armes Herz beladen

Und so gar vergiftet hat,

Daß auch Satan bös und stil

Mich zur Höllen stürzen wil.

Aber, Herr, du kanst mich retten,

Strafe nicht mein Übertreten.

Bin ich gleich von dir gewichen,

Stell' ich mich doch wieder ein,[229]

Hat uns doch dein Sohn verglichen

Durch sein' Angst und Todespein.

Ich verleugne nicht die Schuld,

Aber deine Gnad und Huld

Ist viel größer als die Sünde,

Welch' ich stets in mir befinde.

O du Licht der frommen Seelen,

O du Glanz der Ewigkeit,

Dir wil ich mich ganz befehlen

Diese Nacht und allezeit.

Bleibe doch, mein Gott, bei mir,

Weil es nunmehr dunkel schier

Und ich mich sehr drob betrübe;

Tröste mich mit deiner Liebe.

Schütze mich fürs Teufels Netzen,

Für der Macht der Finsternis,

Die mir manche Nacht zusetzen

Und erzeigen viel Verdrüß;

Laß mich dich, o wahres Licht,

Nimmermehr verlieren nicht.

Wenn ich dich nur hab' im Herzen,

Fühl' ich nicht der Seelen Schmerzen.

Wann mein' Augen schon sich schließen

Und ermüdet schlafen ein,

Muß mein Herz dennoch geflissen

Und auf dich gerichtet sein.

Meiner Seele mit Begier

Träume stets, o Gott, von dir,

Daß ich fest an dir bekleibe

Und auch schlafend dein verbleibe.

Laß mich diese Nacht empfinden

Eine sanft und süße Ruh,

Alles Uebel laß verschwinden,

Decke mich mit Segen zu;

Leib und Seele, Mut und Blut,

Weib und Kinder, Hab' und Gut,

Freunde, Feind' und Hausgenossen

Sind in deinen Schutz geschlossen.[230]

Ach, bewahre mich für Schrecken,

Schütze mich für Ueberfall,

Laß mich Krankheit nicht aufwecken,

Treibe weg des Krieges Schall,

Wende Feur und Wassersnot,

Pestilenz und schnellen Tod;

Laß mich nicht in Sünden sterben

Noch an Leib und Seel verderben.

O du großer Gott, erhöre,

Was dein Kind gebeten hat.

Jesu, den ich stets verehre,

Bleibe ja mein Schutz und Rat

Und mein Hort; du werter Geist,

Der du Freund und Tröster heißt,

Höre doch mein sehnlichs Flehen!

Amen, ja, das sol geschehen.

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 228-231.
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