Der Funkenferl.

[289] Die Großstadt hat keine eigentlichen Feste mehr, sie hat nur Tage der Arbeit und Tage des Müßigganges. Im Dorfe steht noch die Himmelsleiter Jakobs; es geht dort kleinlich und kümmerlich zu, allein zu den festlichen Zeiten steigen sie doch die Sprossen hinan, der eine höher, der andere weniger hoch, aber im Staube des Erdreiches bleibt selten einer.

Ich liebe die Feste der katholischen Kirche. Es mag sein, daß mich aus denselben die Zeiten der Kindheit und Jugend wieder anwehen; es mag sein, daß dieser große Kultus mich darum bezaubert, weil er es vermag, das Gute mit dem Schönen zu verbinden und so beides volkstümlich zu machen. Die Schäden und Mißstände, die auch hier vorkommen, lernt man allmählich entschuldigen, weil man zur Einsicht kommt, daß es auf Erden nichts Vollkommenes gibt; manches Häßliche lernt man übersehen, manches Pharisäerhafte überhören. Im Strahle der Kerzen, unter den Klängen der Orgel und des Volksgesanges, inmitten von betenden, weinenden, in Andacht erhobenen Herzen feiert man still für sich und frei von Fesseln seinen Gottesdienst.

So kam ich an jenem Weihnachtstage heim. Der Winter tat sein Möglichstes, um dieses Fest dem Norden würdig vorzubereiten. Schon einige Wochen früher hatte[290] er über das Land eine feste Schneedecke gelegt und die Straßen für Schlitten sein geglättet nach den Worten des Adventevangeliums: was uneben ist, soll zu einem ebenen Wege werden.

Nun zum Feste war nach einem tagelangen stillen Nebelspinnen der frische wogende Winter neuerdings niedergesunken über das weite Alpenrund. Es schneite und stöberte, daß man nicht zwanzig Schritte von sich sah. Die Kirchengeher schoben in den Schneemassen gänsemarschartig heran, der Pfad hinter ihnen ward sofort wieder verschneit und verweht. Von den Dächern stob der Wind dichte weiße Wolken auf, trieb sie in die Fugen der Wände, in die Fenstertiefen, in welchen sich Schnee und Eis aufstaute, in die Kleider und Bärte der Vorübereilenden. Es schneite keine Flocken, es war ein dichter schwerer Nebelstaub allerwärts, jedes Wasserbläschen war Schnee geworden und dieser sank und flog und wirbelte unablässig hin und wieder und man sah endlich nichts mehr, als unter sich das blendende Weiß und über sich das undurchdringliche Grau. Dort und da hub der Schnee, der schon auf dem Boden lag, wieder an zu wirbeln und aufzufliegen, als reue es ihn, aus den Höhen, wo die Engel heute ihr Gloria sangen, niedergesunken zu sein.

Die Leute hatten sich in die Hut der Kirche getummelt, von deren Turme jetzt die Glocken klangen, den Wind übertönend, der an den Mauerecken toste und an den Turmfenstern pfiff und den Schnee an das Erz warf. Hinter den Kirchenfenstern begann der rote Schein zu dämmern, während ich noch im Freien stand und unentschlossen war, sollte ich das Weihnachtsfest drinnen[291] mit den Menschen feiern, oder heraußen bei dem winterlichen Hochgesange der Natur. Man hält es am Ende doch lieber mit den Menschen. Als ich gegen das Kirchentor schritt, sah ich neben mir einen Schneehügel, aus welchem ein paar Holzkanten hervorstanden. Nun gewahrte ich's, daß hier ein Sarg aus Tannenholz stand, mit Stricken auf die Tragbahre gebunden. Der war mit seinem stillen Bewohner heute wohl schon aus einem der Engtäler herausgekommen. Gar ohne allen Schmuck stand er da und mußte warten, bis die Leute drinnen mit ihrer Freudenandacht fertig waren und ihn ins Grab legen wollten. Mittlerweile wob ihm der emsige Winter rasch ein Leichentuch und führte über ihn mit wirbelndem Staube einen weißen Grabhügel auf. – Welch eine ausgebrannte Welt mag – die Hände über der Brust gekreuzt – da drinnen liegen.

Ich trat nun, an der steinernen Schwelle den Schnee von den Kleidern schüttelnd, auch in die Kirche. Allein, während auf dem Chore die Krippenlieder klangen, mußte ich immer wieder an den Schläfer denken, der draußen vor dem Tor in seiner letzten Wiege lag. Neben mir, am Pfeiler halb angelehnt und eifrig seinen Rosenkranz abbetend, stand ein alter Bauer. Dem schielte ich lange auf die Finger und als ich nun merkte, daß er am letzten Knötlein seiner Rosenkranzschnur angelangt war, so daß mir die Unterbrechung in seiner Andacht nicht allzu strafwürdig erschien, flüsterte ich ihm die Frage zu, wer es sei, der draußen in der Truhe liege? Der Befragte betete den Rest des Vaterunsers noch rasch von der Zunge weg, dann neigte er seinen Kopf zu mir und zischelte: »Der Funkenferl.«[292]

Die Auskunft war gering, ein anderer vielleicht hätte damit nicht viel anzufangen gewußt; mich schob sie in eine Welt der Erinnerung und der Betrachtung. Und anstatt der Weihnachtsandacht nachzuhängen, war mein Gedanke jetzt an einen Menschen gekettet, der mir weltfremd gewesen und für den ich mich doch manchmal heimlich erwärmt hatte.

Der Funkenferl! Vor Jahren war er als junger Mensch in die Gegend gekommen. Übrigens fragte ihn niemand nach seinem Herkommen und er ließ auch nichts davon verlauten. Die Wahrheit wird gewesen sein, daß der etwa zwei oder drei Meilen weit, »also aus der Fremde« hergezogene Mensch ein vazierender Schneidergeselle war, der die neue Gewerbefreiheit dazu benützte, in unserer Gegend herumzuschneidern. Für uns andere Schneider war der »Neue« merkwürdigerweise nicht ein Gegenstand des Neides, sondern des Bedauerns gewesen. Denn erstens fand der »Schneiderferl« so wenig Arbeit, daß er sich kaum das tägliche Brot erwerben konnte. Und wenn er am Sonntag vor der Tür seines Stübleins stand und sich vor der Leute Augen die Zähne ausstocherte, so war das nicht Ernst zu nehmen, er müßte denn eine verklemmte Kartoffelschale loszustochern gehabt haben. Und zweitens war der Ferl als Halbnarr ausgeschrien. Er tat zwar nichts Närrisches, war ein bescheidener, hübscher Bursche, der sich nur darin von anderen unterschied, daß er lärmende Gesellschaften mied, seine eigenen Wege ging und daß er den Sonnenschein nicht leiden konnte. Den Sonnenschein hat sonst doch jeder gern, er macht helle Augen, ein warmes Blut und ein lustiges Herz. Beim Ferl war's anders, wenn die[293] Sonne schien, da war er verstummt; kaum etwas war ihm öder und langweiliger, als ein Tag ohne Wolken, ohne »Wind und Wetter«, als ein Tag, der nichts hatte, als denn Sonnenschein vom Morgen bis zum Abend. Als einmal fünf Wochen lang eine solche Sonnenwüste war, wie er sich ausdrückte, magerte er ganz erschreckend ab, obzwar er damals in einem Großbauernhof arbeitete, wo ihn: nichts abging. Als endlich das Regenwetter kam und kalter Nordwind die Tropfen scharf an die Fenster strählte, lebte der Ferl wieder auf, pfiff und sang bei seiner Arbeit und am Feierabend warf er seinen Wettermantel um und eilte hinaus in Regen und Sturm. Unter den Bäumen, die am meisten rauschten, strich er hin, an Abhängen ging er entlang, wo die wildesten Gießbäche niederschossen, in Waldschluchten drang er ein, wo der Nebel am dichtesten lag, und vollends wenn Hochwasser war, schwänzte er seine Arbeit und ging bei den Wassern um; wenn die Fluten trübe heranwogten, Erdreich, Bäume und Felsblöcke mit sich rissen, da war ihm zum Jauchzen; wenn der Sturm die ruppigen Wipfel zauste und die alten Stämme brach, daß sie krachend zu Boden stürzten, wenn im Aufruhr der Elemente die Raben und Geier kreischend in den Lüften flatterten und schmetternde Blitze dreinfuhren und blaue Flammen auflohten aus getroffenen Strünken, da war dem Ferl zum Jauchzen. Wenn er endlich aus solchen Wildnissen heimkam, über und über pudelnaß und zerzaust, da blühten seine Wangen in frischem Rot, da leuchtete sein Auge, da schlang er seinen Arm um den Nacken des erstbesten Knechtes und wußte sich vor frischer Lustigkeit nicht zu fassen.

Ein solcher Schneider war noch nicht gesehen worden.[294]

Der Schneidermut ist allbekannt und in Ehren sprichwörtlich geworden; doch das war ein außerordentlicher Schneider! Das war ein dämonischer Schneider. Die ihn nicht für einen Halbnarren hielten, die fürchteten sich vor ihm und jemand brachte es auf, daß der Ferl kein gewöhnliches Fleisch und Blut habe, daß er sicherlich zum Gefolge der wilden Jagd gehöre, von dem er sich aus Gott weiß was für Gründen losgetrennt habe oder aus wildem Jäger in einen Schneider verwünscht worden sei.

Verwunderlich war aber eines. Als sich der Ferl einen Schatz suchte, nahm er nicht etwa ein resches Engerl, aus dem sich später eine böse Sieben entwickeln konnte, so daß er für sein Leben Sturm und Wetter genug im Hause gehabt hätte. Nein, er wählte ein schüchternes sanftes Ding, das nachgerade einen wolkenlosen Ehehimmel mit immerwährendem Sonnenschein befürchten ließ. Gegen diese Art von Sonnenschein jedoch hatte selbst der Ferl nichts einzuwenden. Er war sehr glücklich. Sein Geschäft hob sich allmählich so ansehnlich, daß er daran denken konnte, seine Marthel von ihrer Dienstschaft in der Armut zu erlösen und zur Meisterin zu machen.

Da kam einmal die Kirchweih, und weil es gar so schön stürmte und Regen und Schneeflocken fielen, ging der Ferl auf den Jahrmarkt. Dort gedachte er seiner Marthel und kaufte ihr einen schönen elfenbeinernen Strählkamm. Der war zwar nicht weiß und auch nicht von Bein, sondern glänzend schwarz und federnd, aber der Krämer sagte, man trage sie jetzt so und die elfenbeinernen Kämme mache man heutzutage aus Kautschuk.[295]

Das war dem Ferl auch recht. Er ging nach Hause, und weil er unterwegs mit seiner Marthel zusammentraf und weil der regnerische Abend für das Mädel gar so herb war, so nahm sie der Bursche mit in sein Stüblein. Dort gab er ihr den schönen Strählkamm, legte sich auf die lange Bank und hörte glückselig zu, wie sie zu seinen Häupten sitzend den Kamm pries, daß ein solcher Elfenbeinkamm lange schon ihr Verlangen gewesen, und wie sie nicht wisse, mit welcher Freude sie ihm dieses Geschenk vergelten solle. Dabei streichelte das Dirndel mit ihrer Hand seine Stirn. Mittlerweile war es finster geworden und nun fragte die Marthel etwas ungleich, ob sie denn nicht schon fortgehen müsse? Er riet, daß sie nur sitzen bleiben solle zu seinen Häupten und daß sie jetzt Gelegenheit hätte, ihm was Gutes zu tun. Er habe nämlich noch von Mutters Zeit her eine kindische Gewohnheit, der er freilich schon lange nicht mehr hätte frönen können, weil er niemand habe auf der Welt, der es ihm tue. Er habe es nämlich so gottlos gern, wenn jemand zu seinen Häupten sitze und ihm die Haare strähle.

»O du lieber Ferl,« sagte sie, »daß ich dir die Haare strähle, das will ich ja gerne tun.«

Er hatte ein schönes, langes, nußbraunes Haar, was aber jetzt im Finstern kohlschwarz war. Das begann sie nun zu strählen. Sie strählte es nach vorwärts, sie strählte es nach rückwärts, sie strählte es aus den Winkeln der Ohren und vom Nacken herauf, wo es gar wie der weichste Flaum war. Sie strählte es in Scheiteln, glättete es und lockerte es wieder auf, zerstörte die Krause, um sie von neuem wieder herzustellen. Sie sagte nichts[296] dabei. Er schwieg auch und genoß die stillen Wonnen, die über sein Haupt ausgegossen wurden.

Wenn ihn jetzt jemand gefragt hätte, was angenehmer sei, ein Gang durch die stürmische Wetternacht oder ein solches Haarstrählenlassen von der Marthel, ich glaube schier, er hätte sich nicht entschieden, sondern sich baß geärgert über den Störer seines süßen Friedens.

Als die Marthel lange so gestrählt hatte, fiel ihr ein seines Knistern auf, das in den Haaren war und ein ganz wundersames Prickeln, das an ihre Finger schlug. Plötzlich tat sie einen leisen Schreckruf, dann war sie wieder still und strählte weiter.

Was das gewesen sei? fragte der Ferl.

Sie schwieg und ließ ihre innere Erregung nicht merken. Es war ihr gewesen, als hätten aus den Spitzen der Haare knisternd blaue Funken hervorgezuckt...

Nach einer Weile, da sie immer noch strählte, sagte sie leise und mit Befangenheit: »Ferl, ich habe dich schon lange einmal was fragen wollen.«

»Frage nur her,« entgegnete der Bursche.

»Du mußt mir aber nicht böse werden. Es ist halt um Leben und Sterden.«

»Was meinst du denn, mein Dirndel?«

Sie stockte, endlich sagte sie: »Bist die letzten Ostern wohl auch bei der heiligen Beicht gewesen, Ferl?«

Einen Augenblick war es so still, daß man wieder deutlich das Knistern vernahm in seinem Haar.

»Wie kommst du jetzt auf eine solche Frage?« sagte der Bursche.

»Der böse Feind,« murmelte sie, »hat oft sein Spiel.«[297]

»Geh', Marthel, schau, wie meine Stirn heiß ist! Leg' deine Wange drauf.«

Das tat sie nicht, sondern strählte noch emsiger und schwieg. – Gählings tat sie einen gellenden Schrei, schleuderte den Kamm von sich, sprang auf, stieß mehrmals an die Wand, bis sie stöhnend die Türklinke erhaschte und davonlief.

Am nächsten Tage wußte es die ganze Gegend: Aus dem Haar des Schneiderferl springen Funken!

Der Mann war – man wollte es nicht sagen, was er war. Nun konnte man sich's wohl erklären, daß er keinen Sonnenstrahl leiden konnte, innen Feuer, außen Feuer, das wird freilich niemand aushalten. Jetzt wußte man, warum er Sturm, Regen und Gestöber so sehr aufsuche, aber das höllische Feuer – mer es in sich hat – das löscht kein Eisschauer und kein Wolkenbruch.

Die Marthel bekreuzte sich, wenn vom Schneiderferl die Rede war, sie wich ihm aus auf hundert Schritte und an ihr Bett malte sie mit der Kreide ein Trudenkreuz, damit sie verschont bleibe vor Anfechtungen.

So hatte der Ferl seine sanfte Marthel verloren, hingegen aber den Spitznamen »Funkenferl« gewonnen.

Fürs zweite schadeten die Funken, die aus seinem Haupte sprangen, auch seinem Geschäft, sie verscheuchten ihm die Kunden. Ein feuersprühender Schneider, das wäre so was!

Die Sache kam dis zum Pfarrer. Der Ferl müsse sich mit Weihwasser besegnen lassen – wollten sie – oder trachten, daß er weiter komme! Der Pfarrer riet den Leuten folgendes: Sie sollten Kautschukkämme kaufen[298] und sich im Finstern strählen lassen, es würde auch Funken geben.

Ob ein Weibsbild strählen müsse? ward gefragt.

Es käme nicht gerade auf das Weibsbild an, belehrte der Pfarrer, sondern eigentlich auf die Elektrizität; und die sei mehr oder minder in jedem Menschen vorhanden und entlade sich bei allerlei Gelegenheiten, in Luft und Lieb, in Zank und Zorn, wo es oft schwere Wetter und Blitzschläge gebe, bei Berührungen und Reibungen der Körper, besonders auch beim Kämmen der Haare.

Und jetzt war in der Gegend das Haarstrählen Mode geworden. Alles strählte, vieles gab Funken und in manchem und mancher zündete der Funken.

Die Marthel trachtete nun wieder zurück zu ihrem ursprünglichen Motoren, aber der Ferl wollte nichts mehr von ihr wissen. Er lebte allein dahin, wie bisher, siedelte sich allmählich fest und ward ein geachteter Handwerker. Der Spitzname blieb ihm; die Geschichte, wie er zu demselben kam, geriet allmählich in Vergessenheit, nur mir war sie nun unter den Weihnachtsklängen der Orgel wieder lebendig geworden, während der »Funkenferl« draußen vor dem Tore auf das Begrabenwerden wartete.

Nach dem hochfestlichen Gottesdienste haben wir uns angeschickt, dem ewigen Schläfer sein letztes Recht anzutun. Mitten durch das winterliche Gestöber ging der lange Menschenzug der schwankenden Bahre nach, hinaus über die Felder zum Friedhofe. Die vorderen Reihen beteten laut, wir hinten hörten vor lauter Schneesausen nichts davon, und um uns zu entschädigen, verlegten[299] wir uns, so gut es gehen wollte, aufs Plaudern. Da erfuhr ich denn von meinem Nachbar, einem Bauern vom Gebirge, noch einiges aus dem Lebenslaufe des »Funkenferl«.

»Ein solches Wetter!« knurrte der Mann und schnob sich den Schnee aus dem Bart, »der Ferl, wenn er heut mit dabei sein kunnt, der müßt' eine höllische Freud' haben. Letzt' Zeit ist's ja noch ärger worden mit ihm. Sommerszeit, wenn anderen Leuten das Herz hat gelacht in Wald und Flur, hat er sich in die Häuser verkrochen und geschneidert, daß die Fetzen sind geflogen. Winterszeit hat er die Arbeit liegen und stehen lassen und ist in Wind und Schnee umgegangen, wie nicht gescheit. In Lodenhabit und Wasserstiefeln durch den scharfen Winter gehen, Besseres gibt's nichts, hat er allemal gesagt.

Sommerszeit, wenn gegen Abend die Wolken aufgestiegen sind und es in der Dän: mer angefangen hat zu blitzen, da ist er nicht ins Bett gegangen. Hat sich draußen auf den Anger hingestellt, die Weste aufgeknöpft und dem Gewitter entgegengeschaut, wie es heraufgestiegen ist hinter den Bergen mit Feuer und Krachen und der Wettersturm von ferne her über Wald und Auen ist gefahren und ihm an die Brust gesprungen. Der Blitz rechts herab und der Blitz links herab und der Knall über Häupten hin, so ist er dagestanden wie eine Säule aus Stein. Und wie es vorbei ist, tut er einen hohen Atemzug und geht ins Bett. – So haben wir« – fuhr mein Weggenosse fort – »ihn einmal gefragt, ob er denn nicht mehr leben will, daß er dem Tod so entgegengeht. – Tausend Jahr möcht' ich leben! ist seine Antwort. Herrgott, was werden das noch für[300] Schauspiele sein, bis es aus ist mit dieser Welt! – Herr Peter, ich sag' es Euch: wenn auf unserem Friedhof ein Toter mit Sehnsucht wartet auf das Jüngste Gericht, so ist es der Ferl. Da wird's ihm doch Spektakel genug geben, alsdann!«

»Er muß ja noch nicht alt gewesen sein,« bemerkte ich.

»Nicht vierzig. Und kerngesund noch, vor drei Tagen,« sagte mein Berichterstatter, indem wir uns eng aneinanderschlossen, einer den anderen vor dem sausenden Schneestaub schützend, so gut es gehen mochte. »Im vorigen Jahr ist der Ferl viel kränklich gewesen und zum Erbarmen vom Fleisch gefallen. Es war zumeist eine schöne Zeit und Sonnenschein und der Ferl ist außer in seiner Kammer nicht viel gesehen worden. Eine Dienstmagd, Marthel heißt sie, hat ihn pflegen wollen, er hat Dank gesagt und kunnt's schon allein richten. Wie aber jetzt der strenge Winter ist gekommen, da ist er hervorgekrochen. Jetzt kommt der Thomastag. Das Firmament liegt wolkenfinster über schneeweiß Berg und Tal. Ein weicher Wind geht und die Bäume schütteln den Schnee ab, und fallen auch Regentropfen. Der Funkenferl steigt draußen um und bricht oft bis übers Knie in den Schnee ein. Hinter meinem Haus ist ein Bühel; wie es finster wird und ich beim Fenster hinausschau, weil manchmal so ein besonderer Schein aufzuckt, steht auf dem Bühel ein Mann und reckt sich ins Firmament hinein. Schau, sag' ich zu meinem Weib, wenn der dort keiner ist, der in der Thomasnacht das Wünschhütl suchen geht oder den Fünfguldenbeutel oder den Talerschimmel, so ist's der Schneider. Der schaut sich wieder einmal die schöne Welt an bei der Nacht. Ich[301] hab' Euch noch nicht ausgeredet, so macht's einen Blegezer (Blitz) und einen schwachen Schlag, just als wie wenn bei dem Stadt draußen das Hoftor umgefallen wär'. Jesus Maria! sagt mein Weib, mich deucht gar, das ist ein Donnerwetter mitten im Winter! – Du, sag' ich, jetzt steht der Mann nicht mehr dort auf dem Bühel. Daß ihm nicht etwa was geschehen ist! So eine Mahnung hab' ich gehabt. Wie ich hinausgeh' und nachschau, liegt er im Schnee und ist maustot.«

Wir schritten durch das Friedhofstor. Von der hölzernen Einplankung guckten nur die Bretterspitzen aus dem Schnee. Von einzelnen Kreuzen ragten die Dachbrettchen hervor, von anderen nichts. Am großen Kruzifix, das mitten im Gottesgarten steht, waren die Füße des Heilands unter dem Schnee. Zwischen den Kreuzen hin war ein schmaler Gang ausgeschaufelt, in welchen fortwährend der Schneestaub hineinwirbelte.

»Es ist wohl seltsam,« sagte ich zu meinem Weggenossen, der nun des schmalen Weges wegen hinter mir dreinging.

»Wenn ich's nicht selber gesehen hätt',« rief er mir über die Achsel her, »ich kunnt's nicht glauben. Der Blitz hat ihn erschlagen, sagt der Arzt. Es muß dem Funkenferl rein so aufgesetzt gewesen sein. – Alsdann hat's angefangen zu schneien. Und so viel Schnee, daß wir den Toten vier Tage haben müssen liegen lassen in seiner Kammer, bis jetzt zu den Feiertagen der Weg ist ausgemacht worden von unserem Hintergebirg zur Pfarrkirche heraus. – So, jetzt hätten wir ihn glücklich da.«

Die Menge staute sich, voran die Träger mit dem Sarge standen am Grab. Wir hörten im Sausen des[302] Windes kaum den Grabgesang und nur wie dumpfes Donnern war's, als der Sarg in die Tiefe des gefrorenen Erdreichs hinabrollte. Die üblichen Vaterunser wurden etwas schleunig abgetan, hierauf eilten die Leute fast fluchtartig in das schirmende Dorf zurück. Bald stand am Grabe nur ich allein und der Winter wollte dem Totengräber zuvorkommen und die Grube mit Schnee füllen.

Ich weiß von dem Schneider Ferdinand weiter nichts zu erzählen, es war ein armes, verborgenes, unbedeutendes Leben. Aber ich sah in ihm ein Sein, welches als einen Gegensatz seines kindlichen Herzensfriedens die brausenden Gewalten der äußeren Natur suchte und liebte, und gleichsam in der erhabenen, bauenden und zerstörenden Betätigung der Elemente den Schöpfer und Erlöser geahnt hat.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 289-303.
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