Die Waldkapelle

[32] Steht ein Kirchlein tief im Wald,

Mit ergrauter Mauer,

Das getrotzet der Gewalt

Aller Zeitenschauer.

Stürmend manch Jahrhundert flog

Hast'gen Schritts vorüber,

Doch auch Blüthenzweige bog

Jeder Lenz darüber.


Wer bestanden einst Gefahr

Treu mit den Genossen,

Hält zusammen fest und wahr,

Stark und unverdrossen.

Also ringsum auch der Wald

Breitet seine Zweige,

Daß das Kirchlein nicht so bald

Sich zum Falle neige.


Die geborstne Schwelle mag

Manch Geheimniß wissen,

Wenn ein Herz gebeugt erlag

Seinen Kümmernissen.

Das bemooste Kreuz von Stein

Bei Mariens Bilde

Scheuchte Gram und Todespein

Durch des Glaubens Milde.
[33]

Ob im härenen Gewand

Hier der Pilger kniete,

Flehend, daß ihm Gottes Land

Eine Freistatt biete;

Ob zur Morgenandacht hier

Fromm der Meßner schellte;

Lange schweigt das Glöcklein schier,

Das so lieblich gellte.


Kränzte hier ein Mägdelein

Hold mit Maienglocken

Das Marienbild von Stein,

Und die eignen Locken;

Ihr, der Heil'gen, ward es kund,

Was kein Blick gesehen,

Ihr gestand der süße Mund

Liebliche Vergehen.


Trafen hier des Jägers Ohr

Ferne Waldhornklänge;

Aus dem grünen Thal empor

Frohe Wandersänge;

War's ein wildes Taubenpaar,

Das hier nistend girrte;

War's ein Reh, das in Gefahr

Flüchtend hier verirrte;


Kirchlein, immer gabst du Schutz,

Immer Trost und Segen,

Stelltest dich mit heil'gem Trutz

Jedem Sturm entgegen.[34]

Und die Hoffnung grünt und blüht

Noch in deinem Moose,

Durch den Epheu, nimmer müd,

Nickt die Waldesrose.


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 32-35.
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