Festlied am Tage der Offenbarung Christi

[261] Werde licht, du Stadt der Heiden,

Und du, Salem, werde licht,

Schaue, welch' ein Glanz mit Freuden

Ueber deinem Haubt anbricht!

Gott hat derer nicht vergessen,

Welch' im Finstern sind gesessen.

Dunkelheit die muste weichen,

Als dieß Licht kam in die Welt,

Dem kein anders ist zu gleichen,

Welches alle Ding' erhält;

Die nach diesem Glanze sehen,

Dürfen nicht im Finstern gehen.

Ach, wie waren wir verblendet,

Ehe noch dieß Licht brach an!

Ja, da hatte sich gewendet

Schier vom Himmel jedermann,

Unser' Augen und Geberden

Klebten blößlich an der Erden.[261]

Irdisch waren die Gedanken,

Torheit hielt uns ganz verstrickt;

Satan macht' uns schändlich wanken,

Wahre Tugend lag verrückt;

Fleisch und Welt hat uns betrogen

Und vom Himmel abgezogen.

Finsternis fand sich auf Erden,

Finster war es in der Lehr';

Alles wolte finster werden

So, daß auch des Höchsten Ehr'

Und der Wahrheit unterdessen

In dem Finstern ward vergessen.

Gottes Rat war uns verborgen,

Seine Gnade schien uns nicht,

Klein' und Große musten sorgen,

Jedem fehlt es an dem Licht,

Das zum rechten Himmelsleben

Seinen Glanz uns solte geben;

Aber, wie herfür gegangen

Ist der Aufgang aus der Höh',

Haben wir das Licht empfangen,

Welches so viel Angst und Weh'

Aus der Welt hinweg getrieben,

Daß nichts Dunkles übrig blieben.

Jesu, reines Licht der Seelen,

Du vertreibst die Finsternis,

Welch' in dieser Sündenhölen

Unsern Tritt macht ungewis;

Jesu, deine Lieb' und Segen

Leuchten uns auf unsern Wegen.

Nun, du wollest hie verbleiben,

Liebster Jesu, Tag und Nacht,

Alles Finstre zu vertreiben,

Das uns so viel Schreckens macht;

Laß uns nicht im Dunklen waten

Noch ins Höllenmeer geraten.

Liebster Jesu, laß uns leuchten

Dein erfreulichs Angesicht,

Laß uns deine Gunst befeuchten,

Wenn das Kreuzfeur auf uns sticht;[262]

Laß uns ja wie Christen handlen

Und in deinem Lichte wandlen.

Schenk' uns, Herr, daß Licht der Gnaden,

Das ein Licht des Lebens ist,

Ohne welches leicht in Schaden

Fallen kan ein frommer Christ;

Laß uns dieses Licht erfreuen,

Wenn wir »Aus der Tiefe« schreien.

Dieses Licht läßt uns nicht wanken

In der rechten Glaubensbahn;

Ewig, Herr, wil ich dir danken,

Daß du hast so wol gethan

Und uns diesen Schatz geschenket,

Der zu deinem Reich' uns lenket.

Gib, Herr Jesu, Kraft und Stärke,

Daß wir dir zur jeden Zeit

Durch beliebte Glaubenswerke

Folgen in Gerechtigkeit

Und hernach im Freudenleben

Heller als die Sterne schweben.

Dein' Erscheinung müß' erfüllen

Mein Gemüt in aller Not;

Dein' Erscheinung müsse stillen

Meine Seel' auch gar im Tod';

Herr, in Freuden und im Weinen

Müsse mir dein Licht erscheinen!

Jesu, laß mich endlich gehen

Freudig aus der bösen Welt,

Dein so helles Licht zu sehen,

Das mir dort schon ist bestellt,

Wo wir sollen unter Kronen

In der schönsten Klarheit wohnen.

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 261-263.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klingemann, August

Die Nachtwachen des Bonaventura

Die Nachtwachen des Bonaventura

Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon