1285. Die Schlange der Büßerin.

[280] Mündlich.


Vor ungefähr hundert Jahren lebte in der Gegend von Brennberg im Bayerwaldgebirge eine Dirne, die eines so lasterhaften Wandels pflegte, daß sie ledigen Standes nacheinander sieben Kinder gebar, welche sie aber sogleich nach der Geburt ermordete und im Walde vergrub. Mit der Zeit erwachte aber doch das Gewissen in ihr, und trieb sie an, ihre Verbrechen im Beichtstuhle zu bekennen. Zu diesem Zwecke suchte sie einen im Geruche der Heiligkeit stehenden Priester auf, der fern von den bewohnten Ortschaften in abgelegener Bergschlucht sich eine Klause erbaut hatte. Der fromme Gottesmann schlug die Hände zusammen, als er aus[280] dem Munde seines Beichtkindes dieses Uebermaaß von Gräuelthaten vernahm und verweigerte der Sünderin die Lossprechung. Als aber diese eine wahrhaft aufrichtige Reue zu erkennen gab und nicht nachließ mit Bitten und Thränen in ihn zu dringen, ward er andern Sinnes, und sagte ihr die Absolution zu, so fern sie sich bei ihrem Seelenheile verpflichte, die Buße zu verrichten, welche er ihr auflegen werde. Die Dirne versetzte, wie sie bereit sei, jede Strafe zu erleiden, auch die härteste, worauf der Priester sie lossprach und die Worte hinzufügte: Nun gehe hin, und zum Zeichen, daß du im Innersten deines Herzens demüthigst erkennest, wie du durch deine beispiellosen Missethaten nicht nur Gott und die Menschen, sondern selbst auch die unvernünftige Natur beleidiget habest, sollst du das erste beste Thier küssen, dessen du auf dem Heimwege ansichtig wirst, sei es klein oder groß, schön oder häßlich, zahm oder wild. Die Dirne war bereits eine ziemliche Strecke gegangen, ohne in der Wildniß einem lebendigen Wesen zu begegnen, als sie mit einem Male eine Natter erblickte, die zusammengeringelt auf einem von der Sonne durchwärmten Felsblocke lag und zu schlafen schien. Zitternd betrachtete die Sünderin das gräuliche Thier, indeß der angeborne Abscheu gegen dasselbe wurde bald durch die Furcht vor der ewigen Pein überwunden, und sie schickte sich an, die schwere Buße zu vollziehen. Kaum aber fühlte sich die Natter von den Lippen der Dirne berührt, als sie zischend auffuhr, der Unglücklichen an den Hals sprang und mit ihren Zähnen dergestalt im Nacken sich einbiß, daß weder Rütteln noch Reißen sie je wieder entfernen konnten. Sieben volle Jahre lang blieb sie da hängen bei Nacht wie bei Tag, bis endlich der Lebenssaft bis zum letzten Tropfen ausgesogen war, und die Büßerin durch den Tod von ihrer furchtbaren Buße erlöst wurde.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 280-281.
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