Ludwig Rubiner

Der Kampf mit dem Engel

Jeder Mensch kennt einmal im Leben das Wissen von seinem ganz Menschlichen: von seinem geistigen Ziel, zu dem er auf der Erde gehen muss, um sein Schicksal als geistiges Wesen zu erfüllen; in das Schicksal wurde er hineingeboren. Alle Menschen kennen in Wahrheit das geistige Ziel des Menschenlebens. Alle Menschen sind beteiligt an dem Ziel, die Erde zu einem himmlischen Reich zu machen, zum wahren Staate Gottes, in dem jede irdische Verrichtung auch einen geistigen Sinn hat; den Sinn da zu sein selbst für den fernsten Nebenmenschen; aber in dem jede geistige Aktion auch eine ganz reale irdische Handlung ist, und nicht mehr fremd und verurteilt zu parasitär okkultem Sonderleben. Von diesem Ziel des geistigen Lebens wissen alle Menschen, aber sie kennen es oft nicht mehr, weil sie es verschüttet haben und vergessen.

Einmal im Leben steht die Offenbarung des Geistes vor jedem Menschen, wie der Engel vor Jakob. Da geschieht: die Menschen entziehen sich dem Engel! Entweder sie flüchten vor ihm, sie bleiben ihm fern, die Trägheit beharrte, und der Mensch wird Untermensch. Oder sie gehen ganz zum Engel über, sie kennen vor seinem Flug nur noch die Engelwelt, sie vergessen ihre Geburt auf der Erde, die Existenz der anderen Menschen, die Vornehmheit siegte, und der Mensch wird Übermensch. Beides ist nur eine Ausflucht. Beides lässt das blutende Dasein und Leiden der Erde unberührt, und in jedem dieser Fälle siegt weder Mensch noch Engel, sondern das losgelassene, dämonische Element der Natur siegt und bricht in chaotischer Zerstörung gegen den Übermenschen und den Untermenschen gleich vernichtend heran. So wird der Kampf mit dem Engel zugleich ein Kampf mit den Gegnern des Menschen sein, mit den Trägen und den Vornehmen.[141]

Wir aber leben auf der Erde, und die Erde ist unsere Aufgabe. Wir können weder Tier noch Engel werden, und wir dürften es auch nicht. Uns ist das Geschick gegeben, Mensch zu sein: Die Mitte der Welt. So bleibt uns nichts übrig, als unablässig zu ringen, dass unsere geistige Welt uns stets als das wahre und erreichbare Ziel der Erdenbahn gegenwärtig bleibe. Wer der Gesegnete des Geistes sein will, muss um den Segen kämpfen. Nicht, um selbst über das Menschliche hinaus zu kommen, müssen wir mit dem Engel kämpfen, sondern nur, um ins kleinste Blutkörperchen hinein das Menschliche ganz erfüllen zu können.

Die Führer und Berater der Menschen wissen das Ziel, zu dem sie führen. Aber ihr Kampf mit dem Engel ist, dass sie unablässig die ganze Erdfülle scheinbar kleiner Realitäten durchzusetzen haben, dass sie, aus dem Geiste, unzählige spliternde Erdhaftigkeiten verwirklichen müssen; dass sie Beamte der Menschheit sind, wo sie ihre Verkünder sein wollen.

Für die Erde, für unsere von Blutkratern zerlöcherte Erde, kämpfen wir mit dem Engel. Aber dass wir bis zuletzt uns nicht entzogen, dass wir uns erhoben zum Aufstand für die Erde, dies schon schliesst die Segnung des Engels ein. Wer das Ringen um das geistige Ziel des Menschen zu Ende kämpft, der findet zuletzt, dass sein Ende kein Ende ist, kein ruhender Abschluss. Sondern jedes seiner Worte, jede seiner Taten, jede seiner Körperhaltungen, jeder Teil seiner geistgeleiteten Gliedmassen geht, als frei und losgelöst von ihm, in die Welt ein, weissflammend und stark unter den Menschen wie tausend neue Engel, die mit tausend neuerweckten Menschen ringen werden.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 141-142.
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