Jesus am Kreuze

[265] Wer sich Christo wil vertrauen,

Der muß ihn am Kreuze schauen;

Viererlei sind hie zu sehn:

Erstlich merk' auf seine Wunden,

Derer fünfe sind gefunden,

Als sein Leiden ist geschehn,

Doch die Striemen ausgenommen,

Welch' er in der Stadt bekommen.[265]

Sein Reden laß vor allen

Stets in deiner Seel' erschallen,

Denn sie sind von Troste reich;

Schaue ferner seine Thränen,

Die nach deinem Heil sich sehnen,

Ja dich Armen locken gleich,

Daß du bald in deinen Sünden

Rat und Hülfe mügest finden.

Schaue, wie sein Herz muß sterben,

Nur daß er dir mücht' erwerben

Leben und die Seligkeit.

Merke, wie die schönen Glieder

Voller Striemen hin und wieder

Sind zermartert in dem Streit,

Als die Lieb ihn hat getrieben,

Daß er todt für dich geblieben.

Seht, der Himmelkönig schweiget,

Denn er hat sein Häubt geneiget;

Meine Seel', hie halte stil,

Fasse doch die Rosenwangen

Deines Schöpfers mit Verlangen,

Weil der Herr dich küssen wil:

Küsse nun von ganzem Herzen

Christus Häubt in Todes Schmerzen.

Schauet die gestochne Seiten,

Welch' uns muß den Weg bereiten,

Der zu Gottes Wohnung geht.

Keiner sol es unterlassen,

Christus liebes Herz zu fassen,

Weil es nun eröffnet steht.

Greife zu mit beiden Händen,

Jesus wil sich zu dir wenden.

Durch sein theures Blutvergießen

Wil er endlich dich beschließen

Freundlich in die Gnadenarm';

Seufze nur in deinem Herzen,

Daß er wegen seiner Schmerzen

Deiner Seele sich erbarm'.

Fürchte nicht der Hölle Rachen,

Jesus wil dich selig machen!

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 265-266.
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