Der Traumkünstler.

[264] Eines Sonntagsnachmittags saß ich im Bauernwirtshause und war arg verdrossen. Der Wein war sauer, die Stube rußig, das Fenster voller Fliegenpunkte, und draußen war trostloser Salzburgerregen. Anstatt auf der so schön ausgedachten Bergpartie die Gipfel im Sonnenglanze zu schauen, sah ich im dämmerigen Zimmer, mir gegenüber, einen brummigen Wirt und hinten auf der Ofenbank einen schläferigen Greis.

Der Wirt war wohl brummig, weil ihm zehn lustig trinkende und kartelnde Bauern lieber gewesen wären wie ein magerer Tourist, der seit zwei Stunden bei einem einzigen Achtel Wein saß und immer zum Fenster hinausguckte, als ob der Regen im Schockengraben weiß Gott was für ein Weltwunder wäre. Grundsätzlich frage ich keinen Alpenwirt bei Regenwetter, ob er nicht glaube, daß es bald schön werden würde. So ein Schlingel zwinkert gegen Himmel, überlegt eine Weile und sagt endlich: »Es kann schön werden, aber es kann auch noch eine Zeit wild bleiben.« Ich hatte also nur einige gleichgültige Worte gesagt, die der Wirt ebenso gleichgültig beantwortet. Meine Zeche hatte ich schon bezahlt, daher begriff ich nicht recht, warum er immer noch bei mir am Tische sitzen blieb. Dabei sah mein Wirt so grämig drein, daß ich die Pflicht fühlte, ihn zu unterhalten.[265]

»Wer ist der Alte dort beim Ofen?« fragte ich.

»Ist der Kohlenrabler.«

»Kohlenrabler, was ist das?«

»Der vom Kohlenschoppen die Kohlen in die Schmiede tragt, unten beim Hammerwerk.«

»Was macht er denn jetzt?« fragte ich weiter, denn der Mann beim Ofen tat an einer schwarzen Wurst herum und rieb an etwas Glänzendem, das daran war.

»Sein Spectivi putzt er,« belehrte der Wirt und setzte, auf einmal ganz überraschend gesprächig bei: »Ja ja, der Augustel ist ein gar großer Herr.«

»Wer? Der Alte dort? Der Kohlenrabler?«

»Der Kohlenrabler. Gehn's nur hin, reden's mit ihm.«

Ich trat zum Ofen hin und der Wirt, als er mich vom Halse hatte, siffelte sachte zur Tür hinaus.

»Na, wie geht's, wie geht's, Alter?« redete ich den Greis an. Dieser rückte seinen stoppelbartigen Kinnbacken zurecht, wetzte mit der Zunge die Lippen, wobei ich nicht einen einzigen Zahn sah, blinzelte mit den kleinen Rundäuglein und sagte fast piepsend: »Ist die Frage dem Auswendigen vermeint oder dem Einwendigen?«

Weil ich auf diese Antwort hin verblüfft war, so rückte der Alte ein wenig weiter in den Winkel hinein, als ob er mir an seiner Seite Platz machen wollte, und fuhr fort: »Das ist halt nit so einfach, mein Mensch. Dem Kohlenrabler ist sie vermeint? Du hör' einmal, der Kohlenrabler ist ein armer Schragen, der geht den ganzen lieben Tag zwischen dem Schoppen und der Schmiede hin und her mit seinem Korb und tragt Kohlen. Kohle schwarze Kohlen. Auf dem sein Gesicht kannst mit dem[266] Finger weiße Stricheln machen, so schwarz ist es. Das ist ein langweiliger Nötler, der Auswendige, den mag ich selber nit und bin allemal froh, wenn ich ihn auf den Abend ins Stroh werfen kann. Nachher wird der andere munter, der Einwendige. Du der!« Bei dem letzten Worte hob er seine Stimme zum Tone höchsten Respektes vor dem »Einwendigen«. Ich saß solchen Reden ganz ratlos da, so lugte er mich schmunzelnd an, hub von der Bank sein Fernrohr auf und sagte: »Was ist das? Das ist ein Spectivi. Schaust jetzt durch, so siehst gar nichts. Alles kohlschwarz. Ziehen wir's halt einmal auseinander.« Er tat's, so daß das Rohr nun zwei Längen gab. »Guckest jetzt durch, siehst auch noch nit viel. Ziehen wir's halt noch einmal auseinander.« Er zog das dritte inwendige Rohr hervor, das Instrument war jetzt so lang, wie eine Elle. Nu guck einmal durch!«

Ich hielt das Rohr gegen das Fenster, lugte hinein, sah aber nichts als eine graue Scheibe mit wogendem Perlmutterschimmer. Das Glas war durchaus schadhaft.

»Siehst du's jetzt?« fragte der Alte.

»Ich sehe nichts.«

»Aber schau!« rief er und nahm mir das Rohr aus der Hand, »man sieht ja eine schöne lichte Weltkugel. Und das: mein Mensch, ist auf ein Gleiches. Der alte Kohlenrabler ist auch so ein Spectivi mit drei Röhren. Wenn ich auf den Abend das Gewand auszieh', da zieh' ich halt das erste Rohr herab. Wenn der arme Menschenleib nachher einschlaft, da ist das zweite Rohr weg, und das dritte Rohr, mein Mensch, das ist nachher der andere, der Einwendige mit der schönen lichten Weltkugel.[267] Das ist der Augustel, der alleweil noch hundsjung ist und kreuzlustig und gar nit ein bissel rußig. Und ein hoher Herr! Ja, da müßt ich wohl aufs Hausdach hinaufsteigen, daß ich's kunnt zeigen, was der für ein hoher Herr ist! Solltest du mit dem Augustel reden wollen, so sag' gutwillig: Euere Majestät!«

– Ganz und gar verrückt, dachte ich, habe aber meine Meinung ein wenig ändern müssen. Denn es kam heraus, daß ich die Ehre hatte, mit einem Philosophen zu sprechen, mit einem Dichter und Künstler, kurz mit einem gottbegnadeten Narren.

»Sein tut's halt so,« sagte der gesprächige Alte. »Auf dem Abend, wenn der Kohlenrabler einschlaft, wacht der Augustel auf. Und stehen sie schon alle um sein seidenes Bett herum, die Hosenanleger und Stiefelanzieher, die Salbenfräulein und Haarkräuslerinnen und die Bartstutzerinnen und Nagelschneiderinnen und die Mantelumhänger. Und nachher bringen mir sieben Diener das Frühstück, auf güldenen Schüsseln Sauerkraut mit Speck, aber es ist jetzt keine Zeit zum Essen. Zwölf Knaben mit silbernen Trompeten geleiten mich in den Thronsaal; setze ich mich auf den güldenen Stuhl, rücke mir die Kronhaube zurecht und hebe an zu regieren. Das ist ganz leicht, mein Mensch, die fürnehmen Leut' laß ich im Winkel und die armen Leut' kriegen Dukaten und Sauerkraut mit Speck. Und wenn sich gar wo ein Kohlenrabler zeigt, so winke ich ihn ganz zu mir heran und zeichne ihn aus. Denn mir selber ist es von einer Zauberin angetan worden, daß ich alle liebe Tage träumen muß, ich wär' ein armer alter Kohlenrabler. Da wartet eins nachher freilich zwicknotig, bis man heimkommt.[268] Alsdann nachher zu Mittag gehe ich zu meiner Familie, eine junge Frau, drei herzliebe Kinder, warten schon auf mich bei der großen Herrschaftstafel. Ich habe einen wahren Heißhunger, aber allemal, wenn ich die Gabel mit Sauerkraut und Speckgrammeln zum Munde will führen, finde ich die Gabel nicht oder muß kleine Kinder auf dem Arm halten, oder es ist die unrechte Schüssel. Und das ist ja mein einziges Elend, daß ich im Königsschloß nit und ewig nit kann dazukommen zum Sauerkraut. Dieweilen wird's kalt, es wird frisches gekocht und wie sieben Köche den Kessel, in dem der Speck noch brodelt, zur Tafel schleppen, ist's aus, ich lieg' auf dem Stroh und bin wieder der Kohlenrabler.«

»Altes Kind Gottes!« rief ich nun aus, »Sauerkraut mit Speck! Dazu muß sich der Mensch ja nicht gleich in ein Königsschloß hineinträumen. Das wird wohl auch für den Kohlenrabler noch zu erlangen sein.«

Blickte mich der Alte schweigend eine Weile an und sagte endlich: »Meinst du?«

»Wenn ich nicht irre, hat es gar in diesem Haus, in dem wir sitzen, Sauerkraut mit Speck gegeben, heut zu Mittag.«

»H at 's auch gegeben!« rief er lebhaft aus, »was hilft mir das! – Wenn ich's nimmer beißen kann. – Und Seine Majestät, der Augustel, kunnt's beißen, der hat noch junge Zähn'. Schau, mein Mensch, und der Augustel kann's nit derwarten und kann's nit derwarten!«

Gar geschmackig wußte er mir noch viele Einzelheiten seines nächtlichen Königtums zu schildern. Eine Nacht wie die andere träumte er davon und beim Einschlafen wußte er es so anzustellen, daß keine andere[269] Traumvorstellung ansetzen konnte, daß sein Königsleben dort einsetzte, wo es des Morgens zuvor unterbrochen worden war. Einmal geschah es, daß er vom Schloßfenster aus hinabstürzte in den Graben. Während des Fallens dachte er sich schnell: Nur jetzt geschwind aufwachen, sonst fallst dich tot und kannst morgen nicht mehr König sein. Ein anderes Mal war ein junger Ritter vorhanden und wollte seine Frau verführen. Wenn die Frau einverstanden ist, dachte er, so kann da einmal ein König auch nichts machen. Das Beste ist, geschwind munter werden und gleich wieder einen Tag Kohlen tragen, kohlschwarze Kohlen, morgen ist der falsche Ritter sicherlich verschwunden und ich habe wieder meine treue Gemahlin. Noch hübscher war's, als er einst einen goldenen Apfel verschluckt hatte, wahrscheinlich den Reichsapfel, daß er infolgedessen ersticken sollte und er sich geschwind in die Zunge biß, um noch rechtzeitig aufzuwachen. – So verstand er es, ein wahrer Traumkünstler, seine Träume zu leiten und zu wenden, daß er König war und blieb; aber so weit, bis zum Sauerkraut mit Speck, so weit brachte er es nicht. Da sieht man, daß der Mensch nicht einmal im Traume alles haben kann, was sein Herz verlangt.

Also hatte der alte Kohlenrabler mir seinen inneren Menschen gezeigt und denselben verglichen mit dem innersten Rohre seines Perspektivs, in welchem die »lichte Weltkugel« war.

Der Regen hatte aufgehört, die Nebel stiegen, die Berggipfel wurden klar, und ich machte mich auf die Wanderschaft. Allerlei Herrliches hatte ich noch gesehen an jenem Abende, und doch tat's mir leid, nicht beim[270] alten Kohlenrabler sitzen geblieben, nicht tiefer in das Königtum seines Augustels gedrungen zu sein. Vielleicht war auch nichts weiter dahinter. Der Alte hatte mich aber darum besonders angemutet, weil ich schon mehrmals auf den Gedanken gekommen bin, ob es nicht am Ende eine Art Traumkunst gibt, die man ausnutzen könnte. So habe ich an mir selbst schon mehrmals die Erfahrung gemacht, daß man einen unangenehmen Traum biegen und wenden kann. Ich habe einen sehr leisen Schlaf, dabei aber lebhafte Träume. Und mitten im Traum habe ich manchmal das Bewußtsein, daß es doch nur ein Traum ist, dem man zur Not entfliehen kann, wenn es zu bunt wird. Schon vor dem Einschlummern kann man durch Gedanken und Vorstellungen einen ge) wissen Traum vorbereiten. Während des Traumes kommt es auch auf die Bereitwilligkeit an, mit welcher man in demselben verharrt. Ich erfreue mich zumeist sehr freundlicher Träume, so daß mir ein plötzliches Erwachen oft leid tut. Dann mache ich Licht, sehe nach der Uhr, mache wieder Nacht, lege mich aufs andere Ohr und versuche, den Traum dort anzuknüpfen, wo er abgerissen worden. Ost gelingt's. Vor kurzem sah ich im Traume aus Dämmerungen tauchend eine Gestalt langsam auf mich zukommen, sie war mit einem weißen Tuche verhüllt und grauenhaft anzusehen. Und da fiel es mir ein: denke nicht, daß es ein böser Geist ist, sonst ist's auf der Stelle einer, denke, daß es dein heiterer Sohn sei, der dich necken will. In demselben Augenblicke warf die Gestalt das Tuch ab und mein Sohn lachte mich an. – Und so, meine ich, liegt es teilweise in unserer Macht, Träume nach Belieben zu gestalten. Unser Wille,[271] wenn es ein starker ist, hat auch noch im Schlaf einige Macht.

Es gibt Traumgruppen. Sowie beim alten Kohlenrabler neben dem Königtum das Sauerkraut mit Speck stand, so gibt es in meinen Träumen selten ein Gewitter, in welchem neben dem Wege nicht ein weißgekleidetes Knäblein steht, das ein schwarzes Priesterbarett auf dem Kopfe trägt. Zu den wenigen meiner beklemmenden Träume zählt jener, in welchem die Scheunen meines Geburtshauses brennen. Die Flammen gebärden sich gerade nicht heftig, greifen aber immer näher heran gegen das Wohnhaus. Und nun kommt mir der wohl aus Erfahrung früherer Träume geschöpfte Gedanke: Wache rasch auf, sonst brennt auch das Wohnhaus nieder! Und ich werde wach. Dann trachte ich wieder einzuschlummern, den Traum weiter zu spinnen und eine ungefährliche Feuersbrunst zu beobachten. Auch existieren in meiner Traumwelt drei rote Katzen, die immer am Brette nagen, auf dem ich stehe. Dieses Nagen tut mir sehr wohl, ich fühle es wie ein Streicheln an meinem Haar. Nun weiß ich aber während dieses Gefühls, daß, wenn das Brett durchgenagt ist, ich in eine unendliche Tiefe stürze. Daher trachte ich beizeiten, sobald die roten Katzen auftauchen, sie mit einem Schrei zu verjagen. Dadurch erwache ich, der Schrei gellt aber noch lange unheimlich in mir nach und ich darf eine Weile nicht einschlummern, sonst sind die Katzen auf der Stelle wieder da.

Es gibt Traumepochen. Ich hatte eine Reihe von Jahren, in denen mir der Traum immer nur meine damals schon lange vergangene Handwerkerzeit vorführte.[272]

Dann kamen Jahre, in welchen ich jede Nacht die verdammte Schulprüfung ablegen sollte, trotzdem ich mir bewußt war, rein gar nichts zu können. Solche Schulprüfungen sind die schlimmsten Feinde des schlafenden Menschen! Heute träume ich häufig, am Vorlesetisch zu sitzen, das Publikum auf mich warten zu sehen und im Buch trotz alles Blättern das richtige Stücklein nicht zu finden. Das ist eine Qual, so sehr ich mir auch sage: Mache dir nichts draus, lasse das Publikum warten und schlafe, denn es ist doch nur ein Traum! – Das Ding ist schwer von der Seele zu schütteln. Es soll mir aber auch noch gelingen, man muß sich nur üben in der Kunst, angenehm zu träumen.

Mein alter Kohlenrabler ist beim Tage Kohlenrabler und bei der Nacht König. Schon seit Jahren, wie er mir vertraut. Er soll sich in sein Königtum so sehr hineingelebt haben, daß er den Kohlenrabler für die Traumgestalt hält. Und recht hat er. Wissen wir anderen es denn besser? Traum dies, Traum das, Traum hier, Traum dort. Glückselig der, welcher entweder so oder so zu seinem Sauerkraut mit Speck kommt.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 264-273.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit - Zweiter Band [Reprint der Originalausgabe von 1914]
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon