709. Walther von der Vogelweide.

[239] Von J.G. Seidl. – Zu den Sagenb. I., 243 mitgetheilten folgen hier weitere Gedichte, deren jedes die Sage entweder erweitert oder eigenthümlich darstellt.


Walther von der Vogelweide

War ein wackrer Sängersmann:

Sich und Anderen zur Freude

Stimmt er seine Lieder an.


Walther von der Vogelweide

Sagt und sang aus Herzensgrund.

Nahm in Freude wie im Leide

Sich kein Blättlein vor den Mund.


That sich Zwang in keinem Dinge,

Recht so, wie der Vogel singt,

Der da singt, damit er singe,

Nicht weil's Lob und Lohn ihm bringt.


Und so wie der Vogel eben

Sich bald da bald dort gefällt,

Zog er hin und her im Leben,

Seine Weide war die Welt.


Sechzig Lenze schon hat Walther

Eingeläutet mit Gesang;

Bis auch seinem frischen Alter

Einst das letzte Stündlein klang.


Dort zu Würzburg legt er nieder

Seinen morschen Wanderstab,

Bat im letzten seiner Lieder

Um ein stilles Sängergrab.


Bat, daß sie sein Grab bedecken

Einfach nur mit rohem Stein,

Welcher hohl an seinen Ecken,

Hohl auch oben möchte sein.


In die hohlen Ecken gieße

Man alltäglich frische Fluth,

Daß ein Born dem Vogel fließe,

Der darauf vom Fluge ruht.


Oben in die Höhlung streue

Man alltäglich frisches Korn,

Daß der Vogel baß sich freue,

Trifft er Atzung auch am Born.


Was er wünscht', es ward vollzogen,

Korn und Wasser fehlten nie,

Und so kam's zum Grab geflogen

Schaarenweis' voll Melodie.


Wenn noch kaum der Morgen graute,

Sang und zwitschert' es schon d'rauf,

Und sobald der Abend thaute,

Saßen dort die Vöglein auf.


Recht so eine Vogelweide

Gab es, wo im stillen Hag

Walther von der Vogelweide

Nie des Lied's entbehrend lag.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 239-240.
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