6. Weinprobe

[154] Uns ward aus alten Tagen

Ein Sprüchlein zugetragen:

Wer will nach Reben fragen,

Der halte sich zu Drei'n.

»Zu Hochheim an dem Maine,

Zu Würzburg auf dem Steine,

Zu Bacharach am Rheine,

Da wächst der beste Wein.«


Die Zeiten sind vergangen,

Und andre Lieder klangen,

Die Welt hat mehr empfangen,

Das Sprüchlein gilt nicht mehr.

Von allen Bergen sprangen

Am Rhein mit frischen Wangen

Die Streiter voll Verlangen,

Ein goldgerüstet Heer.


Sie stehn auf allen Warten,

In jedem Rebengarten,

Bei flatternden Standarten,

In stolzer Herrlichkeit.[155]

Und hast im Spiel der Thoren

Zum Hader sie beschworen,

Gieb deinen Kopf verloren,

Verloren in dem Streit!


Doch wenn dir im Gemüthe

Gerechte Tugend blühte,

Du findest sie voll Güte,

Du bist ein lieber Gast!

Poch an in jedem Orte,

Bei jeder Rebenpforte,

Du bist auch ohne Worte

Von Liebesarm umfaßt!


Mit Himmelsblick der Eine,

Der Zweit' im Purpurscheine,

Und noch der Hundertst-Eine

Gleichwie der Erst' ein Held!

Ihr Helden all vom Rheine,

Ihr königlichen Weine,

Ihr nehmt es auf alleine

Wohl mit der ganzen Welt!


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 154-156.
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