987. Speiset mit den Engeln im Dome.

[54] Mündlich.


Als die steinernen Engel, welche die Decke des Würzburger Doms schmücken, verfertigt wurden, war auf einmal das Geld ausgegangen, und die frommen Würzburger Bürger wurden um Beisteuer gebeten. Da verfiel ein alter Rathsherr auf einen drolligen Einfall, der auch wirklich zur Ausführung kam. Er schlug nämlich vor, es sollten Würzburgs Bürger jeden Mittag die Ueberbleibsel ihrer Mittagstafel zusammentragen, im Bruderhofe an das Volk verkaufen lassen, und das daraus erlöste Geld als Beisteuer zum erschöpften Dombaufonde spenden. Dieser Vorschlag fand Anklang, und fast alle reichen Bürger machten es so. Da ereignete es sich öfters, daß in mehreren Häusern manche Familienglieder erst nach vollendeter Mahlzeit nach Hause kamen. Und siehe da, man hatte ihren Speisenantheil bereits für die Engel im Dome fortgetragen. Da hieß es nun: »Geht hin und speiset mit den Engeln im Dome.«

Seitdem ist dieser Spruch zu einem Würzburger Sprichworte geworden. Noch heut zu Tage wird in manchen Familien, wo man streng auf Ordnung hält, dem ohne Grund zu spät kommenden Knaben kein Essen aufgehoben, und er erhält den Bescheid: »Geh hin und speise mit den Engeln im Dome.«

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 54.
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