Weihegesang für ein Jugendalbum bestimmt gewesen

[51] Daß früh sich euer Sinn gewöhne

An ernsten Wortes ernsten Klang,

Vernehmt jetzt meines Liedes Töne

In eu'rer Jugend frohem Drang.

Sie mögen euch auf allen Wegen

Nachklingen leise im Gemüth,

Ein tief empfund'ner Dichtersegen,

D'raus euch des Daseins Glück erblüht.


Noch ist ein jeder Tag euch helle,

Und süßer Schlummer jede Nacht;

Doch steht ihr an der Zukunft Schwelle

Und mälig schon ziemt euch Bedacht;

Ob ihr auch noch in kind'schen Spielen

Auf bunten Wiesenplanen tollt –:

Es naht die Zeit mit ernsten Zielen,

Für die ihr leben, wirken sollt.
[52]

Die Zeit, wo eu'rem »Heut'« ein »Morgen«

Mit neuer Forderung sich reiht,

Und langsam nur, bei steten Sorgen,

Ein schwierig Tagewerk gedeiht.

Dann aber muß sich erst bewähren

Die tiefste Kraft, die in euch wohnt,

Und ob der Eltern gold'ne Lehren,

Des Meisters Eifer sich gelohnt.


Doch wie auch rastlos eu're Mühe,

Genüg' euch die erfüllte Pflicht:

Vergeltungskränze, rasche, frühe,

Für euer Thun erwartet nicht.

Und seht ihr ringsum Freuden sprießen,

Davon euch keine je vergönnt:

So zeigt, daß ihr nicht bloß genießen –

Daß ihr auch froh entbehren könnt.


Mit gier'gem Wunsch streckt der Gemeine

Nach Allem, was da lockt, die Hand;

Erhab'nen Sinns begehrt der Reine

Nur was er seiner würdig fand.

Zufrieden seid, wenn euch im Alter

Dieselbe Blume noch beglückt –

Derselbe hold beschwingte Falter,

Der in der Kindheit euch entzückt.
[53]

So wachs't heran mit stillem Ringen,

Ein edles, lauteres Geschlecht,

Noch stark genug, das Schwert zu schwingen,

Gilt es den Kampf für Licht und Recht;

Doch auch so mild schon, nichts zu hassen,

Als was da hemmt des Geistes Flug –

Und, gern verzeihend, zu umfassen

Den Feind selbst, der euch Wunden schlug.


Dann aber seid ihr nah und näher

Dem Gipfel schon des schönsten Ruhms,

Auf eu'ren Stirnen sieht der Seher

Den Vollglanz ächten Menschenthums.

Und also ruht – ob euch mit Scherzen

Die Stunde noch umfangen hält –:

In eu'ren jugendlichen Herzen

Die Zukunft und das Heil der Welt!

Quelle:
Ferdinand von Saar: Gedichte, Heidelberg, (2) 1888, S. 51-54.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Nachklänge: Neue Gedichte und Novellen [Reprint der Originalausgabe von 1899]

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon