Als ich ins Paradies ging.

[316] Noch nichts habe ich erzählt von Eustach Weberhofer. Das war jener jugendliche Mann, der – um wieder einmal zurückzugreifen – in den Fünfziger Jahren an einem Sonntagsmorgen in langem schwarzen Rock durch die Kirche von Sankt Kathrein schritt. Er hatte ein rundes wohlgefärbtes Gesicht, zwei kluge blaue Augen drin und quer über die Stirn das blonde Haar gekämmt. Er machte durch die Kirche würdevolle und ziemlich weit ausgreifende Schritte; seine Wanderschaft ging von der Sakristei, wo er dem Pfarrer das Meßgewand angezogen, nach dem Kirchenchore, wo er im nächsten Augenblicke, wenn der Priester zum Altare trat, schon an die Orgeltasten drücken mußte.

Das war der »Schulmeister«, wie man damals den Schulleiter oder den Oberlehrer noch nannte, im Gegensatze zum Unterlehrer, der kurzweg »Lehrer« hieß. Mir gefällt das Wort »Schulmeister« auch sehr gut, man braucht's ja nicht im Sinne wie Schuster- oder Gerbermeister zu verstehen; auch den großen Künstler nennt man Meister, und selbst die Jünger Jesu heben den Herrn »Meister« genannt. Mein Eustach Weberhofer hat sich gar nicht gekränkt darüber, daß die Bauern von Sankt Kathrein scharfweg »Schulmeister« zu ihm sagten, bekam er doch gerade als Schulmeister Zehent an Korn, Wolle, Butter und was so eben vorhanden ist. Wer oft »Schulmeister« sagte, der dachte auch oft an ihn, und das war ihm nicht zuwider.[317]

Mein alter Schulmeister Michel Patterer war damals schon Oberlehrer bei den lieben Engelein, denen er wohl die Noten lehrte, damit sie zu Weihnachten über dem Krippel vom Blatt weg das Gloria in excelsis Deo! singen konnten. Ich hatte schon allerlei Wissenschaften im Kopfe, kannte alle Buchstaben und wußte sie sogar derart zusammenzustellen, daß sie manchmal einen recht guten Sinn, manchmal auch einen schönen Unsinn gaben. Die zwölf Monate des Jahres wußte ich auch, wenngleich nicht der üblichen Reihe nach. Begriff nicht, weshalb so viel Aufhebens, wenn Juli und August im Winter kamen, waren doch unsere Dienstboten, die Julie und der August, auch im Winter gekommen.

»Dir ist der alte Schulmeister zu früh gestorben,« sagte einmal der Nachbar Thomerl, und an das dachte ich, als nun der Mann mit dem freundlichen Rundgesichte durch die Kirche schritt. Ich war zu jener Zeit ein manchmal recht ungeschickter Ochsenführer beim Ackern und da nun mein Wunsch, wieder in die Schule gehen zu dürfen, von der Mutter dem Vater unterbreitet wurde, sagte dieser: »Meintswegen soll er was Herrisches lernen, für die Ochsen ist er eh' zu dumm.«

Also sing ich an, nach Sankt Kathrein zum Eustach Weberhofer in die Schule zu gehen. Da ging's ein bissel anders zu wie beim alten Patterer! Erstens gab es Bänke wie in der Kirche; zweitens lichte Fenster, hinter deren schöngeflochtenen Eisengittern stets ein paar Holunderzweige fächelten; drittens hatte der Schulmeister nicht die lange Tabakspfeife in der Hand, sondern ein braungelbes »Staberl«, zum »Hosenausstauben«. Wer hätte gedacht, daß das freundliche Rundgesicht mit den blauen Augen so martialisch scharf dreinschauen konnte, wenn fünf und sechs – zwölf waren, oder wenn die sieben Sakramente mit[318] »erstens Hoffart, zweitens Geiz« anfingen! In meiner Nähe hat sich wegen Unfleiß oder Widerspenstigkeit manches Strafgericht vollzogen, mir geschah nichts. Ich war ein armes Hascherl aus dem Alpel herab, von dem nicht viel verlangt werden konnte, und wenn es sich um schwierige Fragen aus der Sprachlehre oder der Mathematik handelte, übersah er mich. Allerdings duckt man sich nach Tunlichkeit, aber doch wieder nicht so auffallend, daß es etwa eine gegenteilige, eine herausfordernde Wirkung üben könnte. Beim alten Patterer war von einer Sprachlehre gar keine Rede gewesen, vielleicht galt dort die Meinung, die Muttersprache müsse man von der Mutter lernen und nicht aus dem Buche. Einmal fragte mich hier zu Sankt Kathrein in der Religionsstunde der Pfarrer nach den vier letzten Dingen. Ich nannte sie auf das Verläßlichste, denn gerade über den Tod, das Gericht, den Himmel und die Hölle hatte ich oft meinen Schafen gepredigt von der Felsenkanzel auf der Hochweide. Mehr Erfolg als auf der Hochweide hatte ich mit den vier letzten Dingen hier. Der Katechet nickte mit dem Haupt und der Schulmeister sagte ihm leise und mit leichtem Zucken des Kopfes, das ihm beim Sprechen eigen war, einige Worte. Er verriet, daß ich jener Bauernbursch wäre, der Geistlich werden wollte. Der Pfarrer lachte und sprach, wie er die Welt kenne, seien, um studieren zu können, die zwei ersten Dinge besser, als die vier letzten. Wetten will ich, er hat mit den zwei ersten Dingen Protektion und Geld gemeint. Da diese Dinge nicht vorhanden waren, so führte ich nach wenigen Wochen wieder die Ochsen vor dem Pfluge her, eine Leistung, zu der die zweimonatliche Schule in Kathrein mich nicht wesentlich gefördert hatte.

Wenige Jahre später – hier wird wieder vorgegriffen[319] – saß ich nochmals in der Schulstube zu Kathrein, doch nicht mehr als gewöhnlicher »Trivialschüler«, sondern als jemand, der bereits einen gesellschaftlichen Rang einnimmt. Ich war Lehrling und besuchte die Sonntagsschule, welche in der Stunde zwischen dem Mittagsessen und dem Nachmittagsgottesdienste abgehalten wurde. Und da lernte ich den Schulmeister erst näher kennen.

Weberhofer war einer jener wenigen glücklichen Lehrer, denen man es ansieht, daß sie nicht am Bewußtsein eines verfehlten Berufes kranken, daß sie die Wichtigkeit ihrer Aufgabe erkennen und durch die Ausübung derselben befriedigt werden.

Menschlich näher rücken durfte ich ihm, als, nachdem er sich aus Birkfeld eine junge Frau geholt hatte, kleine Buben gekommen waren und als diese kleinen Buben Höselein brauchten und ich gerufen ward, mit Schere und Nadel dieses immerhin bescheidene Bedürfnis zu stillen. Da durfte ich bei Tische knapp an Seite des Schulmeisters sitzen, und nun merkte ich, daß er war, wie auch andere Leute, daß er lachen konnte und scherzen, daß er seinen herzigen Knäblein sogar die Höselein aufknöpfeln konnte, und zwar zu anderen Zwecken, als er das manchmal bei störrischen Schulbuben zu tun gezwungen war. Und in dem Maße, als er niederstieg, ließ er mich aufsteigen. Die Kirchenschlüssel vertraute er nur an und zu den Tageszeiten durfte ich am Turmstrick ziehen und die Glocke läuten. Und gar mancher in der Gegend, der spottend meckerte, so oft er des lustigen Schneiderleins ansichtig ward, zog nun vor meinem Läuten den Hut vom Kopf und betete. Und ich dachte dazumal, wie es doch das unsagbarste Glück sein müßte, eine hellklingende Glocke zu läuten, die man hören könne in weiten Landen.[320]

Der erste, der mich auf diesen Weg verwies, war also mein Eustach Weberhofer an jenem Tage, da er mir den Turmschlüssel in die Hand gab: »Peter, 's hat sieben geschlagen, geh' läuten zum Englischen Gruß!«

Es ist also kein Wunder, daß ich den Mann, vor dem ich bisher nur Ehrfurcht hatte, nun anfing, abgöttisch zu lieben. Daß er auch der erste war, welchem eines Feierabends, als er meinem Lehrmeister den Lohn ausgezahlt, einfiel: Der Lehrling dürfte auch ein Silberzehnerl vertragen, das betone ich allen Ernstes mit besonderem Nachdruck. Denn es war fast die einzige Ehrengabe, die ich während meiner Lehrjahre erhalten. »Trinkgeld!« sagen Leute, die nichts als an ihre Gurgel denken können. Nur meinen vertrauten Freunden gestehe ich's, wozu jener Erstling verwendet worden ist. Und weil du, lieber Leser, zu denselben gehörst, so wisse, daß ich mir von dem Zehnkreuzerstücke – Zeit gekauft habe. Wenn Zeit Geld ist, so wird Geld wohl auch Zeit sein können. Ich bekam für mein gutes Geld sechs Nachtstunden in Gestalt zweier Unschlittkerzen, bei deren Lichte ich lesen und schreiben konnte, eine Beschäftigung, für die am Tage keine Zeit war. Zwei Kreuzer bekam ich noch heraus und davon wurden Zwetschgen gekauft. Die nahm mir der Blaser Hansel hernach weg, und zwar aus zwei gewichtigen Gründen: erstens, weil er die Zwetschgen haben wollte und zweitens, weil er stärker war als ich. Und das ist der Rechenschaftsbericht über den ersten Silberling.

Alles währt nur eine Weile und auf einmal wurde der Herr Schulmeister abgerufen ins Paradies. Denn anders kann man die Gegend nicht nennen, die weit »unten auf dem Lande«, am Fuße des Kulm liegt, ein blühender, üppiger Obstgarten, so weit das Auge reicht! Puch heißt[321] das Dörfchen im lieblichen Hügelgelände, wohin Weberhofer versetzt wurde, und das war etwas anderes, als die kalten, steilen und steinigen Berge um Kathrein am Hauenstein.

Der Abschied war für mich nicht einmal aufregend, so ein unfertiges Menschenkind weiß ja gar nicht, was Scheiden bedeutet. Fast erstaunt war ich, als der Geschiedene nachher – nicht mehr da war. Im Schulhause und in der Kirche ging ein anderer Mann um, der einen großen Schnurrbart hatte wie ein Husar, im Schulzimmer oft so schrecklich polterte, daß im Holzschoppen draußen die Hühner aufflatterten, und der auf dem Kirchenchor mit den Musikanten so laut schrie, daß alle Andächtigen sich die Krägen umdrehten, um zu sehen, was da oben los sei. Und das war der neue Schulmeister.

Wie kam mir da das Verlangen nach dem alten! Zwar neun Fußstunden war es bis hinaus ins Pradies, und da reiste fast plötzlich der Entschluß, ihm nachzuwandern. Der Mathesel war auch dabei.

Der Mathesel war einer der Schulgenossen, ein ganz kleines Kerlchen, aber stramm und unternehmend. Sein Gesicht war voller Sommersprossen, auch im Winter, sein Haar mochte ihm die Mutter, ein Holzknechtweib, kämmen wie sie wollte, es stand borstig nach allen Seiten hinaus. Er verstand es trotz seiner kurzen Beine, ganz respektabel große Schritte zu machen, und wo es einen Graben zu überspringen, einen Baum zu erklettern, einem anderen Buben die Beine zu stellen gab, da war er der flinkeste und der fixeste. Leicht gereizt konnte er kratzen und boxen und beißen und würgen wie ein wildes Tier und selten gab es bei ihm einen Tag ohne Blutvergießen. Wir nannten ihn »das Löwerl«. Seine Eltern hatten mit dem[322] wilden Jungen nichts anzufangen gewußt und darum ihn in die Schule gegeben zum Eustach Weberhofer. Und das war dem Löwerl gerade recht, so flink wie im Wald über Stock und Stein sprang er über die Schulbänke, jeden Knaben rempelte er an, dem einen fuhr er mit seinen knochigen Fingern in die Haare, dem andern riß er das Halstuch los, den dritten warf er zu Boden und knortzte pfauchend auf ihm herum; dem Schulmeister, als der ihn darob einmal scharf zwischen die Beine nahm, riß er mit den Zähnen einen Fetzen aus der Hofe. Es war nichts mit ihm anzufangen. Ruhig und zahm wurde er nur, wenn's Musik gab. Wenn irgendwo ein Waldhorn klang, oder eine Klarinette, da horchte er auf; wenn der Schulmeister geigte, da war er ganz Ohr und konnte sein Auge nicht wenden von den kundigen Fingern, die Saiten und Fiedelbogen behandelten. Und eines Tages fragte der Schulmeister das Löwerl, ob es nicht Musik lernen wolle? Das Löwerl faltete die braunen Hände: »Bitt' gar schön, Herr Schulmeister!« Vor allem war er fürs Blasen; der Schulmeister schenkte ihm eine Klarinette, lehrte ihn die Noten und wie man am Instrumente mit Fingern oder Klappen die Löcher zu und auf tut. Der Junge packte es gar nicht ungeschickt an, hatte ein gutes Gehör und verstand sehr zarte und wohlklingende Töne hervorzublasen.

Und jetzt war's aus der Weise, den ganzen Tag hörte man das helle Gedudel einer Klarinette, einmal hinter dem Schulhaus, einmal unten auf der Wiese, einmal oben im Wald. Aus diesem verjagte ihn eines Tages der Jäger, denn das schauderliche Gepfeife verscheuchte alle Hafen. Am nächsten Tage traf das Löwerl mit dem Knaben des Jägers zusammen, da gab es Kampf; das Löwerl verbiß sich so wütig in des Gegners Jacke mit den Hornknöpfen,[323] daß es sich die zwei vorderen Oberzähne zuschanden biß. Und jetzt konnte der Junge nicht mehr Klarinette blasen. Der Jammer war grenzenlos; den Schulmeister dauerte er. »Du, Mathesel,« sagte er, »wenn du mir's versprichst, daß du nimmer raufest und wild bist, dein Lebtag nimmer, so probieren wir's mit der Geige.« Der Junge versprach's bei allen drei Gotten. »Oho!« sagte der Schulmeister, »wir haben nur einen, und wenn du mir's bei dem verprichst, so bin ich reichlich zufrieden.«

Also lernte der Knabe auf der Geige spielen, und um dieselbe Zeit wurde der liebe Eustach Weberhofer übersetzt nach Puch am Fuße des Kulm.

Der Mathesel, als er gleich mir sah, daß der fortgezogene Schulmeister nicht mehr da war, machte es kurz. Er nahm seine Geige und wanderte gen Puch. Ich ging mit ihm. Der Weg über Berg und Tal war uns fremd, doch weil er weiterhin eine breite Straße wurde, so verfehlten wir ihn nicht. Unterwegs, in der Nähe von Birkfeld, wurden wir hungrig. Der Mathesel stellte sich vor ein Haus und kratzte auf der Geige. Zuerst meldete sich drin ein Hund, bald darauf auch eine Katze und endlich ein Weibsbild. Dieses sprach ein äußerst abfälliges Urteil über das Ständchen, als es aber die zwei kleinen unschuldigen Büblein sah, die da heraußen standen, bis über die Knie hinauf weiß vor Straßenstaub, entspann sich zwischen diesen und der Hausbewohnerin eine kleine Unterhaltung, die in einem Topf Milch mit Schwarzbrot gipfelte. Hernach zogen wir wieder fürbaß, und der Mathesel war nicht wenig stolz darauf, sein Brot nun schon mit Musik verdienen zu können.

Gegen Abend kamen wir gegen das weltfremde Puch. Die Gegend war fast unheimlich vor lauter Herrlichkeit.[324]

Hin und hin lange Strecken waren wir sozusagen eingewölbt von Äpfeln, Birnen und Zwetschgen, die über uns auf den Bäumen hingen. Und zwischen den Bäumen durch, über Gärten, Bohnenranken, Kürbis- und Maisfelder her blauten die fernen Berge. Wir nahmen uns nicht Zeit, eine der großmächtigen »Melonen« zu kosten, die neben dem Wege, an kriechendem Geschlinge herumlagen, wir stürmten auf das Dörfchen ein und auf das Schulhaus. Das Schulhaus war ganz anders, wie jenes zu Sankt Kathrein, aber der Schulmeister und seine Frau und seine Knaben sahen hier genau so aus, wie dort. Sie waren nicht wenig erstaunt, als solche Gäste anrückten, wovon der Musikant sofort erklärte, er sei da und wolle dableiben. Die Einwilligung seiner Eltern hatte er auch mit, und so kam der Herr Weberhofer zu einem kleinen aber schneidigen Hauswaschel, der tagsüber Kuh und Ziege hütete und abends nach Noten die Geige strich.

Am nächsten Tage sing ich schon frühzeitig an, mich zu schämen. Alles andere war bei der Arbeit, der Schulmeister beim Buchstabieren, die Schulmeisterin beim Bohnenklauben, die Büblein beim Turmbau, den sie im Hofe aus Steinchen ausführten und das Löwerl beim Ziegenhüten. Ich allein lehnte beschäftigungslos umher und hatte Wahlweh, ob ich noch länger dableiben oder doch vielleicht wieder nach Hause wandern sollte. Dieser Zwiespalt wurde geschlichtet; nach dem Mittagsessen sagte der Schulmeister in seiner weichen aber nachdrücklichen Art: »Peter, willst heute nachmittag mein zweiter Knecht sein? Kraxen auf den Buckel nehmen, Korn tragen!«

Die Werbung nahm ich sofort an und nun stellte es sich heraus, daß – als ich sein zweiter Knecht wurde – er selber sein erster war. Denn gleich mir nahm er eine[325] »Kraxen auf den Buckel«, und wir huben an, in der Gegend umzugehen, von Bauernhaus zu Bauernhaus, wie sie zwischen Gärten, Schachen, Feldern und Wiesen standen. Der Schulmeister genoß damals noch einen Überrest des Zehnten, den der Bauer von Feldfrüchten, Obst usw. zu liefern hatte. Und so gingen wir jetzt aus zu dieser Erntesammlung. Zwei, drei Korngarben bekamen wir fast bei jedem Hause auf die Kraxen, dort und da auch etwas zu trinken. Am erfreulichsten war mir, daß der Schulmeister seinen »zweiten Knecht« nicht mehr wie einen Schulbuben behandelte, sondern ihn den Leuten als seinen jungen Freund aus Sankt Kathrein vorstellte. Es war ein heißer Tag, aber die Rasten waren gar nicht ersprießlich. Denn so oft wir in Häuser einkehrten und Apfelwein tranken, wurden unsere Kraxen voller und schwerer. Besonders schlimm war es in einem hinter dem Walde abseits gelegenen Höfel. Da gab's eine kleine runde Bäuerin, welche ein paar Dirnlein in die Schule schickte. Die war mir gleich zuwider. Sie schaute uns gar so treuherzig an und wischte sich alle Augenblicke mit der Schürze den Staub von den Händen, obschon keiner dran war, und trippelte so geschäftig hin und her und bewirtete uns mit Brot und Honig. Der Schulmeister mußte mich erst lehren, wie man Butter und Honig auf Brot streicht. Er ermunterte mich, nur recht zuzugreifen, der Honig sei gesund für die Brust, das Brot mache groß und die Butter fett. Weberhofer war ein Bauernsohn aus Heilbrunn im Gebirge und hatte das Honig- und Butterstreichen wohl auch erst später gelernt. Als wir uns rechtschaffen gelabt hatten und hinausgingen zu unseren Kraxen, sah ich gleich das Unheil. Der Schulmeister schmunzelte und sagte leise zu der Bäuerin: »Bist wohl recht brav. Solche sollt's halt mehr geben, wie du bist!« – Ich dank'[326] schön! Die Kraxen waren bis oben bepackt mit schweren Korngarben, und noch legte sie auf jede ein Bündel Flachs. Wir hatten schon aufgeladen, da mahnte sie, noch ein Randel Geduld zu haben, sie hätten ein Sauerl abgestochen – und brachte einen ganzen Schinken herbei, den sie in große Lattichblätter wickelte und mir auf die Kraxen legen wollte. »Tu' ihn da herüber auf die meinige,« sprach der Schulmeister, »der Bub ist zu schwach beim Sterzl für so viel Gottesgab'.«

»Und die paar Kaiserbirnen dürft's mir wohl auch nit verschmähen. Die Kinderln daheim werden eh' gern ein bissel naschen.« So die Bäuerin, einen Korb voll großer, gelber Birnen mir auf die Kraxen stellend.

Mein Gott, dachte ich mir, wenn dieses Weibsbild nur nicht gar so wohltätig wäre!

Und in der Tat, kaum waren wir unter unseren Lasten fünf Minuten gegangen, so mußten wir im Walde unsere Kraxen schon auf einen Scheiterstoß stützen. Mein Lebtag habe ich keinen Schulmeister je so schwitzen gesehen, als damals meinen Gefährten, aber sein rundes Gesicht schaute gar munter drein.

»Wir hätten halt doch zweimal gehen sollen,« meinte ich schnaufend, denn ein junger Freund kann ja wohl was sagen.

»Meinst!« entgegnete der Schulmeister, dieweil er sich mit dem blauen Sacktuch die Sintflut vom Angesicht abzuleiten suchte. »Morgen könnte leicht ein anderer Wind gehen – kein so warmer wie heute. Der Mensch muß ernten, so lange schön' Wetter ist. Die Leute sind nicht immer gut aufgelegt, sein gleich muß man die Hand aufhalten, wenn sie geben wollen. Trägt man sich schon einmal halb zu Tod', so kann man dafür nachher viele Monate[327] lang rasten. Alle Tag ist nicht Kirchtag. Wenn du Schulmeister werden willst, das mußt du merken.«

Wir machten uns wieder auf den Weg, doch zeigte sich's bald, daß es nachgerade gar nicht ging. Nach vorn und hinten purzelten uns die Sachen von der Kraxen. Nun entschloß sich der Schulmeister, seine Kraxen teilweise abzuladen auf einen Steinhaufen und den andern Teil, bei welchem vor allem der Schweinsschinken war, heimzutragen. Ich mußte mittlerweile bei dem Steinhaufen Wache halten, bis er wieder zurückkäme und wir die übrigen Lasten gleichmäßig verteilt nach Hause tragen könnten.

Während ich Wache hielt, kam ein Falot des Weges, blieb stehen, stützte sich hinterwärts mit seinem Knotenstock und schaute die großen Kaiserbirnen an.

»Sind sie 'leicht dein?« fragte er mich mit gröhlender Stimme.

»Nein, die sind des Pfarrers,« war meine Antwort, in der Meinung, an Kirchengut würde er sich doch nicht vergreifen.

Das Ungeheuer streckte seine sehr lange braune Hand aus dem fransigen Ärmeln hervor nach den Birnen und sagte: »Die muß man kosten; bei einer Pfarrerstafel hab' ich eh' schon lang' nit mehr gespeist.«

Wer weiß, was sich zugetragen hätte, wenn nicht der Schulmeister durch den Hohlweg dahergekommen wäre mit seiner leeren Kraxen. Der Vagabund verzog sich sachte, und wir trachteten nun, die Schätze in volle Sicherheit zu bringen.

Am nächsten Morgen war's zum Abschiednehmen. Mich rief meine Pflicht zurück in die Werkstatt, der Mathesel blieb. Erst nach Monaten kam er nach Hause, und nun konnte er schon mitfiedeln helfen auf dem Kirchenchor an[328] den Sonntagen und im Wirtshause am Kirchweihfeste. Wenn gerauft wurde, so zuckte es ihm wohl noch in den Händen. Da griff er hastig nach dem Bogen und fiedelte. Die Sommersprossen waren nicht mehr zu sehen und auch sein Haar borstete sich weniger, sondern legte sich hübsch glatt über die niedere Stirn herab bis zu den Augenbrauen. Man nannte ihn noch immer das Löwerl, ich glaube, bis heute ist dem braven Holzarbeiter die stolze Benennung geblieben. Ein Löwe, bezähmt durch die Musik.

Ich habe nach dieser Zeit den Schulmeister Weberhofer in Puch nur noch ein paarmal gesehen. Wie sich der Menschen Wege und Schicksale eben verzweigen und mit anderen Kreisen und Verhältnissen verflechten, so war es auch hier – sein »zweiter Knecht« bin ich wohl nie mehr gewesen, sein jüngerer Freund bin ich verblieben. Vor zwanzig Jahren, während meiner schweren Krankheit, gerade an dem Tage, als meine Sanduhr abgelaufen wäre, wenn der Engel sie nicht noch einmal umgekehrt hätte, ist der gute Eustach in seinem achtundsechzigsten Lebensjahre gestorben.

Es war am 16. Dezember 1892.

Fast hätte er mich mitgenommen zu einer anderen Erntesammlung – im jenseitigen Paradiese.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 316-329.
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