V, 22.

[118] Melancholia, das Ebenbild Faustinens in Gestaltung und Kleidung, erscheint aus dem Gestrüppe. Faustine sieht, sich setzend, während der Rede Melancholia's nachdenksam in den Spiegel des vorüberfließenden Baches.


MELANCHOLIA.

Dein bess'rer Theil erscheinet dir in mir

Als Reue und als Trost, weil Frevel an dir zehrt,

Und will zur Stütze dienen dir. –

In die Tiefe deiner reichen Seele,

In die unergründliche,

Voll von öder Trauer, voll von Fehle,

Aufgestört durch Wünsche, sündliche,

In den Abgrund, den du selbst nicht auskennst,

Drin du niemals vollauf dich zu Haus nennst,

In die Kluft, wo selbst das Tasten irrbar,

Wo des Lebens Räthsel unentwirrbar

Vor'm versagenden Gesichte schwebt,

Das um Trost den Blick zum Himmel hebt:

In die Tiefe läßt dein Schmerz mich schauen.

Deiner Lenkung folg' ich ohne Grauen!

Dir zur Seite fühl' ich die Versagung,

Aber auch des innern Lichtes Tagung,

Das in breiten Strömen durch das lösend Lied

Aus der Tiefe hin zum Aether zieht.

Und die Finsterniß beginnt zu reden,

Von dem überird'schen Glanz betreten.

Mächtig wie der Orgel Klang erschallt's;

Aus der Schlünde Schauer tiefernst hallt's:

Alle Geister drin sind nun beschworen,

Ihr Geheimniß uns zu offenbaren.

Und am Himmelszelt, dem göttlich klaren,

Schweben auf den Wölkchen leicht die Horen,

Die mit geisterhaften, hellen

Sängen sich den tiefen Tönen

Innigsüß hinzugesellen,

Schwelgend so im Reiz des Schönen.

Tief und hoch sind hier Geschwister,

Kinder einer Mutterseele;[118]

Es gebrauchen froh die Kehle

Einer Weltenorgel klingende Register.

Brausend wie des Frühlingssturmes Macht,

Wecken sie im Busen Hochgefühle.

Harmonie entringt sich dem Gewühle;

Die Befreiung ist vollbracht. –

Ruhet auch der Körper unter'm Hügel:

Uns're Seele tragen ihre Flügel!


Sie legt ihren Arm um Faustinens Nacken.


FAUSTINE sanft, wie gebrochen.

Wie du mir wohlgethan mit deinem Sang,

Der wie ein Lichtstrahl meine Nacht durchdrang!

Es hat die Zeit mich überholt mit ihren Schwingen;

Nun will ich eilend in die Zukunft dringen.

MELANCHOLIA Faustine loslassend.

Halt' fest die Stimmung, die da wallt! –

Mich scheucht hinweg die teuflische Gestalt.


Verschwindet hinter Felsen.


FAUSTINE aufstehend.

Weh', wär' auch ich vom Bösen frei! –

Da tritt schon wieder er herbei.


Quelle:
Schäfer, Wilhelm: Faustine, der weibliche Faust. Tragödie in sechs Aufzügen nebst einem Vorspiel und Prolog, Zürich 1898, S. 118-119.
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