445. Mechthildenbrünnlein bei Diessen.

[465] Von J. Braun.


Nächtlich Dunkel hat zur Ruh

Längst die Menschen eingewieget,

Alles schloß die Augen zu

Von des Schlummers Macht besieget;

Alle Lichter sind verglommen,

In der Kirche nur allein

Leuchtet zum Gebet der Frommen

Noch der ew'gen Lampe Schein.
[465]

Bei dem Klang der Mitternacht

Tönet von dem Chor die Mette;

Denn die Schaar der Nonnen wacht

Knieend dorten im Gebete.

Sieh! da öffnen sich die Thore,

Eingehüllt in dunkles Kleid

Naht allnächtlich sich dem Chore

Eine demuthsvolle Maid.


Sankt Mechthildis ist's, die leis

Kommt vom Schlosse hergegangen;

Ganz allein, kein Mensch es weiß,

Ohne Zagen, ohne Bangen.

Denn das nächtlich düstre Grauen

Wird erhellt von Liebesglut;

Und das fromme Gottvertrauen

Haucht in's zarte Herz den Muth.


Gott, der kennt der Seele Drang,

Sah auch dieses fromme Regen,

Und er gab dem nächt'gen Gang

Seinen hehren Wundersegen;

Sandte ihr zum Schutz und Horte

Einen Engel unsichtbar;

Die verschlossne Kirchenpforte

Leis von ihm geöffnet war.


Und es kam die Nacht heran

Düster, voller Grauen wieder.

Auf Mechthildens stille Bahn

Schien kein klares Sternlein nieder;

Denn von Wolken ist umzogen

Rings das weite Himmelszelt,

Und das Brünnlein ward zu Wogen

Von dem Regen angeschwellt.


Dennoch zog zur Kirche hin

Sankt Mechthildis ohne Zagen;

Denn für himmlischen Gewinn

Wollte gern sie Mühsal tragen.

Aber sieh! der wilde Regen

Weitete des Brünnleins Lauf,

Und er hält auf ihren Wegen

Nun die fromme Jungfrau auf.


Vor dem Wasser steht sie da.

Soll sie zu dem Schlosse kehren?

Doch die Kirche ist so nah;

Nicht kann sie dem Herzen wehren.

Da gewahren ihre Blicke

Pfähle an dem Wiesenhang;

Eilends baut sie eine Brücke

Nun daraus im Herzensdrang.


Schreitet rasch darüber her,

Eilet hin zum heil'gen Orte;

Aber ach! nicht öffnet mehr

Selber sich die Kirchenpforte.

Da durchzucket ihre Seele

Plötzlich eine Schmerzensgluth,

Und sie denket an die Pfähle

Die sie nahm vom fremden Gut.


Demuthsvoll die Stirn gesenkt,

Schlägt ans Herz sie, voller Reue,

Und die Schritte heimwärts lenkt

Sie im Schuldgefühl auf's Neue.

Und es ist des Nächsten Habe

Sei sie noch so arm und klein,

Ihr so heilig bis zum Grabe,

Gleich wie Gold und Edelstein.


Jetzt noch, nach so manchem Jahr,

Das im Zeitengang entschwunden,

Steht ihr Angedenken klar

In den Herzen lichtumwunden.

Und das Brünnlein in dem Grunde,

Das mit Pfählen sie belegt,

Jetzt noch in des Volkes Munde

Sankt Mechthildens Namen trägt.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 465-466.
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