Der Enderle von Ketsch

[47] Chorus:


»Jetzt weicht, jetzt flieht! Jetzt weicht, jetzt flieht

Mit Zittern und Zähnegefletsch:

Jetzt weicht, jetzt flieht! Wir singen das Lied

Vom Enderle von Ketsch!«


Solo:


Ott' Heinrich, der Pfalzgraf bei Rheine,

Der sprach eines Morgens: »Rem blemm!

Ich pfeif' auf die saueren Weine,

Ich geh' nach Jerusalem!


Viel schöner und lilienweißer

Schaun dort die Jungfrauen drein:

O Kanzler, o Mückenhäuser,

Fünftausend Dukaten pack' ein!«


Und als sie lagen vor Joppen,

Da faltet der Kanzler die Händ':

»Jetzt langt's noch zu einem Schoppen,

Dann sind die Dukaten zu End'!«


Ott' Heinrich, der Pfalzgraf, sprach munter:

»Rem blemm! Was ficht uns das an?

Wir fahren nach Cyprus hinunter

Und pumpen die Königin an.«


... Schon tanzte die alte Galeere

Vor Cyprus in funkelnder Nacht,[47]

Da hub sich ein Sturm auf dem Meere

Und rollender Donner erkracht.


Umzuckt von gespenstigem Glaste

Ein schwarzes Schiff braust vorbei,

Hemdärmlich ein Geist steht am Maste

Und furchtbar gellet sein Schrei:


Chorus:


»Jetzt weicht, jetzt flieht! Jetzt weicht, jetzt flieht

Mit Zittern und Zähnegefletsch:

Jetzt weicht, jetzt flieht! Im Sturm herzieht

Der Enderle von Ketsch!«


Solo:


Der Donner klang leise und leiser

Und glatt wie Öl lag die See,

Dem tapferen Mückenhäuser,

Dem Kanzler, war's wind und weh.


Der Pfalzgraf stund an dem Steuer

Und schaut' in die Wogen hinaus:

»Rem blemm! 's ist nimmer geheuer,

O Cyprus, wir müssen nach Haus!


Gott sei meiner Seele gnädig,

Ich bin ein gewitzigter Mann:

Zurück, zurück nach Venedig!

Wir pumpen niemand mehr an.


Und wer bei den Türken und Heiden

Sein Geld wie ich verschlampampt,

Der verzieh' sich geräuschlos beizeiten,

Es klingt doch höllenverdammt:


Chorus:


Jetzt weicht, jetzt flieht! Jetzt weicht, jetzt flieht

Mit Zittern und Zähnegefletsch:

Jetzt weicht, jetzt flieht! Im Sturm herzieht

Der Enderle von Ketsch!«

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 1, Leipzig/ Wien 1917, S. 47-48.
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