Die alte Lori.

[273] Vom Dorfe gegen das Wasser hin, wo die alten Eschen sind und die Lache liegt-die in nassen Zeiten ein See und in trockenen ein Sumpf ist – dort steht ein Haus, das auf vier großen Spreizen ruht, wie ein Pfahlbau. Das ist aber nicht des Wassers, sondern der Einfachheit wegen; die vier Spreizen – welche nur an einer Seite, an der Berglehne, eine Untermauerung haben – bilden eine Hütte für Schnittholz, als Bretter und Zimmerbäume, und tragen unter dem Dache zwei Kammern. Diese Dachkammern machen das Haus. Die eine dieser Kammern hat ein kleines Fenster gegen das Wasser hin; das ganze Jahr, die Sonne mag hoch stehen oder tief, kommt von ihr kein Strahl hinein. Das weit vorspringende Dach deckt das Fenster schier zu: solches erinnert an den Tackelschuster, der nur ein Auge hat und selbst über das noch sein breites Mützenschild herabzieht, wenn er schmollt. In dieser Kammer wohnt der Eigentümer des Hauses, Pankraz Lagler wohl beschrieben. Die andere der zwei Kammern des vierfüßigen Hauses hat zwei größere Fenster gegen das Dorf hin, die Sonne schaut hinein im Sommer und im Winter und Blumen schauen heraus im Winter und im Sommer.[274] In dieser Kammer wohnt die Mieterin Fräulein Eleonore Maiseau, gemeinhin genannt die alte Lori.

Die zwei Leute wohnen unter einem und demselben Dache – wie lange schon? Kein Mensch rechnet nach; das jüngere Geschlecht sieht den Sumpf und die Eschen und das aufgespreizte Haus, und wenn es überhaupt darüber nachdächte, so würde es meinen, das müsse so sein, das gehöre so zum Dorfe und zur Welt, etwa wie die Straßenmaut und die Regenwürmer. Die zwei Leute wohnen Wand an Wand; nachts, wenn Pankraz Lagler seine Krampfhustenanfälle hat, kann Fräulein Eleonore Maiseau nicht schlafen, und des tags, wenn das Fräulein in der alten Blechpfanne den Kaffee röstet, brenzelt das Ding stark hinüber zum Pankraz. Trotzdem verkehren die beiden das ganze Jahr nicht miteinander, außer wenn sie auf der engen Stiege zusammenkommen, wo sie sich gegenseitig einen »Guten Tag« gönnen, und zu den Quatemberzeiten, wenn das alte Fräulein ihm den Wohnungszins entrichtet. Man sagt, sie sollen einander nicht geneigt sein.

Bei dem Pankraz wäre das kaum zu wundern, der ist niemandem geneigt; er hatte jeden, wie sie da Sonntags auf dem Kirchplatz umherstehen oder unter dem Rasen liegen, schon übervorteilt, und so bildet er sich ein, sie wollten's ihm heimzahlen und traut niemandem. Pankraz ist seines Zeichens Holzhändler, der durch jahrzehntelange Lieferungen von Bau- und Brennholz sich ein Vermögen erworben haben soll. Jetzt ist er schon ein alter Schrumpf, aber er handelt immer noch, denn, sagt er, so viel müsse er sich erwerben, was er braucht. Da er keinerlei Familie hat und für seine Person höchst[275] sparsam lebt, so erspart er sich noch – jetzt in seinen alten Tagen. Bescheiden muß einer sein in den Bedürfnissen, nicht trinken, nicht rauchen, geschweige spielen, nicht dem Schneider wirtschaften helfen und nicht dem Rasierer; die Leute wissen gar nicht, mit wie Wenigem einer leben kann. Brav muß man sein! – Und seine ganze Bravheit besteht im Sparen.

Die Natur hat aber auch an ihm schon zu sparen begonnen, längst schon, er hat keine Zähne mehr, fast keine Haare mehr und die Leute sagen, er würde von Tag zu Tag kleiner. Seine Backen sehen immer aus wie ein Stoppelfeld, auf welchem aber die Schnitter etwas ungleich gearbeitet haben. Seine kleinen Augen sind immer hochrot, und unablässig muß er mit dem Knollen seines blauen Sacktuches sich die Tränen trocknen, so daß man weiß Gott welch rührende Weichherzigkeit in ihm vermuten müßte, wenn es keinen chronischen Augenkatarrh gäbe. Sein Kleid besteht aus braunem Loden, welcher – soweit die Dorfinsassen sich erinnern können – nie neu war und also nie alt werden kann. Etwelche schadhafte Stellen werden wieder heil und die vielen Rippen der Nähte halten das Gewand steif aufrecht, auch wenn der Inhalt immer mehr in sich zusammenschrumpft. Den alten Pankerl heißen sie ihn. Wenn der Pankerl so dahinschleicht durch die Dorfgasse, mit der linken Hand den Stock sachte voransetzt wie einen Fühler, ob der Weg wohl verläßlich ist, so kann beobachtet werden, wie er bisweilen mit der rechten Hand gegen die Brust, gegen das Herz zuckt, als gäbe es ihm dort manchmal einen Stich. Hat er ein gutes Geschäft gemacht – was bei den schlechten Zeiten, welche die[276] Grund- und Waldbesitzer ietzt haben, für einen Holzhändler sehr leicht möglich ist – so belohnt er sich, der alte Pankerl, er geht zum Lindenwirt, setzt sich dort an die Ofenbank, und damit er die Ofenwärme umsonst haben kann, läßt er sich ein Achtel Apfelwein kommen. Der Lindenwirt, der stets und mit Recht bei guter Laune ist, klopft dem Pankerl manchmal auf die Achsel und fragt: »Na, Pankraz, wie geht's, wie steht's?« Er ist um mehr als dreißig Jahre jünger als der Pankraz, aber dieser nennt ihn den Herrn Vater, und wenn's zum Zahlen kommt, so zahlt er stets beim »Herrn Vater«, denn bei der Kellnerin ist neuzeit eine Unsitte eingerissen – das Trinkgeld. Und wieder fährt er mit der Hand gegen das Herz, während das Geldbeutelchen doch tief im Hosensacke hockt, aus dem es hernach langsam und mit vieler Umständlichkeit herausgeholt wird. Weil ihm niemand im ganzen Dorf und Umgebung auf die Achsel klopft als der Lindenwirt, so hat er diesen zu seinem Vertrauten erkoren. Und manchmal huscht der Pankerl dem Wirt nach in die dunkle Kellerstiege, erhascht ihn am Arm und zischelt: »So viel gern was fragen tät' ich, Herr Vater, so viel gern was fragen!«

»Nu, hat der Pankerl schon wieder ein Anliegen?«

»Freilich wohl, freilich. Wegen der Sparkasse halt, wegen der Sparkasse. Ob's halt wohl sicher ist, was man einlegt? Ob's wohl sicher ist?«

»Ei versteht sich. Wenn ich nur recht viel drinnen hätt', mir wäre es sicher genug,« sagt der Wirt.

Das tröstet den Pankerl kräftiglich. Denn er hat Geld in der Sparkasse, obgleich vorsichtshalber nur einen[277] Teil seines Vermögens. Den anderen Teil? – ? Nächst seinem Hause steht eine hohle Esche. In hohlen Eschen haben vorzeiten Gespenster gewohnt. Wenn der Blitz einschlägt!... Der Pankerl zuckt mit der Hand aus Herz.

Das nächste Mal setzt ihm jemand eine Mücke in den Kopf, und diese summt ganz schauderlich da drinnen im dunkeln Raum und läßt dem Alten Tag und Nacht keine Ruhe. Seine Zuflucht ist endlich wieder der Linden wirt. »Herr Vater! Herr Vater! Ein Wörtel. Die Leut' tun so viel reden. So viel reden tun sie. Die Funfzigernoten täten abkommen, die Funfziger. Wenn das wär', müßt' man's hergeben, müßt' man's hergeben.«

»Hast ihrer?« fragt der Wirt.

»Hab' ihrer rund, hab' ihrer rund!« flüstert der Pankerl vertrauensselig, »werden doch um Gottes willen nit hin sein, werden doch nit hin sein! Was meint denn der Herr Vater?«

Der Lindenwirt tröstet ihn und meint, wenn der Pankerl ihm die Fünfziger anvertrauen wollte?

»Ah, das nit, Herr Vater, das nit,« grinst der Alte und trocknet sich die Augen, »aus der Hand geben tu' ich sie nit, hergeben tu' ich sie nit. Auswechseln, wenn sie sollten abkommen, auswechseln. Mein Gott, die Sorgen, die der Mensch alleweil hat, die Sorgen!« Nebst den Tränen trocknet er sich auch den Schweiß von der platten Stirn. –

Das wäre der Pankraz. Nun zu seiner Nachbarin, dem Fräulein Eleonore. Verzeih' mir, du gute Seele,[278] daß ich dich schildern muß, du kannst ja nichts dafür, daß dich Gott so erschaffen hat. Einmal sollst du ja auch jung und schön gewesen sein, sagen die ältesten Leute. – Die Lori war eine schlanke Gestalt, die nach oben sich stark verdünnte, nach unten aber lustig ins Breite ging, weil sie einen Reifrock trug. Seit der französischen Revolution sind alle Moden an ihrem Leibe gehangen, der Reifrock aber hat ihr am besten gefallen und der ist an ihr verblieben. Einmal hat es die Lori einer Freundin vertraut, daß sie eigentlich alle ihre Tage Trauer tragen sollte: in der Tat war aber davon nicht das mindeste zu sehen, sie trug stets ein hellbuntes, flatterndes Gewand, über und über voll Bänder und Spitzen, Knöpfchen und Täschchen. Auf dem dünnen langen Hals, der zwischen den zwei spitzigen Achseln hoch emporstand, saß ein kleiner Kopf und auf demselben – auch im Winter – ein großer Strohhut in Muschelgestalt, mit roten und gelben Maschen und Bändern und grellen Kunstrosen schreckbar prächtig aufgeputzt. Mitten im kleinen gelblichen Runzelgesicht saß eine Adlernase kühnster Gattung, über derselben zwei stechende Augen, deren beide Sterne so entschieden in den Nasenwinkeln steckten, daß nicht von einem »falschen Blick«, sondern nur von einem höchst ehrlichen Schielen die Rede sein konnte. Die Stimme des Fräuleins war so scharf und schneidend, daß sie – Gott laß mir's sagen! – stets an das Krähen eines Hahnes erinnerte. Und wenn irgendwo ein schriller Laut vernommen wurde, so hieß es: »Uh, die Lori, die Lori!« Sie hatte, wenn sie so mit ihrer großen, blumigen Armtasche durch das Dorf ging, einen hopsenden, tänzelnden Schritt, sang auch gern ein Liedel, wozu sie mit den[279] dürren Fingern schnalzte. Sie war voller Schalkheiten und lustiger Sprüchlein, wovon aber die wenigsten verstanden werden konnten. Ihr zahnloser Mund mit der lallenden Zunge sprach ein schwer zermartertes Deutsch mit französischen Ausdrücken und Nasenlauten über Gebühr vermischt. In einer der zahllosen Kleidertaschen hatte sie eine große braune Schnupftabaksdose, die an einem grünen Schnürchen hing, das Schnürchen aber hatte die Lori um den Hals gelegt wie ein Uhrband. Diese Dose zog sie manchmal hervor, um dieselbe, aber ohne daraus zu schnupfen, wieder in die Tiefe gleiten zu lassen. Die alte Lori war eine noch mehr possierliche als häßliche Gestalt, und niemand wollte ihr übel. Gern warteten ihr die Leute gelegentlich mit einem Gläschen Wein auf, das schwang sie und brachte dem Spender ein kräftiges Sprüchlein zur Gesundheit. Wenn man etwas Lustiges und Tolles haben wollte, so rief man die alte Lori, die trällerte, tanzte den Leuten was vor, schwang feuerrote Bänder in großen Reisen durch die Luft, streute Blumen auf die Leute und klatschte dann voll Freude in die Hände. Jetzt war sie schon über achtzig Jahre alt und trieb es immer noch so. Ich habe nicht erfahren können, ob sie ihren heiteren Irrsinn von der Jugend her mitgebracht, oder ob er die Nachblüte eines großen Leides war. Je vertrauter sie ward, je mehr Verworrenheit kam in ihr Wesen. Manchmal schien es, daß vieles an ihr nicht so närrisch sei, wie es sich gab.

Eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt, am Fuße des Berges in einem Wildpark schön gelegen, steht ein stattliches Schloß. Einst zur Franzosenzeit – so wußten die Leute zu sagen – wäre eine fremde Herrschaft in[280] die Gegend gekommen, habe das Schloß gekauft und darin gewohnt. In kurzer Zeit seien diese Menschen aber dahingestorben, nur ein Fräulein sei übriggeblieben, habe auch noch eine Weile im Schlosse gewohnt und geherrscht; dann sei die Behörde gekommen und habe diese Herrin aus dem verschuldeten Gut getrieben. Eleonore de Maiseau, wie sie sich hieß und mit Buchstaben auf alle ihre flitterhaften Sachen zeichnete, war in das Dorf gezogen, wo eine nachbarliche Herrschaft aus Erbarmen für sie den geringen Wohnzins entrichtete, den die Dachkammer im Hause auf den vier Füßen betrug. Um ihren weiteren Unterhalt zu erwerben, verfertigte sie aus Papier Blumen und Kränze für Hochzeiten, Kirchenopfer und Begräbnisse. Auch wußte sie aus alten bunten Lappen, welche sie in den Häusern sich erbat, hübsche Kinderpuppen und komische Popanze zu machen, die sie dann verkaufte. Zur Weihnachtszeit baute sie kleine Krippen, zu Ostern färbte sie Eier und beklebte solche mit Goldschaum, zu Pfingsten machte sie papierne »Tauben«, die den heiligen Geist darstellen sollten, in Wahrheit aber weder einer Taube, noch etwas anderem ähnlich sahen. Derlei brachte sie in die Häuser, um damit Kinder, Weiber und selbst Männer zu beschenken. Natürlich gab man Gegengeschenke, die sie stets mit einem Freudenschrei annahm. So wie die Jahreszeiten, wußte sie sich auch die Ereignisse im menschlichen Leben zunutze zu machen. War eine Taufe, so kam sie herbeigehopst, um das Kind mit einem rauschgoldgeschmückten Amulettlein zu beschenken. Gab es Hochzeit, so versperrte sie dem Zug die Gasse zur Kirche hin, indem sie querwegs ein rotes Band zog und dasselbe hüpfend und jauchzend so[281] lange angezogen hielt, bis man ihr die Maut entrichtete. Nur bei Leichenbestattungen blieb sie abseits, derlei schien ihr zu traurig zu sein.

Und doch wollte die Schwermut manchmal nach ihr Jagd machen, daß sie ihre Beute werde. Wenn sie allein saß, da brütete sie vor sich hin und die hellen Bänder hingen schlaff und traurig an ihr nieder. Da zog sie wohl auch einmal die runde braune Schnupftabaksdose hervor, hielt sie in der zitternden Hand, schnupfte aber nicht, sondern schob sie wieder sachte in das Täschchen. Bei der Arbeit war sie emsig und hatte sich im Papierkleben und Lappenheften eine solche Fertigkeit erworben, daß der Buchbinder eines Nachbarortes schier einmal Luft gehabt hätte, sie wegen »unbefugt ausübenden Gewerbes« zu verklagen. Der alten Lori guter Freund war ein Beamter des Wiener Hofburgtheaters, welcher alljährlich zur Sommerszeit auf etliche Wochen ins Dorf kam. Mit dem sprach sie Französisch, und zwar auf eine Art, daß ihm die Haare zu Berge standen. Trotzdem brachte er ihr, wenn er aus Wien kam, abgetragenen Theatertand, als falsche Seiden und Spitzen, ja selbst echten Glasdiamantenschmuck, hölzerne Goldreifen und dergleichen mit. Damit schmückte sie sich selbst oder erzeugte Figuren, die von den Dorfleuten nicht mehr belächelt, sondern geradezu bewundert wurden.

Das war die alte Lori, und so ist sie heute noch im Gedächtnis der Leute, unter denen sie sechzig Jahre lang wie ein harmloses Gespenst herumgeflattert war. Fremd geblieben ist sie den Menschen, unter Flittern verborgen hatte sie ihr wahres Wesen und die Schatten der Vergangenheit; ihr wehes Erinnern und das Zittern[282] ihrer Seele – niemand hat danach gefragt. Da hat sich einmal plötzlich etwas zugetragen, was den Schleier ein wenig lüftete.

Am Vorabende eines Marienfestes war's, in der Kirche wurde die Vesper gehalten. Die Leute hatten Feierabend gemacht und gingen in das Gotteshaus, an dessen beleuchtetem Altare der Weihrauch aufstieg. Auch der Pankraz schlürfelte am Stock gestützt hinein und seine rechte Hand zuckte ein wenig gegen das Herz. Unweit von ihm hopste die alte Lori heran, auch sie ging in die Kirche, und am Tore noch die Schnupftabaksdose fassend, war's, als besinne sie sich, und schob dieselbe wieder in die Tasche.

In der Kirche fangen sie ein Marienlied, dann spendete der Priester den Segen. Als es nun still war unter den Andächtigen, hörte man plötzlich einen krächzenden Schrei: »Pankerl! Du hast mir mein Herz gestohlen!« Die alte Lori krampfte ihre Finger in den Nacken des alten Holzhändlers, der noch auf dem Pflaster kniete, und rief wiederholt: »Mein Herz! Der hat mein Herz gestohlen!«

Die Leute fuhren zusammen und bildeten einen Knäuel um die Gruppe; etliche waren bestrebt, die Lori, von der man glaubte, sie sei wahnsinnig geworden, von dem ächzenden Pankraz loszulösen. Sie aber rief: »Er ist neben mir gestanden! Mein Herz! Er hat's!«

Das erste, was man in diesem Augenblick an Pankraz bemerkt hatte: er zuckte mit der Hand nach dem seinen. »Die Hexe!« röchelte er jetzt, »die alte Hexe!« Als er losgekommen war, torkelte er aus der Kirche. Die[283] Alte begann heftig zu weinen, riß die Bänder von ihren Kleidern und warf sie über die Köpfe hin. Dann untersuchte sie mit unheimlicher Hast alle Taschen und Falten ihres Kleides und beteuerte immer wieder: Es sei dahin! Es sei gestohlen! Und schlug mit den Armen um sich und schrie wie rasend: »Es ist dahin!«

In derselben Nacht schlief das arme Wesen freilich nicht in ihrer Dachkammer nächst dem Pankraz, sondern in einem Stübchen des Armenhauses, wohin man sie gebracht. Sie soll aber nicht viel geschlafen, sondern die ganze Nacht ihre Kleider und Taschen durchsucht haben, und immer wieder geseufzt: »Es ist dahin!« Am nächsten Morgen verlangte sie nach dem Ortsrichter und nach dem Pfarrer. Diesen erzählte sie merkwürdig gefaßt und klar allmählich eine abenteuerliche Geschichte.

Da habe sie ein rundes hörnernes Gefäß gehabt und das habe sie stets bei sich getragen und mit einer Schnur an den Leib gehangen.

»Die Dose?«

Nein, schnupfen tue sie nicht. Das Gefäß habe sie noch gehabt am Abend, als sie in die Kirche eingetreten. Dann sei der Pankraz neben ihr gestanden und habe beständig an ihre Seite hergeschielt, und auf einmal sei das Gefäß dahin gewesen mitsamt der Schnur. Es sei ein verdammtes Schelmenstück.

»Und wenn du nicht schnupfest,« versetzte der Pfarrer, »was hast du denn in deinem Gefäß herumgetragen?«

»Sein Herz,« ächzte sie auf.

»Wessen Herz?«

Auf solches Wort starrte sie den Pfarrer an, wie verblüfft und empört zugleich, daß er es nicht wisse.[284]

»Sein Herz,« sagte sie noch einmal, aber leise wie im Traume. Und endlich erzählte sie die Geschichte. Aus Elsaß sei sie mit ihnen hergekommen. Aber als sie das Schloß gekauft, hätte sie – die Mademoiselle – der eine zur Frau haben wollen und der andere hätte von ihr nicht gelassen. Dann wäre ein Zweikampf gewesen und hätte der eine ihren Bräutigam erstochen. Weil die Kriegszeit war, sei das still abgelaufen, aber was in ihr, der Braut, vorgegangen, das sei über allen Krieg und über alles Elend gewesen. Den Mörder, als er ihr genaht, habe sie mit dem Messer von sich gescheucht, Der alte Hausarzt sei noch gewesen, der habe den Bräutigam in die Erde scharren wollen. Dem habe sie sich mit Gewalt widersetzt und von ihm begehrt, daß er dem Toten das Herz aus der Brust löse, bevor er ihn begrabe. Das Herz, das für sie geschlagen und verblutet, wolle sie mit sich tragen alle Tage und alle Tage, und es solle ihr in den Sarg gelegt werden, wenn sie sterbe. So sei sie mit dem Bräutigam gewesen die lange, lange Zeit. – »Eine heimliche Liebschaft!« kicherte sie, »eine lustige Liebschaft! – Und jetzt –«

»Das Herz hat er mir gestohlen!« schrie sie wieder auf und schüttelte den Leib, daß aller Flitter daran flatterte, »er hat's! Der Pankraz, kein anderer!«

Weil die Sache nun gewissermaßen einen sachlichen Hintergrund gewonnen hatte, so wurde der alte Pankerl gerufen. Er kam ganz verstört an, ballte das Sacktuch in der Hand und trocknete mit demselben die Augen.

Er solle sich aussuchen lassen! verlangte die Lori.

»Ich – mich aussuchen lassen?« rief der Pankerl entrüstet und streckte seinen Kahlkopf vor, »aussuchen[285] lassen wie ein Dieb? Das tu' ich nicht. Das tu' ich nicht.«

»Warum nicht?« fragte ihn der Richter, »das ist ja der beste Beweis, wenn du unschuldig bist.«

»Das tu' ich nicht.«

»Ist verdächtig!«

»Aussuchen lassen, das tu' ich nicht!« rief der Alte, »die Schand und Schmach erleben! In alten Tagen die Schand und Schmach! Bin ein ehrlicher Mann! Ein ehrlicher Mann! Das tu' ich nicht!«

So müsse man Gewalt anwenden.

Nun zuckte der Arm des Pankraz gegen seine Brust. Blaß ward er bis in den Mund hinein. »Ich bitt', Herr Pfarrer!« stöhnte er halb flehend, halb drohend, »ich bitt', Herr Pfarrer! Eine Ungerechtigkeit! Ich bin ein ehrlicher Mann. Hab' meine Sach' ehrlich verdient. Eine Ungerechtigkeit! Eine Ungerechtigkeit!«

Aber der Knecht hatte ihm schon den Rock vom Leibe gezerrt, und als er jetzt die Weste öffnete und darinnen etwas Festes tastete, sagte er: »Was ist denn das?«

»Ich hab's ehrlich verdient!« wimmerte der Alte und sank mit gerungenen Händen auf die Knie, »nur nicht wegnehmen, nicht wegnehmen. Ich hab's ehrlich verdient.«

Sie fanden wirklich etwas an ihm, aber nicht das vermißte Herz, sondern ein dickes Paket Fünfzigernoten, in Leinwand gewickelt und von Schweiß durchfeuchtet. Es war sein Erspartes, das er nicht der Sparkasse anvertrauen wollte, das er wie ein Heiligtum bei sich[286] trug. gleichsam sein Herz, wie die alte Lori das ihre hatte in dem Horngefäß.

»Das Herz hast du mir gestohlen!« rief die alte Lori wieder aus.

Jetzt wurde der Pankraz herb und sagte: »Wer wird denn dir dein Herz stehlen, du alter Radstubengeist! Ist nicht einen Groschen wert. Ist nicht einen Groschen wert.«

Fast zu rechter Zeit ließ der Meßner melden, er habe an diesem Morgen beim Ausfegen in einem Winkel am Kirchentor eine braune Horndose gefunden, mit einer grünen durchbrochenen Schnur, und er glaube, das Ding gehöre der Lori und es hätte sich im Gedränge zufällig losgestreift. Scharf stürzte die Lori auf den Meßner los. Dieser hielt die Dose neckend hoch über das Haupt, daß sie selbe nicht zu erreichen vermochte, dann suchte er sie zu öffnen, was ihm aber nicht gelang, erstens weil er sie überhaupt nicht ausmachen konnte, und zweitens, weil die Alte ihm schon in die Hände fiel und mit spießeckigster Kraftanstrengung dem Frevler das Heiligtum entrang. Dann schoß sie heim in ihre Dachkammer, um dort bei verschlossener Tür das Gefäß zu öffnen und sich von der Unversehrtheit des Inhaltes zu überzeugen.

Von dieser Zeit an sah man die alte Lori nur selten mehr; sie blieb die meiste Zeit in ihrer Kammer. Und wenn sie doch hervorging, um Lebensunterhalt zu sammeln, so tänzelte sie nicht mehr, sondern schleppte sich schwerfällig dahin. Wollte man sie zu einem ihrer früheren Schelmenstücke veranlassen, so war's, als beginne sich ihr phantastischer Flitteranzug sachte aufzusträuben[287] wie das Gefieder eines erregten Hahnes, aber es ward nichts weiter und das alte Wesen blieb in sich gekehrt.

Einmal blieb sie zwei Tage lang ganz ungesehen und der Pankraz sagte aus, seine Nachbarschaft sei sehr still. Da ging man, um Nachschau zu halten und fand sie am Fußende ihres Bettes auf einem Schemel sitzend: der Körper in den Winkel gelehnt, das kleine Haupt mit den losen weißen Haarsträhnen nach vorne an die Brust gesunken.

Der Pankraz trocknete mit dem Sacktuchballen seine Augen und wimmerte: »Wer wird mir jetzt den Zins zahlen, wer wird mir jetzt den Zins zahlen!«

Zu ihrem Begräbnis war das ganze Dorf da, denn es war ausgesprengt worden, man würde das braune Gefäß – bevor man es ihr in den Sarg legte – öffnen, um zu sehen, wie es sich mit dessen Inhalt verhalte und ob er mit der Aussage der Alten stimme. Und wo wäre das Weib, das nicht wissen möchte, wie es aussieht, eins von diesen Männerherzen, an welche sie das ihre hängen, mit denen sie spielen. Insonderheit merkwürdig ist ein Männerherz, das wegen der Liebe zu einem Weib den Tod erleiden mußte. – Die Geschichte der Lori war ja bald bekannt geworden.

Als das kümmerliche Gestaltlein, mit etlichem Flitter geschmückt, nun im Sarge so dalag und der Schreiner schon mit dem Deckel daneben stand, nahm richtig jemand die braune Horndose in die Hand und begann an ihr herumzudrehen.

Da langte der Pfarrer nach dem Gefäß und sagte: »Es war ein Geheimnis und es soll eins bleiben.« Dann[288] legte er es der Toten auf die Brust, in den Ellbogenwinkel des linken Armes, der über den rechten gekreuzt war. Und der Deckel wurde auf den Sarg genagelt.

Die Weiber, welche voller Neugierde zugegen waren, fürchten seither nicht mehr den Jüngsten Tag; sie plangen danach, hoffend, daß an jenem Tage, der alles offenbaren soll, auch die braune Dose der alten Lori geöffnet werden wird.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 273-289.
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