Ludwig Rubiner

Organ

[Programm der Zeitschrift »Zeit-Echo«]

Eine Zeitschrift hat heute gar keinen lebendigen Sinn. Sie ist ein Konversationsmittel geworden, wie es vor hundert Jahren das Lexikon war. Zeitvertreib mit Betrachtung.

Aber Geschriebenes, Gezeichnetes, Gedrucktes hat nur noch Wert, wenn seine Formulierung äußerste Notwendigkeit ist; wenn es so notwendig ist, daß es aufreizend wirkt durch den Mut zum Schlagwort; wenn seinem Urheber die Hingabe so wichtig ist, daß er auch vor der Einfachheit der Platitüde nicht zurückschreckt. Also das Gegenteil von Bibliophilie.

Eine Zeitschrift hat auch im besten Fall noch das Unglück, leicht bibliophilen Charakter zu tragen, immer noch nicht unmittelbar zu sein.

Dies eingestanden.

Aber gerade der Inhalt, der Wert, das Geistige, das Wort, das die Menschen vor die Entscheidung zur Unbedingtheit stellt, muß auf die unmittelbarste Art unter die Menschen gebracht werden. Das Ideal ist: das Flugblatt, der bibliothekarisch ganz wertlose Wisch, der einfache bedruckte Fetzen Papier, den man in die Tasche stopft. Oder man wirft ihn weg, und nur darauf kommt es an, daß man ihn nie wieder vergessen kann, wenn man einen Blick auf ihn warf: so tief hat er getroffen.

Eine Zeitschrift wird oft ein Organ genannt. Aber die einzige, die allereinzige Existenzberechtigung, die eine Zeitschrift heute noch haben kann, ist, daß sie ein Organ ist. Ein wirkliches Organ, unsymbolisch gemeint. Ein Organ wie Kopf, Augen, Mund, Arme, Beine des Menschen, eine Fortsetzung und Erweiterung der menschlichen Glieder bis zur lebendigen Berührung des andern Menschen.

Eine Zeitschrift ist nicht zur Erkenntnis da. Nicht zur Betrachtung, nicht zum Genuß. Sie ist auch keine Tribüne, an der Meinungen zur Diskussion gestellt werden. Sie hat Lebensrecht nur, wenn sie Bewegung, Griff und Darreichung dieser letzten, unbedingten und verzweifelten Menschen[300] ist, die bereit sind, ihre Person völlig mit ihrer Sache zu identifizieren; die ihr Ziel des Geistes mit jedem Mittel ihres Körpers durchsetzen wollen; denen Reden, Handeln, Schreiben kein Unterschied bedeutet, sondern bloße verschiedene Äußerungsformen der menschlichen Liebestätigkeit. Und die zuletzt gedruckt werden, nicht um des Veröffentlichens willen, sondern nur weil sie so gleichzeitig zu mehr und verschiedeneren Menschen gelangen als allein durch die gesprochenen Worte im kleinen Zimmer.

Jeder weiß heute, daß in allen Ländern die Menschen nur schweigen, weil sie glauben, von den andern nicht gehört zu werden. Aber es gilt nur, ihnen ein Zeichen zu geben, daß das Klopfen ihres Herzens drüben unter den fernen, unbekannten Brüdern wahrgenommen wird, daß ihre Sprache wie ein Händedruck herüberkommt, daß vor dem Geiste die Entfernungen nichts sind: Und Grenzen, Drahtverhaue, Heere sind überholt.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 300-301.
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