Als ich eine Schlacht gesehen.

[339] Die Zeit war der 24. Juni 1859, ich ein Bursche von sechzehn Jahren. Burschen von sechzehn Jahren streifen bisweilen im Walde umher, ohne selbst zu wissen warum. So streicht im Mai der Blütenstaub der Föhre...

Ich ging durch dunkeln Wald der Lichtung entgegen, und als ich in der Lichtung stand, wieder in die Dunkelheit des Gestämmes hinein. Dort war mir's zu wenig hell, hier zu wenig finster. Eine große Wildnis wollte ich um mich haben, eine Wildnis, wie sie in der Geschichte von der heiligen Genoveva stand. Die Bäume sollten uralt und wüst sein, vom Sturme zerrissen, vom Blitze gespalten; der Boden sollte bedeckt sein von wildem Gestein und Gesträuche, Wunderpflanzen darunter, Früchte, die den Menschen verzaubern und zu dem machen, was er sein will. Was ich damals sein wollte, das wußte ich freilich nicht; vielleicht ein Eidechschen, das die Klüfte und Höhlungen des Gefelses durchgleiten konnte; vielleicht ein Fröschlein, das in die Tiefe des Waldwassers tauchen konnte: vielleicht ein Eichhörnchen, das auf den Wipfel des höchsten Fichtenbaumes klettern konnte; vielleicht eine Wildtaube, die über den Wald in sonnigem Schimmer hinfliegen konnte; vielleicht ein Geier, der die Wildtaube fressen konnte. Nur kein sechzehnjähriger Junge sein, außer es wären die Erdbeeren[340] schon reif. Oder auch vielleicht ein Falke, der vom Baumwipfel aus einen Lug ins Land machen kann, einen Lug ins Leben, das anders ist... Einstweilen suchte ich nach Erdbeeren. Und wäre dabei schier über einen Ameisenhaufen gestolpert. Ich schritt dann den glatten Sandweg hin, der zwischen den Fichtenbäumen auf der Hochebene des Berges entlang zog, und auf welchem einige Wochen früher wieder die fremden Völkerscharen nach Mariazell gewallt waren. Es war zur Nachmittagszeit, aber es war nicht sonnig und es war nicht schattig; der Himmel hatte sich, so viel mir noch im Gedächtnis ist, mit einer leichten weißen Schicht überzogen. Einmal stand ich still und horchte. Mir war zu hören gewesen, gerade als ob in weiter Ferne ein Kanonenschuß gedonnert hätte. Es war ja Krieg in Italien und auf dem Kirchplatz zu Krieglach war zur selben Zeit ein großes Papier an die Wand genagelt, auf welchem der Kaiser seine Völker rief, das Vaterland zu schützen. Etwa hatten unsere Soldaten verspielt und der Feind kam schon ins Steierische herein.

Des weiteren blieb es still auf der Bergeshöhe; ich schritt fürbaß und in jener religiösen Stimmung, in welcher ich mich damals so häufig befand, dachte ich darüber nach, ob denn der Welsch wohl auch ein Christ sei und ob – wenn zwei Christenvölker miteinander Krieg führen – sich nicht der Papst zu Rom ins Mittel legen solle, und wenn er mit Gütigkeit nichts ausrichte, Bannstrahlen werfen möchte über die Aufrührer.

Mein Philosophieren fand ein rasches Ende; vor mir am Wege auf einem erhöhten Stein hockte Marianne Schober, ein Mägdlein, mit dem ich in Zwist lebte. Sie war so viel trotzig geworden – und als ich das gemerkt, war ich's auch geworden. Wir kamen nicht selten zusammen – wir[341] riefen uns gegenseitig was zu, und sagte ich »ja«, so sagte sie »nein« und meinte sie »weiß«, so behauptete ich »schwarz«.

Die hockte nun auf dem Stein und rief mir zu: »So klotz' (trotte) doch nicht just auf den Tierlein daher! Siehst es denn nicht?«

Ich blickte zu Boden – er war ganz braun vor lauter Ameisen. Sogleich wollte ich auf die Seite treten – aber nein. Gerade weil sie's nicht will, trete ich die Tierlein zusammen.

Sie kehrte sich nicht weiter dran, sondern sagte: »Meiner Tag hab' ich so was nicht gesehen, meiner Tag nicht. Raufen tun sie miteinander und umbringen tun sie sich, daß es ein Graus ist.«

Jetzt wurde auch ich aufmerksam. So weit man auf dem Wege fortsah, war er voll brauner Ameisen und dort, wo die Marianne hockte, begegneten sie sich und schlachteten einander ab. Wunderbar war es und unbeschreiblich ist es.

Es waren die Völker von zwei Ameisenhaufen, die, wie ich später sah, mehrere hundert Schritte voneinander entfernt lagen. Der eine war am Fuße eines Lärchenbaumes, der andere mitten im Heidekraut hoch geschichtet. Beide waren verödet, denn die Bevölkerung mochte zum Teile in den Tiefen der Wohnungen verkrochen sein, zum größten Teile war sie auf dem Felde, stand in Waffen. Die Aufregung und das hastige Hinundherrennen war ganz großartig, die Wut, mit der sie sich anfielen, fürchterlich. Hunderte von Toten, Zerrissenen lagen auf dem Boden. Hunderte von kämpfenden Gruppen belebten die Walstatt. Die Ameisen verfolgten einander, sprangen eine auf die andere, umklammerten sich, wälzten sich kämpfend auf dem[342] Boden oder standen aufrecht wie ringende Menschen. Viele suchten die Feindin durch Gift (Ameisensäure) zu betäuben oder mit den Beinen ihr den Hinterleib vom Vorderleib zu reißen oder ihr mit der Lanze des Fühlers den Kopf zu durchbohren, oder sie mit den Kiefern totzubeißen. Am häufigsten waren zwei fest aneinander verklemmte und mit ihren Kiefern verbissene Feinde. Beide getötet lagen sie noch so und waren sie von den anderen gar nicht mehr auseinanderzubringen. In Ketten von sechs bis zwölf Ameisen waren sie aneinandergeklammert. Manche fielen sich wütend an, ließen aber sofort wieder los – das mochten Freunde sein, die sich in der Hitze des Gefechtes nicht gleich erkannt hatten. Ich entdeckte keinen Unterschied zwischen den Ameisen der beiden Heere – aber sie mußten ihre Leute wohl kennen; daß einer den Freund getötet hätte, schien nicht vorzukommen, wenigstens fuhren sie mit großer Entschiedenheit nur auf Bestimmte los, die Richtung, von welcher sie gekommen, war längst nicht mehr zu erkennen. Auch Gefangene wurden gemacht und dieselben mit einer gewissen Sorgfalt und Schonung ihres Lebens aus den Reihen der Kämpfer geschleppt.

Über die ganze Breite des glatten Waldweges hatte sich der Kampf ausgedehnt. Gegen den Rand hinaus lagen zwei Steine, zwischen welchen eine etwa zwei Zoll breite Gasse durchlief, die von Seitenflügeln beider Armeen fleißig als Durchgang benützt wurde, um ins feindliche Lager hinüberzugelangen. Plötzlich aber fiel es einem Teile ein, diesen abseitigen Durchweg zu verrammeln; etliche hundert Ameisen liefen wie auf Kommando aus der Schlachtordnung und huben an, Steinchen, Holzsplitter und dürre Fichtennadeln, wie sie auf dem Wege lagen, herbeizuschleppen, welche sofort wieder andere in Empfang nahmen, die damit im[343] Paß zwischen den deiden Steinen eine Barrikade bauten. Um so mörderischer entbrannte der Streit auf den anderen Linien; jetzt wich das eine Korps auf Spannbreite zurück, jetzt schien das andere weichen zu müssen – aber der Kampf blieb unentschieden.

Als wir eine Weile zugesehen und unsere Meinungen ausgetauscht hatten, wobei Marianne für die Heidelkrautarmee Partei ergriff, während ich es mit dem Lärchbaumheere hielt, sagte ich: »Gut, so wollen wir sehen, ob die deinen oder die meinen siegen.«

»Und wir werden es auch sehen,« antwortete die Marianne scharf, »die deinigen werden schön sauber davongejagt – siehst du, dort laufen schon ein paar – das sind lauter Traumichnit.«

»Oho!« rief ich, »die deinigen werden niedergestochen und aufgefressen. – Schau, wir saugen ihnen schon das Mark aus.«

»Weil ihr Schandvieher seid,« sagte die Marianne entrüstet.

»Harb' dich, wie du willst,« entgegnete ich, »wenn du verspielst, so werde ich dir schon eine Kriegslast auslegen.«

»Werd' sie auch tragen,« sagte sie trotzig.

»Wenn du verspielst, so mußt du mir dasselbig Ding geben, was ich am Philippitag haben hab' wollen.«

»Sollst es haben,« rief sie, »aber wenn du verspielst, da bin ich schon in Verlegenheit, was ich dir abverlangen soll; was ich möcht', hast du nicht, und was du hast, mag ich nicht.«

»Damit reißest du mir gar keinen Possen,« versetzte ich, »wenn nur ich meine Sach' krieg', die ich am Philippitag haben hab' wollen.«

So die Verhandlungen, während die Ameisen wacker[344] weiterkämpften. Der Himmel war düster geworden; jener Kanonenschlag, den ich früher gehört zu haben meinte, hatte sich wiederholt und war zu einem Donnern der Wolken geworden. Ameisen, die an der Schlacht nicht unmittelbar beteiligt waren, schienen über das Wetter einigermaßen unruhig zu werden, sie schlugen den Rückweg gegen das Nest ein. Aber andere liefen ihnen nach, betasteten die Flüchtlinge mit den Fühlern und brachten sie wieder in die Schlachtordnung.

Hie und da war ein Wurm, ein Käfer unter das Scharmützel geraten, er wurde über und über getreten, aber des weiteren geschah ihm kein Leid. Nur ein großer Hirschkäfer, der sich im Vollgefühle seiner herkulischen Gestalt, wie es schien, absichtlich mitten in den Kampf gewagt hatte, war rasch von Ameisen umringt, die ihn, mit ihren Lanzen stechend, mit ihrem Gift bespritzend, mit ihren Kiefern beißend davontrieben, bis er, so gut er's noch vermochte, das Weite suchte.

Eine Heuschrecke war von ungefähr auf das Schlachtfeld gehüpft; sofort schoß eine Ameise auf ihren Rücken und in demselben Augenblicke hüpfte der Springer wieder davon und entführte so einen Streiter vielleicht seinem Verderben.

Am traurigsten waren die sterbenden Ameisen zu sehen, die mit zermartertem Leibe, mit ausgerissenen Beinen langsam verendeten. Wohl wurden solche und auch die Toten möglichst bald vom Kampfplatze entfernt und gegen einen abgelegenen Ort, abseits vom Wege, hinter einen halbvermoderten Baumstrunk geschleppt, wo sie in gleichmäßigen Reihen zur ewigen Ruhe gelangten. – Bei einer anderen Gelegenheit war es, als ich sah, wie die Ameisen ihren Toten ein Grab ausgruben und sie in dasselbe verscharrten. Dazu war nun im Drange des Kampfes freilich keine Zeit.[345]

Wir, ich und die Marianne, hockten noch immer an beiden Seiten des Weges und sahen mit Staunen dem wilden Morden der kleinen Wesen zu. Ein seines Knattern war im Gewühle zu hören, und so oft ich näher hinhorchte, bekam ich einen Spritzer der scharfen Ameisensäure ins Gesicht. Also auch auf uns, die Ungeheuer, war ihr Augenmerk gerichtet, während sie das gar nicht hinderte, mit immer neuer Gier und mit immer neuen Mitteln auseinander loszustürmen. Um manches Stückchen Baumrinde, um manches Sandkorn drehte sich der Streit und manches Klötzchen Holz, manches Büschchen Moos wurde als Verschanzung benützt und auf Leben und Tod verteidigt. Ich war damals noch so sehr Ebenbild Gottes, daß ich das Tier bei weitem nicht zu meinesgleichen zählte, ich ergötzte mich daher baß an dem seltsamen Schauspiele, das mir der Waldweg darbot, ergötzte mich um so mehr, als ich endlich die Partei Mariannens immer mehr zurückweichen sah, so daß ich den vereinbarten Tribut mit Sicherheit zu gewärtigen hatte. Der eine Flügel der Unterliegenden löste sich bereits in eine wilde Flucht auf und die Meinen stürzten in Massen voran, um Beute zu machen – da hub es hoch in den Bäumen an zu rauschen und große Tropfen fielen nieder und schlugen manche der siegenden Ameisen in den Sand.

Ich erhob mich und verlangte von dem Trutzmädel die Sache, welche ich am Philippitag von ihm hatte haben wollen. Die Marianne riß zornig ihr Busentuch auf, zog ein Ding, das sie am Halse hängen hatte, hervor, warf es mir vor die Füße und lief davon. – Ein kreuzergroßes Messingblättchen, ein Amulett, das ich allerdings am Philippitag ein wenig gesucht haben mag. Ob ich das hatte haben wollen? Nun hatte ich es und der Wolkenbruch war auch da.[346]

Am anderen Tage hatte ich die Stelle der Schlacht wieder besucht; hatte keine einzige Ameise und nur wenige tote Körper mehr gefunden. Und an demselden Tage war der Gemeindebote mit dem Steuerbogen zu uns gekommen.

»Leut', ihr bringt einen um, mit den Steuern!« rief mein Vater aus.

»Nur Geduld,« antwortete der Bote, »sie werden schon noch wachsen. Telegramm ist da, gestern in Italien große Niederlage.«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 339-347.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit - Zweiter Band [Reprint der Originalausgabe von 1914]
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit

Buchempfehlung

Anonym

Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upanishaden. Indische Philosophie Band 5

Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upanishaden. Indische Philosophie Band 5

Die ältesten Texte der indischen Literatur aus dem zweiten bis siebten vorchristlichen Jahrhundert erregten großes Aufsehen als sie 1879 von Paul Deussen ins Deutsche übersetzt erschienen.

158 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon