Die Winternacht auf dem Stuhleck.

[88] Unsere Alpenhöhen werden nachgerade gemein. Sie halten sich nicht rein genug. Man sucht da oben die Erhabenheit und findet die Lächerlichkeit. Bäuerliche Kellner im Stadtfrack und Städter im Bauernrock; städtisch kokette Senninnen und ländlich ungezogene Stadtherren – allerlei Ungereimtheiten, Niedertracht, die zur Höhe steigt, Naturfreude, die sich erniedrigt. Die Natur hat ihr Recht und die Kultur hat ihr Recht, aber wo sich Ländlichkeit und Stadttum in wilder Ehe zusammentun, gibts Gemeinheit.

Nun werde ich etwas aus der Zeit sagen, da wenigstens die Winter noch groß gewesen sind auf den Bergen. Einmal habe ich dort oben den Göttern ins Angesicht geschaut, doch nicht aus Vorwitz. Ich suchte in den Wildnissen des Eises und des Gesteines ein in Verlust geratenes Kind. – Damals, als ich den Christmonat bei einem Freunde in Spital am Semmering zubrachte. Die kurzen Tage verlebten wir auf dem Schlitten und glitten durch das Alpental oder fuhren zum Semmeringsattel hinan, um ins schöne Österreicherland und in die Flächen Ungarns hinauszuschauen, oder wir frönten dem lustigen Eisschießen. Die langen Abende verbrachten wir in der Stube bei heiteren Gesprächen, Spielen, guten Zigarren und freundlichen Frauen. Derlei Dinge machen die langen[89] Abende sehr kurz und es war oft schon gegen Mitternacht, als ich in meine Schlafkammer ging. In dieser Kammer wurde ich einmal zur Nacht plötzlich aus dem Schlafe geschreckt. Draußen auf dem Wege, der am Hause vorbeiging, war Lärm, ein lautes Durcheinanderreden von männlichen Stimmen und Fackelschein drang durch das Fenster und zitterte in schiefen Tafeln auf der Zimmerdecke dahin. Als der Auftritt vorbei war, rief ich in die untere Stube hinab, wo mein Freund und Gastherr schlief: was es draußen gegeben habe?

»Ja,« gab der unten mir zur Antwort, »einen Schulknaben suchen sie. Der ist gestern nach der Schule in Verlust geraten, sechs Jahre alt, wird sich verirrt haben. Soll gegen den Kaltenbach und Stuhleck hingegangen und seitdem nicht mehr gesehen worden sein.«

»Dummer Junge,« brummte ich und kroch wieder unter die Decken. Mir ward darunter aber nicht mehr behaglich und nach einer Weile rief ich wieder in die untere Stube hinab: »Schläfst du schon?«

»Nein,« sagte mein Freund.

»Du,« rief ich, »drin im Kaltenbach stehen ja ein paar Häuser.«

»Ja, die stehen.«

»Der Knabe wird doch so vernünftig gewesen sein und in einem derselben zugesprochen haben.«

»Das glaube ich auch,« lautete die Antwort, dann waren wir wieder still.

Doch mit dem Schlaf war's vorbei. Ein verirrter Knabe und eine Winternacht, und eine trostlose Mutter und etliche Menschen, die mit Fackeln in den Weiten umhersteigen und rufen – vergebens rufen, das sind[90] Gedanken, die am Bette rütteln, an der Decke zerren, im Kopfe wühlen und sich ins Herz bohren.

Ich sprang aus dem Bette und rief in die untere Stube hinab: »Ich will suchen helfen, gehst du mit mir?«

Keine Antwort.

»Wach' auf!« schrie ich. In der unteren Stube blieb es still, mein Freund war schon fort.

Rasch zog ich mich an, faßte meinen Bergstock und ging davon.

Es war etwa zwei Uhr, die Nacht war finster und das Prickeln auf meinen Wangen und an meinen Händen sagte mir, daß es schneie. Aus der Schlucht, der Kaltenbach genannt, gewahrte ich ein paarmal das Schimmern der Fackeln. Dem eilte ich nach und erreichte einen Mann, der eine Laterne trug und Decken bei sich hatte, im Falle der Kleine halberfroren aufgefunden werden sollte.

»Wem gehört denn das Kind?«

»Wenn es hin ist, so tu' ich mir was an,« sagte der Laternträger.

»Also gehört es Euch?«

»Nein!« rief er, »aber meine Dummheit ist schuld.« Und etwas später erzählte er: »Ich bin beim Rochusberger der Knecht. Der Knabe ist das Kind von unserer Magd Christiana, die es im vorigen Herbst aus Rettenegg mit herübergebracht hat. Sind gebürtige Retteneggerleut'. 's ist aus der Weis', wie dieser Bub an seiner Mutter hängt, freilich sonst hat er niemand auf der Welt und im Haus wird er auch nur so herumgeschuntmelt; am allerbesten aufgehoben ist so ein Wesen gerad' zu sagen in der Schul'.«

»Das ist richtig.«[91]

»Wie er von der Schul' heimkommt, ist seine erste Frag' allemal: Wo ist meine Mutter? So auch gestern nachmittags; ich bin vor der Stalltür just im Streuhacken, kommt er dahergetrippelt: Wo ist meine Mutter? So ein dalkert Fragen da! Wo wird sie denn sein! sage ich ärgerlich, denn ich habe just meinen Zahnwehtag. Ins Rettenegg ist sie hinübergegangen, kommt nimmermehr zurück. – Er schaut mich an, steht ein Randel (ein Weilchen) da und schaut umher – und ist nachher weg. Steht darauf nicht lang an, schaut seine Mutter, die Christiana, bei der Stalltür heraus: Ob das Franzerl nicht wäre dagewest? Ja, sage ich, wird ins Haus gegangen sein. Wie wir aber später zu der Jausenmilch ins Haus gehen, ist kein Franzerl da. Sein neues Lodenjöppel ist auch weg. Der Christiana schmeckt die Milch nicht, sie schaut zu allen Fenstern hinaus. Ich gehe um den Hof herum und schrei nach dem Knaben; da sagt mir eine Nachbarin, sie hätte das Franzerl vor zwei Stunden gegen den Kaltenbach hineingehen sehen. Jetzt ist die höchste Zeit, daß ich's sag', denke ich, wenn er etwan meinen Spaß für Ernst gehalten hat. Unser Bauer schickt gleich ein paar Knechte aus, aber der Christiana haben wir noch nichts merken lassen und hat es geheißen, der Junge ist bei anderen Knaben unten auf dem Eisschützenplatz. Im Finstern kommen die Knechte zurück: sie hätten im Kaltenbach seine Spur verloren und wüßten nicht, was anfangen. Jetzt ist schon die Christiana da – ganz ruhig und kernfest, hätt's meiner Tag nicht vermeint, daß dieses Weibmensch so sein könnt' – und sagt, sie verlange, daß alle Männer vom Spitalerdorf ausgehen, den Knaben zu suchen, und sie[92] geht voraus in den Kaltenbach. Da ist's schon lang finstre Nacht. – Der himmlische Vater geb's, daß wir ihn beim Leben finden!«

So hat's der Knecht des Rochusberger erzählt, und wir gingen weiter und weiter. Im Geleise des Schlittweges, auf welchem schon eine Schichte neuen Schnees lag, sahen wir beim Schein der Laterne die Fußspuren derer, die uns vorangegangen waren. Auf freien Blößen, wo in den vorhergegangenen Sonnentagen der Schnee festgebeizt worden war, trug uns seine Decke auch neben dem Wege, wozu ich bemerkte, das sei gut, weil wir nach Belieben herumsteigen könnten, und wozu mein Begleiter sagte,. das sei nicht gut, weil der Knabe vielleicht nicht auf dem Wege geblieben sei, sondern über den tragenden Schnee hin abgelenkt haben könne, so daß wir jetzt gar keine Mutmaßung hätten, wohin er gegangen ist.

»Weiß der Franzel den Weg nach Rettenegg?«

»Den kann er wissen, weil er im Spätherbst mit seiner Mutter auf demselben herübergekommen ist.«

»So wird es sein, daß er nach diesem Wege fortgegangen ist.«

»Jesus und Maria!« rief der Knecht, »dieser Weg geht ja über das Gebirge. Das wäre gar keine Möglichkeit jetzt in diesem Schnee!«

Ich kannte das Gebirge wohl, es war das hohe Stuhleck mit seinen steinigen Kuppen und stundenweit hingestreckten Almen. Im Sommer ist auf diesen Höhen viel Leben; Halter und Senninnen, Jäger und Touristen; für letztere ist nahe an der Spitze des Stuhleck ein Schutzhaus erbaut worden; aber die Bauernburschen, die eifersüchtig auf ihre Almerinnen sind, haben den[93] Städtern das Bergnest wieder zerstört. Auch die Jäger sind keine Freunde der Touristen, weil die das Wild verscheuchen; der Bauer wieder fürchtet, daß die müßigen Alpengeher in seinen Schwaighütten allzuviel unbezahlte Milch und Butter verzehren – und so ist ihnen das Touristenhaus gut weg. Das ändert aber nichts an der Luft, die zur Sommerszeit auf den Höhen herrscht. Selbst dem Wanderer, der auf dem fünf Stunden langen Weg zwischen Spital und Rettenegg geht – und mag's ihm noch so kümmerlich zumute sein-ihm wird leicht, wenn er auf der Höhe ist und hinschaut über die von Gesang und Rinderglocken umklungenen Almen, über die fernen Felsen, wenn er niederblickt auf die weiten, von glitzernden Wassern durchzogenen Täler, wo die Menschenwohnungen sind, die so viel Kümmernis bergen, und die von Höhen aus gesehen so friedlich daliegen. –

Solche Erinnerungen zogen durch meine Seele zur Stunde, da wir nächtig dahinschritten. Der Kaltenbach graben ist lang; das Wasser, welches vom Gebirge niederkommt und in den sommerlichen Tagen so betäubend hinbraust, war streckenweise verhüllt unter Schnee und Eis. Die Stege, die darüber hinführten, waren schlüpferig, so daß es keiner der Suchenden unterließ, unterhalb derselben mit seinem Lichte in den Bach zu leuchten. Wir trafen mit mehreren Männern zusammen, keiner hatte vom Knaben eine Spur entdeckt.

In einer der letzten Hütten des Kaltenbachs – wir weckten die Leute – wußte uns ein Weib zu erzählen, daß es Tags zuvor, gerade schon ums Dämmern, an der Rabenwiese, die sich vom Tale gegen das Stuhleck hinaufzieht, und über welche der Steig nach Rettenegg führt –[94] daß es auf dieser Rabenwiese ein schwarzes Pünktlein gesehen hätte, welches sich ein wenig nach aufwärts bewegte. Das Weib habe noch ein Randel hingesehen und sich gedacht, was das denn sein könne? für einen Menschen wäre es zu klein und für einen Raben zu groß. Es wäre dann finster geworden und sie hätte nicht meiter mehr dran gedacht.

»Das ist der kleine Franzel gewesen!« sagten nun die Leute. Wir mußten auf den Berg. In meinem Leben sind mir auf einer Alpenpartie die Füße nicht so leicht gewesen, als diesmal. Die Wege waren verschneit, aber der Schnee war hart und trug uns. An den Hängen liefen wir Gefahr, abzurutschen, wir mußten unsere Stiefelabsätze mit Gewalt in den gefrorenen Schnee stoßen.

»Hier kann der Knabe ja nicht hinausgekommen sein,« meinte ich.

»Zur Tageszeit und früh abends ist der Schnee nicht so hart,« belehrte mein Begleiter, »da klebt die Sohle daran und man kommt vorwärts.«

So gingen wir weiter und kamen rascher vorwärts, als wir gedacht hatten. Die Steine und das Gestocke waren verlegt, die Schluchten von Schnee überbrückt. Ost standen wir still und riefen den Namen des Knaben. Auch an gegenüberstehenden Bergen riefen Leute nach dem Vermißten – aber es war keine Antwort und keine Spur.

Als wir bis zu den Spitaler-Almhütten emporgekommen waren, wurde der Nebel, der uns eingehüllt, grau, so daß wir die Laterne auslöschen konnten. Die kleinen Hütten lagen öde da, halb vergraben im Schnee, und wie[95] wir durch die Fensterlücken bemerken konnten, lag auf dem Tische, auf dem Herde der Schnee und ein paar Töpfe auf dem Schrank hatte der Frost gesprengt.

Wir eilten weiter. Der Schnee wurde lockerer, aber stellenweise auch seichter und unsere gefrornen Stiefel klangen, so oft sie an einen Stein schlugen. Als der Nebel licht geworden war, standen wir an der Ruine des zerstörten Alpenhauses. Alles tot und starr. Ein scharfer Wind peitschte durch den Nebel und jagte Schneeflocken hin und her, und im Aufwirbeln des Gewölkes war es, als sollte zur Morgenstunde eine neue Nacht anbrechen.

– Ins Tal kommt jetzt vielleicht ein Sonnenstrahl, aber auf den Höhen bauen sich die Festen des Schnees, um die Felsriffe branden die Winde, und wenn in den Wolken schon keine Flocke mehr ledig ist, so fahren die Winde in die lockeren Massen, und wirbeln sie auf hoch über die Wände, daß sie diesen Schnee noch einmal und immer wieder als Flockenstaub niederschleudern können. Doch auch der Nebel waltet seines Amtes, er sammelt die Feuchtigkeit in allen Tälern, Schluchten und wo er sie findet, und braut und preßt und münzt daraus die wunderbaren Gebilde der Flocken und weht sie hin, emsig und nimmermüde, auf die einsamen Höhen. Die Tiere, die laufenden wie die fliegenden, haben sich geflüchtet niederwärts gegen schützende Wälder, die Nähe des feindlichen Menschen ist ihnen lieber, als das öde Schneeland, wo alles verdeckt und vertilgt ist. Wo der Wind den Boden kahl gelegt, da hat der Frost die schwarze Erde versteinert und es scheint, als ob Keim und Lebenskraft für alle Zeit vernichtet sein sollte. Eine urgewaltige Herrschaft ist auf hohen Bergen, gegen welche keine Menschenmacht[96] siegen kann, eine Gewalt, die ewig mit der Sonne kämpft, im Frühjahre unterliegt, im Spätherbste wieder siegt und dann ihr Leben aufschlägt dort oben. Mit dem Maßstabe der Jahrhunderte und nach den Botschaften der Geschlechter ist es zu messen, wie das Reich des Eises immer weiter vordringt und niederfließt gegen die Wohnsitze der Menschen. Es wird der große tote Winter kommen; das Schneegestöber wird in dem Maße aufhören, als die Niederungen erstarren; die Menschen werden dem Äquator zugedrängt, und im hohen Afrika, dort, wo heute die Sonnenglut jedes Hälmchen der Sandwüste verbrennt, wird der letzte Mensch von – Eisbären getötet werden.

Solch unbeschränkter Herrschaft trachtet der Winter zu, und die Alpen sind es, die er sich für unsere Jahrtausende zum Kampfplatze erkoren hat, und unsere langen Dezembernächte sind es, in denen da oben bei den Bergkuppen, Felshörnern und Gletschern eine M acht waltet, von der die Bewohner des Tales oder der Ebenen draußen keine Ahnung haben. Das Meer gehorcht den Stürmen des Ozeans, es ist ein Sichergeben des fügsamen Elementes; aber die Steinriesen der Berge trotzen dem Sturme, ragen, von feindlicher Gewalt umbraust, in finsterer Starrnis da, und die unbändigen Kräfte der Luft, die den Ozean vor sich hertreiben, zerschellen an den Felsen der Berge. Dieses ewige Gebrochenwerden und doch in ewiger Gewalt fortrasende Element der Winterstürme ist das Große, Erschütternde und Erhebende fürs menschliche Gemüt.

Den Felsriesen wird erst der Frühling gefährlich, and die Sonne, die das in den Klüften ruhende Eis[97] schmilzt und eine von Jahr zu Jahr wiederkehrende Sprengarbeit verrichtet, wird solchergestalt als Zerstörerin der Schutzwälle eine Verbündete ihres eigenen Feindes, des Winters.

Freilich gibt es auch im Dezember und Januar Tage, da die Niederungen in Dämmerung und Nebelfroste schauern, während die Höhen, welche wie Inseln aus dem Nebel ragen, sich des blauen Firmamentes und seines Sonnensternes freuen. Für Bergwanderer wären solche Tage noch gefährlicher, als jene des Frostes und der Stürme, weil unter den Füßen der Boden bricht. Mancher schon ist, verschlagen vom Sturm, verirrt im Nebel, in den Abgrund gestürzt; aber häufiger gehen Menschen zugrunde, weil der sie bisher getragene Schnee unter ihren Füßen allmählich anfängt einzubrechen; sie arbeiten sich noch eine Weile weiter, mühen sich ab, die Kräfte schwin) den, sie haben das Bedürfnis nach einer kurzen Rast, der weiche Schnee wird dem hinsinkenden Körper zum bequemen Ruhekissen, sie schlafen ein, da kommt der Frost – und sie werden nicht mehr wach.

Wo unentbehrliche Pfade über das Gebirge ziehen, da hat man als Markzeichen hohe Stangen gepflanzt, die dem Wanderer die Richtung des Pfades andeuten sollen. Aber es gibt Stellen, wo man die längsten Stangen nicht sieht, weil sie aus dem Schnee nicht hervorragen. Man kann sich die Unmassen des Schnees denken, wenn in mancher Mulde noch im Juli und August so große Schneefelder liegen, daß Alpenunkundige Gletscher aus ihnen machen können. –

Der Pfad, welcher von Spital nach Rettenegg führte, war nicht mit Stangen bezeichnet, weil derselbe zur[98] rauhen Jahreszeit überhaupt nicht begangen wurde. Es vergingen die Wintermonate, ohne daß auch nur ein Mensch auf diese Höhen kam. – Mein Begleiter und ich standen nun allein mitten in dem Schneegestöber, welches uns in Dunkelheit und seine Flocken einhüllte und ganz so tat, als sollten wir in kürzester Zeit begraben sein unter dem Schnee, so wie das Zirmgesträuche begraben war, ohne daß auch nur ein Zweiglein an die Oberfläche ragte. Keiner der Suchenden war uns bis zum hohen Stuhleck hinan gefolgt und mein Begleiter sagte jetzt, es sei ganz unmöglich, daß der Knabe hierher gekommen wäre. Er habe, wenn er schon nach Rettenegg gehen wollte, sicher eine ganz andere Richtung eingeschlagen, denn so viel er – der Knecht des Rochusberger – sich erinnere, sei an jenem Herbsttage die Christiana mit dem Knaben spät in der Nacht von Rettenegg nach Spital gekommen; wenn sie auch noch bei Sonnenschein aufs Stuhleck gekommen wären, so hätten sie doch den Weg abwärts und durch den Kaltenbachgraben im Finstern machen müssen.

»So ist der Weg dem Knaben vollständig fremd,« meinte ich.

»Das wird sein,« sagte der Knecht.

Mit Mühe fanden wir in dem von Minute zu Minute wilder werdenden Gestöber den Rückweg, mit Mühe und Gefahr erreichten wir den Kaltenbach. Der flaumige Schnee ging uns stellenweise bis an die Hüften, es war schon Mittag, als wir erschöpft in Spital anlangten. Wir hatten gehofft, daß der Knabe mittlerweile aufgefunden worden sein würde. Aber die Leute waren unverrichteter Dinge zurückgekommen und einige[99] derselben waren, nachdem sie sich ein wenig gestärkt hatten, wieder davongegangen, um den Vermißten zu suchen.

Die Christiana hatte sich bereits auf den weiten Umweg über das Mürztal und den Alpsteig gemacht, um Rettenegg zu erreichen und dort nach einem – wie die Leute sagten – Unmöglichen zu fragen, ob ihr Kind nicht angekommen wäre? Und auf diesem Wege, mitten in den Wäldern des Alpsteigs, ist ihr der Bote aus Rettenegg begegnet. Der wollte nach Spital zum Rochusberger und berichten, daß in der vorigen Nacht der sechsjährige Knabe der Magd Christiana mitten in Schnee und Wind mutterseelenallein in Rettenegg angekommen sei. Er hätte an der Tür des Ziehhofers geklopft, wo die Christiana vorigjahrs im Dienste gewesen, er hätte nach seiner Mutter gefragt und dann sei er, bevor die Leute des Ziehhofers noch ein Wort von ihm herausbringen konnten, umgesunken und eingeschlafen. Morgens, als der Bote fortging, habe der Knabe in dem ihm bereiteten Bette noch geschlafen.

Hierauf ging der Bote nach Spital, zu sagen, daß sie nicht mehr länger suchen sollten; die Christiana eilte nach Rettenegg, wo sie spät abends ankam. Der Knabe schlief noch immer, aber sein Atem ging ruhig und seine Wangen waren leicht gerötet. Jetzt erst sing die Magd an zu weinen, und weinte so heftig und heiß, daß die Leute an sie herantraten und zu beruhigen suchten, aus Besorgnis, sie würde vor Aufregung erkranken. In der Angst, im bittersten Herzweh war sie still gewesen, schien gefaßt und ergeben, jetzt im unermeßbaren Glücke ob des wiedergefundenen Kindes brachen die Gewalten durch.[100]

Am drittnächsten Tage kamen Mutter und Kind über den Alpsteig und Mürzzuschlag wohlbehalten in Spital an. Der Knecht des Rochusberger soll vor der Christiana niedergekniet sein und ihr seinen ganzen Jahr) lohn angeboten haben für die Angst, die er ihr durch seine »Unsinnigkeit« gemacht. Sie sagte: das wäre mit Gut und Geld nicht zu zahlen, aber sie habe ihr Kind wieder, und so sei alles vergessen.

Wir alle gingen, den Knaben anzusehen – es war ein sehr schöner, aufgeweckter Junge. Als wir ihn fragten, wie er denn nach Rettenegg hinübergekommen sei, antwortete er, er sei hinübergegangen.

»Auf welchem Wege?«

»über den hohen Berg, wo mich die Mutter einmal herübergeführt hat.«

»Kind! Und hast du den Steig gefunden? Bist du denn nicht über die Felsen gestürzt?«

»Ich habe nichts gesehen, es ist finster gewesen.«

»Und bist du denn nicht erfroren?« rief der Rochusberger.

»Ich bin schnell gegangen.«

»Und hast uns nicht schreien gehört?«

»Es ist der Wind gewesen.«

Weiter wußte er nichts anzugeben.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 88-101.
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