411. Die Hexe des Attila.

[435] Von Schöppner. – C. Stengel comment. rerum August. I. c. 23. J.W.Wolf deutsche Märchen und Sagen S. 322.


Durch des deutschen Landes Gauen

Brauset Etzels wildes Heer,

Schäumend gleich der Brandung Wogen,

Zahllos wie der Sand am Meer.


Gegen Augsburg wälzt die Horde

Mordbegierig sich heran,

Gleich dem Lavastrome sengend,

Was sie trifft auf ihrer Bahn.


An des Lechs Gestade lagert

Sich des Hunnenkönigs Schaar,

Und von Stund' zu Stunde dräuet

Immer näher die Gefahr.


Schon durchstöhnet Augsburgs Gassen

Ein entsetzlich Klaggeschrei,

Gleich als ob des Weltgerichtes

Großer Tag gekommen sei.
[435]

Auf den Knieen fleht die Menge

Um Errettung von dem Tod,

Doch zu rathen zeigt sich Keiner

Noch zu retten aus der Noth.


Sieh! da naht ein häßlich altes

Grauenvolles Mütterlein,

Weniger ein lebend Wesen,

Als Skelett von Haut und Bein.


»Was verzagt ihr, feige Seelen?

Euch zu helfen bin ich da,

Bringt mir einen alten Klepper

Und ich schlag' den Attila!«


Schleunig war der Gaul gefunden

Und sie schwingt sich nackend drauf,

Nach dem Heer des Hunnenkönigs

Richtet sie des Kleppers Lauf.


Nackten Leibes, bleich und hager

Hängt das grauenvolle Weib

Auf der Mähre und es fliegen

Schlangenhaare um den Leib.


Aus den hohlen Augen grinset

Das Entsetzen selbst hervor

Und die Krallenhände recken

Mordbegierig sich empor.


Also nimmt das Volk der Hunnen

Jetzt der nackten Hexe wahr,

Hu! wie fährt es durch die Glieder,

Sträubt zu Berge sich das Haar!


Alles rennet, rettet, flüchtet

Durcheinander Mann und Roß,

Wie vom Wirbelwind ergriffen

Fleucht des Hunnenkönigs Troß.


Was kein Heldenschwert vermochte

Wider Etzel in der Schlacht,

Hat zu Augsburg eine Hexe

Heldenmütig einst vollbracht.


Darum sei der wackern Hexe

Angedenken hoch und werth

Und von Männern wie von Frauen

Augsburgs heute noch geehrt.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 435-436.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon