Ludwig Rubiner

Zur Krise des geistigen Lebens

Gerade den Lesern dieser Zeitschrift müßte es aufgefallen sein, daß bei den wertvollsten Menschen der Kulturwelt, bei den Führern, den Geistigen, die Psychoanalyse der größten Mißachtung begegnet. Diese Mißachtung ist heute nicht mehr zu verwechseln mit jener Mißkenntnis der vorletzten Generation, welche der Psychoanalyse so ungläubig gegenüberstand wie etwa die der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts der Hypnose, oder bei der wichtige Probleme nur zu Witzen wiehernder Herrengesellschaften dienten. Nein, eben jene ältere Generation ist – mitbewegt durch Massenerfolg, Einnahmen, d.h. unter dem Drucke der veränderten Zeitstimmung – längst zur Psychoanalyse bekehrt. Und kein Psychoanalytiker hat mehr die Gelegenheit, ein rührseliges Märtyrertum der Wissenschaft vorzuschützen. Dagegen die letzte Generation, heute zwischen dem fünfundzwanzigsten und dem fünfunddreißigsten Jahr, und die in ihrer Jugend den Kampf um die Psychoanalyse erlebt hatte, akzeptierte sie ohne weiteres unter ihren Voraussetzungen. So etwa, wie gebildetere Menschen zehn Jahre lang Hofmannsthal lasen, wo sie früher Berthold Auerbach gelesen hätten. Aber bereits die Selbständigen aus dieser Generation, diejenigen, welche schon das Feld für die nächste bereiten, diese stehen außerhalb und fern der Psychoanalyse. Um es gleich zu sagen: sie sind ihr an Fundamental-Methodik weit überlegen und an Sachinhalt weit voraus.

Sehen wir doch einmal zu, wer unter den Vertretern der älteren Generation neben den Modeärzten heute die Psychoanalyse betreibt. Die erstaunliche Antwort ist: fast nur Kurpfuscher der sogen. gebildeten Kreise; verunglückte Schriftsteller, schöpfungslose Dichter, Morphinisten, um die Ecke gegangene Mediziner – lauter Menschen, die keiner von uns ohne starke Bedenken an seinem Schreibtisch etwa allein lassen möchte. Alle diese psycho-analytischen Quacksalber wälzen wie im Fieber unablässig den Jargon der Schule mit vollen Backen im Munde. Aber faßt man sie ins Auge, so findet man stets, daß der Bruch in ihrem Berufsleben kein zufälliger ist, sondern daß ihre neue Wissenschaft nur ein Vorwand zur[120] Loslösung von älteren Verpflichtungen ist; und daß sie selbst merkwürdig feige, unsichere und verantwortungslose Typen sind, die sich ans Deuten heranmachen, weil sie nie ans Handeln gehen werden, und die stets mehrere Wege offenhalten, weil sie sich selbst nicht entscheiden wollen. Doch die Psychoanalyse ist bei den Geistigen heute (und schon vor dem Kriege war sie es ebenso) nicht verrufen wegen des moralischen Charakters ihrer Vertreter. Sondern umgekehrt. Der Charakter ihrer Verfechter rührt von der geistigen Konsistenz der Psychoanalyse her.

Uns Heutige forderte im höchsten Grade das Mißverständis der letzten Generation heraus, welche die Deskription eines lediglich technischen Komplexes zur Weltanschauung erheben wollte. Aber auch der Sachinhalt dieses technischen Komplexes erschien uns in bedeutendem Maße veraltert. Die Psychoanalyse ruht ja auf einem biologischen Determinismus. Inhaltlich ist sie ein System der Seelen-Mechanik; methodologisch ein System, um durch Enthüllung, Seiendes festzustellen. Nun kam der große Popularsieg der Psychoanalyse in eine Zeit, in der wir Nichtmediziner denkerisch den mechanistischen Determinismus und lebensmethodisch die berühmte Verklärung des bloßen Daseins, als Seligkeit an sich, schon längst los waren. Wir waren darum der Ansicht, daß die Psychoanalyse ein ausgezeichnetes klinisches Mittel sei, aber auch nur das; die Erleichterung der Anamnese. Doch die Psychoanalytiker wollten mehr. Man erlaube mir, einige Stellen aus einer Polemik herzusetzen, die ich vor drei Jahren mit einem außerordentlich intelligenten und gebildeten Psychoanalytiker in der Berliner Zeitschrift »Die Aktion« führen mußte. (Die abgekürzte und bildliche Schreibweise wird aus dem Zwang zur Polemik erklärlich.)


»Herr Cox, der geübte Kanalschwimmer, erlebte an Bord eines Ozeandampfers einen Schiffszusammenstoß. Bevor er ins Meer sprang, zog er seine, in Paris gefertigten Lackschuhe aus; er wußte aus Erfahrung, daß unter solchen Umständen auch die reizendsten Schuhe für dieses Weiterleben hinderlich sind. Nach der Rettung – großer Protest der Pariser Schuster: ihre Fußbekleidungsindustrie übertreffe nicht nur an Güte, sondern auch an Modernität alles je Dagewesene.[121]

Die Psychoanalyse ist bloß eine Technik. Mein Gegner will nichts davon wissen, daß es für diese Industrie nur auf ihr Erzeugnis, den plumpen nackten Heilerfolg ankommt. Sie ist, meint er, etwas für sich Bestehendes. Ein Selbstzweck. Aber nein ... ein Selbstzweck? Sie sei alles. Unsere ganze Zukunft ...

In jedem technischen Betrieb gibt es Geschickte und Ungeschickte. Arbeiter und Vormeister. Dr. X., der wirklich klug ist, hat die manuelle Arbeit längst nicht mehr nötig. Er ist etwas ganz Feines: er ist Zwischenhändler.

Doch darum die Technik (von der man ›innerlich‹ lebt) für den Grundantrieb unseres Daseins auszugeben, das ist doch – Zeitungsannonce! Oder Selbstbeschwindelung. Ganz abgesehen von der Ahnungslosigkeit, daß Kämpfer unter uns das abgeklapperte L'art pour l'art längst als Verschleierung der Talentlosigkeit nachgewiesen haben. Wirklich, warum sind die Psychoanalytiker so ahnungslos? Sogar der große Freud mußte sich fragen lassen, warum er als Kunstbeleg in der ›Traumdeutung‹ den ganz minderwertigen Feuilletonromanproduzenten Wilhelm Jensen zitierte.

Oder: Da alle Aufrichtigen einig sind, daß Flaubert neue Menschen gezeugt hat, mit Tinte und Feder bis dahin noch nicht gesehene Gestalten in die Welt pflanzte- schreibt ein Psychoanalytiker ein witziges, gut gearbeitetes Buch, das man liest wie etwa ein unterhaltendes Revolverblatt und ›weist nach‹, daß des Flaubert ›Heiliger Antonius‹ nichts als ein Kommentar zu Flauberts verdrängtem Geschlechtsleben sei. Dies kann man natürlich mit der ›Bovary‹ auch machen, mit Balzac, mit Poe, zum Schluß sogar, wenn bis auf Homer die ganze abendländische Literatur, und bis auf das Gilgamesch-Epos auch die altorientalische psychoanalysiert ist, kann man es mit Meyers Konversationslexikon machen.

Dabei ist klar: In allem von Menschen Gezeugten und in allem vom menschlichen Geist Erfundenen wird die ›Wissenschaft‹ sich erst recht selbst wiederfinden. Mehrere Männergenerationen später kommt ja die ›Wissenschaft‹ den Mitteilungen des Geistes (beispielsweise der Kunst) nach. Die Psychoanalyse, die dreißig Jahre nach Dostojewskis Tode, dem Höhepunkt der analytischen Psychendichtung, auftritt, verübt damit nur ein harmloses Lämmerhüpfen. Viel tollere Dinge könnte ein Wissender zu diesem Satze in der[122] theoretischen Physik ersehen: also dem von subjektivem Einfluß angeblich unabhängigsten Gebiete des exakten Denkens.

Die Apothekertechnik: sage mir, von wem du träumst, und ich sage dir, mit wem du nicht geschlafen hast. Ein vorzügliches Rezept. Ein ... Rezept. –

Während in Wahrheit einige von uns heut wieder – nicht gesetzgeberisch, aber – Gesetzgebende sind, d.h. fähig, die menschlichen Ahnungen vom Inhalt und Glück einer kommenden Zeit des Geistes in unverlierbaren Vorstellungen zu fixieren. Als Ziel vor uns her zu stellen.

Dem Psychoanalytiker kommt es im wichtigsten (seinem tiefsten) Fall auf die Natur an. Uns, die wir die Menschen an den Geist erinnern, handelt es sich um den Menschen. Um diese einzige gläubige Inselexistenz, die ... will.

Inselexistenz des Menschenwesens umflossen von der Natur.

Dr. X. teilt mit, die Psychoanalytiker erstrebten, die Menschen aus ihrer Einsamkeit zu retten.

Dagegen ist zu sagen: Die ›Wissenschaft‹, die Psychologie, die Analyse individualisiert gerade. Die Psychoanalyse verprivatisiert ja. Der harmloseste Klient des Psychoanalytikers ist im Handumdrehen ein Seelen-Partikulier.

Die Entgrenzung der Menschen ist nur möglich durch Bewußtmachen ihrer Existenz als geistige Wesen (und nicht als biologische Substrate!)

Wenn ein Mensch mir etwas zu sagen wünscht, so weiß ich im schlechtesten Fall schon alles voraus. Es kommt aber darauf an, daß wir etwas gemeinsam tun. Nicht auf Umquatschung des Nichtgetanen.

Der Psychoanalytiker meint: Wozu habe ich mein Seelenleben, wenn ich es nicht an den Mann bringen kann?

Der Analytiker kümmere sich ums ›Seelenleben‹. Und rede uns nicht in unsere sacrae conversationes hinein. Wir überlassen das Seelenleben den Patienten der Psychoanalyse. Wir kümmern uns nur um die schrecklichen, kaum berührbaren Elementardinge: daß Menschen nebeneinander Raum einnehmen und ihren Raum verlassen, ändern, verwandeln müssen. Daß sie leben oder sterben wollen. Und daß sie das je vergessen konnten![123]

Techniker, bleib bei deiner Klinik. Hat denn Cox, Meisterschwimmer, Zeit, mit den Pariser Schustern zu diskutieren?« –


Man sieht aus diesen polemischen Stichproben, wie kritisch die Lage war. Die wissenschaftliche Welt hatte in der Psychoanalyse einen erbitterten Versuch gemacht, die geistige Einheit der Kulturwelt wiederherzustellen. Doch Schärferblickenden war die unerträgliche Diskrepanz nur noch deutlicher geworden.

Aber der Nichtmediziner, der aus der Welt des Geistigen herkam, sah drüben eine neue Gruppe von Menschen, die, auf der vollkommen dichten Basis naturwissenschaftlicher Vorbildung, mit der Welt des Geistigen in seiner sehr wichtigen Leitlinie – gerade der wichtigsten, ja der einzig wichtigen – zusammengingen: im zielsetzenden Ethos.

Der Krieg hat scheinbar die neuen geistigen Werte der Kulturwelt erstickt. Aber das ist nur scheinbar. In Wahrheit lebten sie in vielen Variationen die schwerste Zeit durch, und man kann sagen, daß sie diese Prüfung bestanden; eine Krise, die überwunden werden mußte, und an der sie, nach tausendfachen Toden, erst ihr Existenzrecht zeigen werden. Diese neuen geistigen Werte sind wahrnehmbar im Denken und in der Darstellung unseres neuen Weltbildes. Die Darstellung unseres neuen, geistigen Weltbildes – im Gegensatz zu dem roh materiell-mechanischen der älteren Generationen – wird gewöhnlich mit einem populären Ausdruck (der indessen nur ihre sichtbaren Stilmittel bezeichnet) Expressionismus genannt. Der Expressionismus in der Literatur und in der bildenden Kunst ist jene Bewegung neuschöpferischer Menschen, die sich der deterministischen Abhängigkeit von der realen Umwelt, vom Milieu, von der Atmosphäre – kurz von dem, was man gemeinhin »Natur« nennt – durch einen ungestümen Befreiungsakt entledigt hat. Die schöpferischen Begabungen des Expressionismus finden nicht mehr ihre Vorstellungen in der sie umgebenden Natur, um sie dann etwa möglichst illusionistisch zur Beschreibung zu bringen. Im Gegenteil. Sie stellen gerade jene Vorstellungen, die dem rein geistigen Leben des Menschen am vollkommensten entsprechen, als absolute, gewissermaßen das Leben regierende Gebilde fest; und diese Gebilde – die oft nichts mit den vertrauten Formen der sichtbaren Natur[124] zu tun haben – projizieren sie aus sich heraus, mit allen Mitteln der Darstellungskunst, als wär's ein Stück Natur. Bei einer Schöpfung des Expressionismus tritt der Mensch sich gleichsam selbst entgegen, nur in reinster, abgezogenster Gestalt. Der Mensch, der so lange die Natur durchschaut hat, bis er sich ihr hingab und in Denken und Fühlen völlig von ihr abhängig wurde, hat auf einmal sich selbst entdeckt. Der Impressionismus, beispielsweise, und sein ganzes Jahrhundert, nahm den Menschen als ein Stück Natur. Im vollkommensten Porträt eines guten impressionistischen Malers hat der Mensch keinen anderen Wert als ein Blumenstilleben, oder das berühmte Spargelbündel Manets. Der Triumph des Impressionismus war das naiv selige Unbewußtsein. Aber das Wesen des Expressionismus weiß, daß die Natur eine Projektion des Menschen ist; er weiß, daß es keine »Stimmungen« gibt, sondern nur aus uns heraus geschleuderte Vorgänge von Liebe und Haß, Sympathie und Antipathie. Und daß wir diese Vorgänge, deren Erschaffer wir selbst sind, erst aus eigener Kraft in die vertrauten Formen von Organismen, Situationen und Erlebnissen bringen. (Man vergleiche dazu die interessanten Aufschlüsse Alfred Adlers über Schlafstellungen in der Arbeit »Schlafstörungen« aus Heft 3 dieser Zeitschrift.)

Aber dies ist nur das äußere Szenarium der neuen Zeit, so wie es durch die Mittel des Sichtbaren eingefangen und ausgedrückt werden kann. Seine Grundlagen treten im entschiedenen neuen Denken unserer Zeit zutage. Hier nimmt man eine Erscheinung wahr, die seit Jahrhunderten aus dem Geistesleben der Völker verschwunden zu sein schien: die entschiedene Konzentration auf das Ethische. Um sich völlig auf das Ethische besinnen zu können, braucht die Welt freilich einen neuen und starken Glauben an leitende Ideen. Sagen wir es nur deutlich: sie braucht einen neuen Glauben, vielleicht eine neue Gläubigkeit. Und die ungeheure Geistesschlacht, die geschlagen wurde, kann durch nichts deutlicher werden als durch die Feststellung eines merkwürdigen Zusammentreffens: Ungefähr zur selben Zeit, wo Fritz Mauthner seine drei Bände »Kritik der Sprache« der Öffentlichkeit übergab, also das durch Jahrhunderte stärkste Werk des vollkommensten Agnostizismus (ein Agnostizismus, der sogar die Sinne des Menschen als wilde Zufallsergebnisse resultierte) – zu dieser Zeit veröffentlichte auch[125] Bergson seine ersten Werke, in denen er die unteilbare, unzufällige Totalität der Welt lehrte, und das System ihres Repräsentanten, des schöpferischen Menschen aufstellte.

Eine weitere denkerische Hilfe, die auf ganz anderen Wegen als Bergson geht, hat uns Vaihinger gegeben. Aus der kantischen »Kritik der praktischen Vernunft« – die bekanntlich im Rufe der ethischen Labilität steht – zog er ein Apercu, das unter den Händen Vaihingers und seiner Schüler der Ethik eine wichtige Entscheidung bringen sollte: das Prinzip des »Als-ob«. Die erkenntnistheoretisch zerrissene und durchwühlte Welt lernte den Begriff der ethischen Fiktion kennen. Und die neuen Führer des geistigen Lebens gehen noch einen Schritt weiter als die Schule; sie stellen eben die Fiktion als die größte Hochrealität auf. Selbst wenn es durch irgendeinen empirischen Akt möglich wäre, die reale Natur-Existenz der großen leitenden Generalideen der Menschheit zu bestreiten, so sei es doch zu jedem wesentlichen Handeln nötig, die Fiktion einer solchen Realexistenz aufzustellen; je vollkommener, durchgebildeter und durchgelebter die Idee als Realität hingestellt werde, um so allgemeingültiger, beispielhafter und menschlich größer werde das Handeln ausfallen. Das ist eine Konzeption, von der ein etwas roher und stark technisch und sinnenfällig aufgefaßter Abklatsch, der Pragmatismus, ganz Amerika erobert hat. Der amerikanische Durchschnittspragmatist scheut sich heute gar nicht, das massive Wort zu sprechen: thoughts are things. Das heißt, von einer etwas höheren Warte aus gedacht: wir können unsere Ideen im Leben außer uns wirkend machen, als seien sie reale Organismen. Jedoch die geistig überlegenste und philosophisch bedeutendste Formulierung des neuen Weltbegriffs hat unstreitig der große Neapolitaner Benedetto Croce gegeben. Der Hauptsatz Croces in seiner »Theorie und Geschichte der Historiographie« ist: »Vergessen wir nicht, daß die Tatsachen von uns geschaffen sind.«


Während nun zur Zeit des künstlerischen und geistigen Impressionismus der Mensch sich als ein unrettbar hilfloses Wesen erschien, das in unendlicher Winzigkeit von den ungeheuren und düsteren Mauern der Natur erdrückt wurde, erkennt sich der Mensch heute als Schöpfer. Er weiß sich als die Mitte der Welt, um die, stets wieder von[126] neuem, er selbst den Umkreis der Welt schafft. Diese Peripherie der Welt, die er sich selbst schafft, hat er auch selbst zu verantworten. Und während in den Zeiten des philosophischen Determinismus die These von der natürlichen Unverantwortlichkeit des Menschen für seine Handlung fast selbstverständlich war, so ist die machtvoll auffallende ethische Orientierungslinie des neuen Denkens die Idee von der ungeheuren Verantwortung des Menschen; einer Verantwortung, die bereits bei ihm selbst, sich selbst gegenüber beginnt.

Wie diese geistige Haltung der neuen Zeit auch durch den Krieg nicht entwertet, sondern nur kasuistisch variiert werden konnte, sieht man etwa in dem (von Kurt Hiller bei G. Müller, München, herausgegebenen) Sammelwerk »Das Ziel«, dessen bedeutendere Mitarbeiter, alle von verschiedenen Ausgangspunkten her, die neue, schöpferische Lebendigkeit, das Außer-uns-Setzen des Ethischen, künden und suchen, gerade auf Grund dieser erkannten Projektivität des menschlichen Geistes einen neuen menschlich wertvollen Begriff des Nebeneinanderexistierens der Menschen: des Politischen zu postulieren. (Einige grobe Opportunismen, welche, unter dem Druck der Verhältnisse, auch dieses Buch verunzieren, kommen aus der psychischen Fahrlässigkeit von Mitläufern; die fehlen ja keiner neuen Bewegung. Ebenso eine technische Entgleisung in Freudschen Determinismus, die aber bedeutende ethische Ziele jener Arbeit seltsamerweise nicht tangiert.) Jenes Buch, das erst im zweiten Jahr des Krieges erschien, ist der aktuelle Ausdruck einer Philosophie und Politik des Expressionismus. (Nur glaube man nicht, daß es sich hier etwa um eine Kunstphilosophie oder um eine Politik des Praeraffaelitismus handele. Im Gegenteil: die Hauptgedanken des »Ziel« -Buches lehnen sogar die durch ältere Generationen beliebte Bevorzugung der Kunst vor anderen geistigen Akten scharf ab: sie nehmen der Kunst ihre angemaßte Sonderstellung außerhalb des Ethischen und ordnen sie zunächst wieder in das große Gebiet der Humanitas ein. Dann aber gehen sie noch einen Schritt weiter und bestreiten überhaupt den Wert für sich abgelöster Gestaltung, die, als bereits nur noch Ruhendes, schon eine Hemmung sei, jedenfalls aber weit entfernt von den unablässig treibenden und neuschöpferischen Endmöglichkeiten der Projektivität des menschlichen Geistes.)[127]

Wie man sieht, klaffte zwischen dem wertenden, geistigen Leben der Zeit einerseits und den praktisch auf lebende Individuen angewandten Prinzipien der Seelenwissenschaft andererseits ein tiefer Spalt. Dieser Abgrund war nicht zu überbrücken. Wenigstens für unsere, der Nichtmediziner, Augen konnte da durch Opportunismus und bloße geistige Vermittlungstaktik gar nichts geschehen. Wenn wir überhaupt einer Wissenschaft anderes als bloße Quantitäten zubilligen sollten, wenn sie mehr als lediglich feststellend sein: wenn sie wertsetzend sein sollte, dann mußte sie sich mit uns in unseren Ideenkreis teilen können.


Aber, wenn wir recht sehen, so stehen mit uns in unserer neuen Welt des Geistigen: Alfred Adler und einige seiner Schüler. Wir andern, wir Nichtmediziner, die wir auch nicht von der Psychoanalyse her kommen, sondern von Kämpfen, die sich auf dem Gebiet der Kunst, des Schauens, des reinen Denkens, der Darstellung abgespielt haben – wir waren freudig überrascht, uns in gewissen Feststellungen mit Adlers Kreis zu treffen. Und uns zu treffen, nicht nur in Feststellungen, sondern vor allem, was ja jeder jungen Bewegung wichtig ist, auch in Forderungen. Schon der Titel des Sammelwerks, das Adlers Kreis herausgab, ist uns verwandt; »Heilen und Bilden«, wobei uns die Weiterführung des Heilens in ein Bilden so nahe steht; also die Forderung, daß, wenn die notdürftigsten funktionellen Fahrlässigkeiten beseitigt sind, erst die eigentliche Arbeit beginne: das Individuum aktuell von Fall zu Fall praktisch zur Besinnung auf seine Existenz als eines geistigen Wesens zu bringen, und ihn zu lehren, nach dieser Bestimmung im Leben zu handeln. V. Strasser-Eppelbaum stellt in ihrer Arbeit »Das autistische Denken in der Dementia praecox« (Zeitschrift der gesamten Neurologie und Psychiatrie) Adlers Lehre kurz und klar folgendermaßen dar: »Für Adler kann ein Individuum nicht erkranken z.B. einer primären Assoziationsstörung wegen, sondern das Individuum ist zunächst Mensch in der Welt, und aus diesem seinem Verhältnis zur Welt ergibt sich erst die Krankheit.«

Aber diese Worte – was ihre denkerische Einstellung anlangt – könnten ebenso von einem von uns, der von der neuen Kunst oder der Kulturwissenschaft her kommt, gesagt worden sein.[128]

Was uns von der Psychoanalyse trennte, war deren Unfähigkeit, über bloße Feststellungen hinauszugehen, und vor allem ihre naturwissenschaftlich gegründete Unfähigkeit, anderes als pathologische Vorgänge zu erkennen. Das hatte zur Folge, daß für den Kliniker dieses Schlages ganze Kulturkreise entwertet waren, ohne daß eben diese Kulturkreise in Wirklichkeit durch jene Entwertung im mindesten tangiert wurden. So besteht der kindliche Stolz eines Psychoanalytikers darin, daß er etwa nachweist, wie ein großer Schöpfer »der Wirklichkeit aus dem Wege ging«. Aber, das ist ja eine bereits tautologische Voraussetzung, wenn man eben neue Wirklichkeiten schafft! Man vergesse nicht, daß die Tatsache unserer Fiktionen keineswegs etwas Entwertendes aussagt; im Gegenteil, unsere Fiktivität ist vielmehr ein Zeichen für die Schöpferkraft des Menschen.

Den äußerst dankenswerten radikalen Bruch mit dieser psychologischen Bequemlichkeit scheint mir Charlot Strasser mit einer ausgezeichneten Formulierung des Aktivitäts-Tatbestandes am Menschen vollzogen zu haben. Er setzt den menschlichen Geist wieder als dominierend in sein Recht ein und findet, die menschliche Imagination habe zwei Äste, den einen: die schöpferische Seite, und den andern: die Funktionsstörung. (U.a. zu finden in der Arbeit des vorliegenden Heftes »Über Unfall- und Militärneurosen«.) Diese Formulierung ist äußerst fruchtbar. Zunächst für die denkerische Umgrenzung, dann aber für die praktische Forderung, für das in Aktualität überführte Ethos. Wir im »Ziel« haben beispielsweise eine große Anzahl von oft entscheidenden Kulturerscheinungen als Funktionsstörungen nachgewiesen (ohne von dieser schönen Definition eine Ahnung zu haben) und die Forderung der aktualisierenden Heilung und Gesamtumbildung ins positiv Schöpferische aufgestellt.

Ich halte den alten Begriff der Psychoanalyse, um Adlers und seiner besten Schüler Tätigkeit zu bezeichnen, für falsch, für irreführend, ja sogar für entwertend. Meines Erachtens würde das Gesamtbild dieser Tätigkeit in seinem Tatbestande und in seinen Postulaten viel besser bezeichnet durch einen Terminus wie etwa Psychagogik.

Eine Psychagogik ist es auch, die wir andern auf den Gebieten des rein Geistigen anstreben. Was hier die Probleme der Funktionsstörung[129] und Organminderwertigkeit sind, das ist dort mit den Fragen der Individualisierung oder Sozialisierung der Menschen berührt, mit den Problemen der Gemeinschaft, und mit den ungeheuren Themen der praktischen Erweiterung des Verantwortungsgefühls in der Einheit von Denken und Politik, die die besten heute als notwendige Totalität des Völkerlebens der kommenden Zeit postulieren. (Und die Kunst weder Privatsache noch geistiges Sonderproblem, sondern: ein Stenogramm aus diesem Parlament der Welt-Totalität! Ein Stenogramm erstarrt unter höchster, fast religiöser Verantwortlichkeit gegenüber seinem Weltball-Parlamente.)

So scheint mir, daß trotz des Krieges sich eine neue Zeit nicht töten ließ. Mein Optimismus ist so sicher, weil nur in starken und »erstmaligen« Zeiten der Geschichte es der Fall war, daß Geistesleben und Wissenschaft unter denselben ideellen Dominaten standen. Die Psychagogik scheint, von der Seite der Wissenschaft her, endlich den Schritt gemacht zu haben, die alte Kulturgemeinschaft des Geistes, nach langer Pause, wieder herzustellen.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976.
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