Von der besessenen Traudel.

[236] In jener Gegend bedurfte man zu jener Zeit für die Kinder keines Bartels, keines Krampus, keines Knechtes Ruprecht, oder wie sonst die Gottesgerichte für die kleine sündige Welt heißen mögen. Da hieß es zur Mahnung und Drohung nur: »Wart', die Traudel kommt!«

Die Traudel kommt! Ich habe in meinem Leben manche Schreckenspost schon gehört, aber so wüst wirkte keine mehr auf den Mann als dazumal auf das Kind der Ruf: die Traudel kommt!

Das besessene Weib, es wohnte von meinem Heimatshause querüber drei Berggräben hoch oben, bei den Almhalden. Wir sahen nur den Baumschachen, hinter welchem sich das Nest der Besessenen barg. Dieser Schachen stand so friedlich auf der Höhe, wie andere Hutwäldchen auch und seine Wipfel ragten so sein und scharf in den lichten Himmel hinein, als wären sie aus schwarzem Papier geschnitten; aber ich erinnere mich noch, daß mir, so oft ich diesen Schachen ansah, der »höllische Drache« einfiel. In meinem Kindeshaupte fanden sich mehr solch unbegründete Bilderverbindungen. So war in unserem Hause eine finstere Rumpelkammer mit alten Möbeln, rostigem Eisen, Lederwerk und dergleichen; und so oft ich in diese Kammer trat, mußte ich an ein beschneites Mühlrad[237] denken, obwohl nichts dort war, das auch nur im Entferntesten an ein solches erinnern konnte. Wenn ich auf die steile Wand der hohen Veitsch hinsah, so fiel mir immer der Name »Michel« ein; das Geläute der Kirchenglocken zu St. Kathrein erinnerte mich an das Milchtrinken usw. Demnach war die Verbindung des Schachens, in welchem die Besessene hauste, mit dem höllischen Drachen eigentlich noch naheliegend.

Ich hatte die Traudel schon mehrmals in der Kirche gesehen; sie stand stets in einem finsteren Winkel nahe des rückwärtigen Einganges, von wo aus der Altar nicht zu sehen war. Seit jenem Tage, da die Traudel bei einer Kommunion das weiße Tuch vom Speisegitter riß und sich wütend auch auf den Altar stürzen wollte, wovon sie noch rechtzeitig zurückgehalten wurde, seit jenem Tage stand sie während des Gottesdienstes immer rückwärts im finsteren Winkel. Es war eine schon etwas ältliche Person, die sich in Nichts von anderen Weibern unterschied, als daß ihr langes, dunkelblaues Kleid den Erdboden berührte, während die Röcke der übrigen kaum über die halben Waden reichten, um aller Nachbarschaft zu zeigen, was sich bei ordentlichen Weibsbildern dahinter befindet, nämlich ein Paar schneeweißer Strümpfe. Die Traudel sah stets blaß aus und hatte kurzgeschnittene Haare; sie trug eine braune Haube, die sich glatt an den Kopf schmiegte und ihr ein kindisches Aussehen gab. Ihre kirschrunden Augen schauten bisweilen, besonders wenn sie sich beobachtet wußte, gar scharf drein, dann schloß sie sie plötzlich, als kämpfe sie gegen einen Schwindelanfall.

In der Kinderwelt der Gegend ging die Sage, daß[238] die Traudel schlimme Knaben und verlogene Mädchen zusammenfange, dieselben mit Semmeln und Nußkernen mäste und dann verzehre. Die Erwachsenen wußten, daß sie von Milch, Brot und Kraut lebte und daß sie sich ihren Bedarf ehrlich erwarb. Sie ging ins Tagewerk aus, aber man hatte sie nicht gern, weil es geschehen konnte, daß sie plötzlich, und zumeist ohne Ursache, in ein Toben ausbrach und alles um sich gefährdete. So blieb sie die meiste Zeit in ihrem kleinen Hause unter dem Schachen und beschäftigte sich mit Spinnen; die Leute lieferten ihr gern Arbeit, boten ihr mitunter auch Almosen, wollten aber des näheren nicht viel mit ihr zu tun haben. Außer ihren wunderlichen Anwandlungen von Tobsucht, welche in sehr ungleichen Zwischenräumen eintraten, war die Traudel von sanfter, weicher Gemütsart; aber man nannte sie die »Besessene«, obwohl in der Gegend nicht fünf Menschen lebten, welche im Ernste glaubten, daß sie vom Teufel besessen sei. Nur von einem Einzigen weiß ich es bestimmt, daß er als Kind ob der wahrhaftigen Besessenheit dieser Person nicht den geringsten Zweifel hegte – und das war ich. Bäuerliche Idealisten machen sich gern mit Gott und Teufel zu schaffen und ist ihnen besonders der letztere merkwürdig. So ward ich nicht müde, überall, wo sich Gelegenheit bot – aber stets von einer gewissen Entfernung – die Traudel, dieses zweibeinige Reitpferd des Teufels, anzuglotzen.

Als ich dann ins Handwerk trat, mag ich wohl schon etwas vernünftiger gewesen sein, zum mindesten kam mir bei der reichen Abwechslung im Verkehr mit Menschen die Traudel ein wenig aus dem Gedächtnis. Wie erschrak ich aber, als eines Tages mitten im Winter[239] – nahe dem Ende der Lehrzeit – mein Meister zu mir sagte: »Ich werde in dieser Woche beim Pfarrer nähen und du wirst zur Schachentraudel hinauf müssen; sie tribuliert (drängt) mich schon so viel lang' um einen Schneider.«

»Das Weibergewand kann ich nicht!« schrie ich auf.

»'s ist Mannsgewand, 's ist Mannsgewand,« beschwichtigte der Meister.

Das war nicht ehrlich von ihm. Er wußte es recht gut, daß ich nicht das Weibergewand, sondern dieses Weib fürchtete. Hatte doch auch er selbst sie immer die besessene Traudel genannt. Er geht ins Pfarrhaus, und ich soll da in die unheimliche Schachenhöhle hin auf! – Indes, ich hatte nun an drei Jahre ohne die geringste Widerrede meinem Meister gehorcht, ich war stets bereit gewesen, für ihn ins Feuer zu gehen, nun schickte er mich dahin. – Wohlan!

Meine Werkzeugtasche an der Seite, das große Bügeleisen in der rechten, die Elle als Stock in der linken Hand, so stieg ich in Schnee und Nebel den Berg hinan bis zu jenem letzten Hause unter dem Schachen. Dort lebte die besessene Traudel mit ihrem einäugigen Bruder, der noch älter war als sie, und dem ich das Lodengewand machen sollte. Das Haus hatte gar kleine Fenster, war inwendig recht düster, aber ganz wohnlich eingerichtet. über dem Tische, wo ich, ohne viel zu fragen, meine Werkstatt aufschlug, hing ein Muttergottesbild, das mich außerordentlich beruhigte. Außer den beiden Geschwistern wohnte in diesem Hause keine Seele, wohl aber eine schwarze Katze, die mit ihren grünen Augen hinter dem Ofen verdächtig auf mich herfunkelte.[240]

Sonst, wenn wir in ein Haus auf die Ster gekommen, war das erste, was uns der Bauer brachte, die Lodenrolle, und die Bäuerin kam mit dem Zwirn. Hier jedoch war das erste, daß der geschäftige Alte ein Lederkissen auf meine Sitzbank legte und die Traudel mit einer blumigen Porzellanschale kam, aus der frischer Kaffee dampfte. Beide waren über die Maßen gütig und leutselig und dabei so bescheiden, sie bedienten mich und suchten es aus meinen mißtrauischen Augen zu lesen, was ich etwa noch wünschen mochte. Ich verlangte ziemlich trocken nach der »Arbeit«, dann maß ich dem Einäugigen Rock und Beinkleid an, wobei er mehrmals sagte: »Nur nicht zu klein, tät' ich bitten, lieber ein Eichtl zu groß.«

Traute er mir nicht zu, daß ich es gerade recht machen sollte können?

»Wie wird's?« fragte ich, »nach dem Alten (nach alter Mode), oder wie sie's jetzt tragen?«

»Ist nicht heikel,« meinte er, »ich denk' nach dem Alten, aber halt nicht zu klein.«

Währenddem hatte mein Faden seinen Körper nach allen Richtungen hin durchforscht und zur Markung der Länge, Breite, Tiefe schlang ich im Faden die Knoten. Viel später habe ich erst von der unerhörten Finte erfahren, nämlich, daß es auf dieser Welt Schneider gibt, die mit zifferierten Maßbändern messen und die Nummern ins Büchel schreiben. Wir haben das, was die Knoten an den verschiedenen Stellen des Fadens bedeuten, im Kopfe merken müssen, und das war bei den Fäden, die oft dutzendweise uns um den Nacken hingen, keine kleine Aufgabe.

Nun kam auch die Traudel, steckte mit dem Zeigefinger[241] die braune Haarlocke, die ihr über die Stirne hing, hinter das Häubchen und sagte schüchtern, sie täte halt auch was kriegen – ein Winterjöppel. Da sah ich wohl ein, daß an ein baldiges Entkommen aus diesem Hause nicht zu denken war. Ich arbeitete mit vieler Emsigkeit, gleichwohl mir mein Meister aus Herz gelegt hatte: »Nur nit schleudern! Für die Geschwindigkeit laßt sich der Taschenspieler zahlen; gut mußt es machen.«

Gesagt war's leicht; hätte er's nur selber getan und wäre da oben bei der Besessenen eine Woche lang gesessen, alle Augenblicke in Gefahr, von der Wütigen zerrissen zu werden! Zwar von einer Tobsucht merkte ich an der Traudel in den ersten Tagen gar nichts; nur entging mir nicht, daß das Weib beim Spinnen – sie saß nahe an meinem Tisch – bisweilen, wenn der Faden sich knotete oder die Schnur vom Rade flog, so seltsamlich aufzuckte und die geballten Fäuste aneinanderschlug. Dann war's wieder gut.

Und einmal flüsterte mir der Einäugige, ihr Bruder, zu: »Schneider, wenn etwan mit meiner Schwester da jäh was sein sollte – du weißt ja – so schrei mich geschwind ins Haus, ich tu' draußen im Stall Streu hacken.«

Aber alles war wie in jedem anderen Hause und bei anderen Leuten, nur daß ich hier viel höher estimiert wurde als anderswo; sie waren so dankbar, daß ich zu ihnen gekommen, daß ich ihnen Gewand machte, daß mein Gesicht immer offener und gutmütiger auf sie hinschaute, und daß ich bisweilen sogar ein Liedel sang.

Das beste, was dieses kleine, nicht eben so ärmliche Haus bot, wurde mir dargebracht, und mit Liebe dargebracht,[242] daß ich den Meister nur beglückwünschen konnte, wenn es ihm im Pfarrhofe so gut erging, als mir im Schachenhause. Von der Zeit an, als die Traudel merkte, daß ich Strudelkrapfen ausnehmend gern esse, brachte sie mir jeden Tag Strudelkrapfen auf den Tisch, und dieselben schmeckten mir jeden Tag besser. Mein Bett wurde aus blütenweißer Leinwand bereitet; des Abends luden sie mich bald zur Ruhe ein, denn, »ein junger, wachsender Mensch schlaft gern«, sagte der Bruder Einaug. Des Morgens stand die Traudel um eine Stunde früher auf als ich und schlich diese Zeit auf den Zehenspitzen herum, daß sie mich nicht wecke; wohl ein seltsamer Gegensatz zu anderen Arbeitgebern, welche uns Schneider sonst so früh als möglich wachpolterten und abends so spät als tunlich zur Ruhe kommen ließen, damit wir unseren Taglohn auch gründlich abdienten.

So hatte ich es hier gut, war aber fort und fort von einer Ahnung gepeinigt, als müsse mir in diesem Hause etwas Unerhörtes widerfahren. Draußen war kein Nebel mehr, wohl aber ein undurchsichtiges Schneegestöber, welches die Fenster verlegte, so daß es in der Stube bis Mittag Morgendämmerung und von Mittag an Abenddämmerung war, und welches mich über die Weihnachtstage im Schachenhause einzuschneien drohte.

Eines Tages kam die Traudel nicht in die Stube und auch ihr Bruder machte sich viel bei ihr in der Küche zu schaffen.

Und als ich mein Bügeleisen hinaustrug, um es ins Herdfeuer zu stecken, da sah ich, wie die Traudel auf dem Boden lag, der Einäugige neben ihr kauerte und mit seinen kräftigen Fäusten ihre zuckenden Hände[243] geknebelt hielt. Ich stürzte in meine Stube zurück und blieb vor Schreck mitten in derselben stehen und wollte um Hilfe rufen, wäre nur ein Nachbarhaus in der Nähe gewesen. Wenige Minuten später traten die beiden Geschwister in die Stube, deckten den Tisch zur Mahlzeit, machten Bemerkungen über den argen Schneefall und taten, als ob gar nichts Außergewöhnliches geschehen wäre. Die Traudel war nur etwas blässer als sonst; aber so blaß als das geängstigte Schneiderlein war sie gewiß nicht.

An demselben Tage kam durch den hohen Schnee ein Bote dahergewatet, der rief dem Einäugigen zu: »Schachner, du mußt auf den Friedhof.«

»Du auch,« gab dieser zurück.

»Nicht so, Nachbar, nicht so!« sagte der Bote, »alle Männer müssen eilends zusammen von der Gemein, auf dem Friedhof ist was geschehen. Geh' geschwind mit mir.«

Die beiden Männer gingen davon, ohne daß uns etwas Näheres offenbar wurde, die Traudel und ich blickten ihnen aus den Fenstern nach, so lange sie im Gestöber zu sehen waren.

»Um des lieben Gottes Willen!« sagte die Traudel und faltete die Hände über ihren Schoß, »was mag sich haben zugetragen!«

Es ließ sich gar keine Vermutung aussprechen. Am Abend hörte das Schneien auf, der Blick ins Tal wurde frei und wir sahen dort, wo der Kirchhof liegen mußte, mehrere Lichter hin und her zucken. Die ganze Nacht hindurch sah man die Lichter und ich schloß kein Auge.

Der Schachner kam auch am nächsten Tage nicht[244] nach Hause, die Traudel war womöglich noch aufmerksamer und gütiger gegen mich. Zu jeder Viertelstunde fast prüfte sie mit der aufgehobenen Hand die Luft in der Stube und fragte mich, ob es mir doch nicht etwa noch zu kühl wäre, und schob stets Scheit um Scheit in den Ofen. Mit meiner Arbeit kam ich nahe zu Rande; da hub das Weib plötzlich an, aus der Küche die Töpfe und Tonschüsseln und allerlei anderes Geschirr zu mir in die Stube zu schleppen. Sie tat das mit einer seltsamen Hast, und dann hob sie in der Küche auch die Glasfenster aus und lehnte sie in der Stube um den Ofen herum, während in der Küche der kalte Wind die Asche des Herdes auseinanderblies. Endlich schleppte sie den vollen Milchtopf herein und stellte ihn neben mir auf die Bank, tat einen Laib Brot dazu und brachte mir die Gebrauchsanweisung bei: »Das Gelbe obenauf im Topf, dasselb' sein auf die Brotschnitten streichen; die Milch hernach, dieselb' dazu trinken, oder das Brot einbrocken, wie es der Schneider halt am liebsten mag.« So gütig schaute sie mich dabei an, daß ich dachte: besessen mag sie sein, aber von einem Engel.

Sie selbst sperrte sich dann in die Küche ein.

Mir war plötzlich überaus unheimlich und es gelang mir nicht, durch Arbeit meine Bangigkeit zu zerstreuen. Der Bruder Einaug kam nicht heim – was mochte unten auf dem Kirchhofe vorgehen? Warum hatte sich die Traudel zurückgezogen? Ich hörte aus der Küche mitunter etwas, wie Schnaufen und Stöhnen. Dann war wieder alles so still – so öde und still, als säße ich, der kleine Schneider, ganz allein mitten in der trüben, schneienden Welt.[245]

Auf einmal aber wurde es mir laut genug. In der Küche erhob sich ein Poltern, Krachen und Schreien, als ob Räuber eingebrochen wären. Balken und Scheiter wurden hin und her geworfen und dabei Fluchen und Hilferufen. Ich sagte zu mir: Schneider, nur jetzt sei kein Schneider! Da ist wer in Lebensgefahr. – Brachte aber die Tür nicht auf. Und wieder die Stimme der Traudel:

»Daß mir keiner mehr nahe kommt! Ich erwürg' euch! O du verdammter Schneider, ich will dir helfen!« – und sie rüttelte mit Gewalt an der Tür, die zu meiner Stube führte.

Ich – nichts vergessen – laß alles im Stich, laufe davon.

Laufe durch Schnee und Wetter talwärts, bis mir da der Einäugige begegnet. Er frägt mich erschrocken, ob sich denn auch auf dem Berg etwas Absonderliches begeben hätte? Ich wollte mit der Farbe nicht heraus.

»Ist 'leicht meine Schwester arg geworden?« fragte er.

»Das ganze Haus wirst sie zusammen,« antwortete ich. »Nicht eine Stunde bleibe ich mehr da oben.«

»Du Lapp, wirst mir doch mein Gewand fertig machen. Geh' nur wieder mit, Schneider, 's wird alles gut sein. Lauft sie herum?«

»Eingesperrt hat sie sich.«

»Nachher ist's schon recht. Geh', Schneider, geh'. Schau, ich wollt' ja früher heimgegangen sein; sind Tag und Nacht fleißig gewesen, haben nicht früher können fertig werden.«

»Was ist denn geschehen?«

»Eine Schneelahn ist vom Berg niedergegangen und[246] gerad' auf dem Friedhof liegen blieben,« berichtete der Schachner. »Jetzt ist aber vor etlichen Tagen der alte Alpegger gestorben und wartet auf sein Bett. So haben wir halt mentisch müssen schaufeln.«

Das eine wußte ich nun, aber das andere noch nicht. So fragte ich den Einäugigen kurzweg, wieso es käme, daß die Traudel besessen wäre?

Der Mann blickte mich eine Weile von der Seite an und entgegnete endlich: »Die Leut' sagen, du wärest nicht dumm, Schneider. Aber gescheiter wäre es, wenn du noch gescheiter wärst. Wenn du das Besessensein so verstehst, als daß ein böser Zustand oder eine Krankheit auf meiner Schwester sitzt, so hast recht; aber nachher kunnt's leicht sein, daß wir alle besessen sind. So was Ungutes, das ihm angeboren, oder von sich selber angetan worden ist, hat jeder, sonst wären wir lauter Engel. Die Leut' sind alle besessen.«

Ich bat ihn, daß er nicht böse sein möge. Das wäre er nicht. Und während ich mit ihm wieder zurück ins Schachenhaus ging, erzählte er mir die Geschichte, wieso es kam, daß die Traudel besessen war. Es ist eigentlich keine Geschichte, die sich abspielt, es ist ein Schicksal, das erlebt wird. Ich sage, was ich weiß. Lustige Geschichten mag man erfinden; traurige zu dichten, das wäre ein trauriges Geschäft.

Die Mutter der Traudel, das war die alte Schachnerin, soll ein jähzorniges Weib gewesen sein, und zumal, da sie das zweitemal gesegnet ging, geriet sie jeden Tag über irgend etwas in Wut, und fluchte und schlug um sich und raste und tobte, daß es ein Greuel war. Ihr Mann wich einfach aus, wenn sie wütete, weil er[247] der Meinung war, Weiber in »solchen Umständen« müsse man gewähren lassen, sonst schade es ihnen. Als sie aber in einem Zornanfalle dem dreijährigen Söhnlein das Auge ausgeschlagen hatte – so daß aus diesem Söhnlein mein guter einäugiger Schachner heranwachsen mußte – erschrak sie überaus und die Natur kürzte die Zeit ab und führte das Töchterchen plötzlich aus Tageslicht. Die Mutter suchte sich von nun an zu bezähmen, aber der Jähzorn war im Kinde. Anfangs machte die Untugend den Eltern Spaß, denn sie war an dem zappelnden Wesen so possierlich; allmählich gewöhnten sie sich dran, und der Teufel lebte sich ein. Ja, es war wie ein leibhaftiger Teufel, es brach hervor ohne Grund und tobte. Sonst war das Mädchen sanft; geriet es aber in irgendeine Aufregung und Gemütsbewegung, so war der Teufel los. Sie kannte ihren Zustand wohl, ja es gelang ihr sogar, die Aufwallung manchmal zu bemeistern; besonders bei wirklichen Anlässen zum Zorn wußte sie sich zu bändigen, während bei anderen Aufregungen sie der plötzliche, unvorhergesehene Ausbruch übermannte. So ging sie höchst selten mehr unter die Leute und auch daheim verstand sie es, sich unschädlich zu machen, indem sie manchmal im Vorgefühle eines Ausbruches alle zerbrechlichen Gegenstände von sich entfernte und sich einschloß, bis die Entladung vorüber war.

So stand es mit der Traudel. Der böse Zustand hatte sie verhindert zu heiraten, gleichwohl ihr ein alter Arzt als einziges Mittel gegen ihre »Besessenheit« einen braven Mann verschrieben hatte. Sie hielt es für einen Spaß. Auch ihr Bruder heiratete nicht, weil er fürchtete,[248] Weib und Schwester könnten sich gegenseitig unter solchen Verhältnissen leicht Übles zufügen. Er blieb bei ihr und sie besorgten mitsammen das kleine Hauswesen und trugen geduldig, was sie zu tragen hatten. –

Als wir in das Haus zurückkamen, saß die Traudel erschöpft und blaß auf der Ofenbank.

»Mein lieber Schneider!« sagte sie und hielt mir die gefalteten Hände entgegen, »mein lieber Schneider! Tu' mir's nicht für Übel halten. Ich kann halt nicht anders, ich kann halt nicht anders!«

Jetzt konnte ich's nimmer verhalten, ich begann aus Erbarmen zu flennen wie ein Kind, und mir weinten alle drei.

Dann aber blieb ich im Schachenhause sitzen und arbeitete meine Ster auf. Als ich fertig war, ließ ich beiden das neue Gewand anprobieren. Bei der Traudel saß es; beim Einäugigen schlotterte die Joppe, als hinge sie auf Zaunstecken. Mein Schreck war groß, aber der Schachner sagte: »Das ist brav, daß ich jetzt endlich einmal einen Schneider gefunden hab', der mir das Gewand recht macht. Nächst' Jahr mußt uns mieder kommen.«

Aber nächst' Jahr kam ein anderer Schneider ins Schachenhaus, der maß der Traudel ein Kleid aus Fichtenholz.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 236-249.
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