Der Feigenbaum

[242] Nach dem Evangelio des Sonntags Jubilate.


Nimm, Gärtner, diesen Feigenbaum

Und wirf ihn aus dem Garten,

Ich gönn' ihm länger keinen Raum

Und mag nicht länger warten.

Ich komme schon so manches Jahr

Und keine Frucht wird offenbar.


Der Gärtner spricht mit weiser Huld:

Laß noch ein Jahr vergehen,

Herr, diesmal trage noch Geduld

Und laß ihn ferner stehen;[242]

Ich will ihn pflegen still und treu,

Ob endlich uns die Frucht erfreu'.


Du Sohn, der ewig uns vertritt

Mit brünstigen Gebeten,

Der an dem Oelberg für uns litt,

Sich martern ließ und tödten,

Wir hören dein Gebet und Wort,

O Hoherpriester, bete fort!


Du milder Gärtner, Jesus Christ,

Du wirst uns nicht versäumen,

Und, weil du so geduldig bist,

Kann mancher Zweig noch keimen;

Der Garten, welcher dich erfreut,

O Heiland, ist die Christenheit.


Der Zorn des Richters, welcher droht,

Er mag uns zwar erschrecken,

Doch wissen wir, vom ew'gen Tod

Kann uns dein Wort erwecken.

Du ladest ein, treibst Keinen fort

Und gönnest Jedem Zeit und Ort.


Laß Keinen von uns unbesucht,

Wir fühlen schon dein Wehen,

Laß uns in Blüten und in Frucht,

Wann du wirst kommen, stehen.

Viel Zweiglein, jung und frisch und grün,

Vergelten, Gärtner, dein Bemühn!


Quelle:
Max Schenkendorf: Gedichte, Leipzig o.J, S. 242-243.
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