Der verwandten Seele

[11] Eingangsgedicht in dem Stammbuch des Dichters.


Komm' in den Garten, komm', es laden

Der Frühling und die Nacht uns ein,

Sie kamen von des Wests Gestaden,

Um Zeugen unsres Glücks zu sein.


Die Harfe bebt von Frühlingslüften –

Sieh, wie der Mond ins Fenster winkt!

Komm', daß in jenen Blumendüften

Die Seele Himmelsahnung trinkt.


In dem verschwiegnen Heiligthume,

Um das die Nacht den Schleier legt,

Entfaltet sich die stille Blume,

Die nur für sie den Balsam trägt.
[11]

Die Wesen trennenden Gestalten

Zerfließen in der Dämmerung

Und Seelen, die zusammen wallten,

Erfreu'n sich der Vereinigung.


Siehst du, wie dort im Sternenkreise,

Mit stillem, liebendem Gemüth

Der Mond auf ewig gleiche Weise

Nach der verwandten Erde sieht?


Der jedem Ding die Bahn gemessen,

Der Sonnen einst an Sonnen band,

Hat seinen Liebling nicht vergessen,

Den Wesenkranz knüpft Gottes Hand.


Der Hauch, in dem dem großen Geiste

Der schaffende Gedank' entfloß,

Von dem das alte Chaos kreiste,

Er war's, der unsern Bund beschloß.


So komm' denn, du verwandte Seele,

In der sich meine Seele schaut,

Die mich nicht wählt, die ich nicht wähle,

Die mir die Ewigkeit vertraut!


Nach einer Sonne hingewendet

Zerrinnen wir in ein Gemüth –

Doch nimmer wird der Kreis vollendet,

Der magisch um die Welt sich zieht.


Sprich, könnten wir ein Glück genießen,

Wenn sich nicht jedes Wesen freut,

Und eng' uns in uns selbst verschließen

Im Angesicht der Ewigkeit?


Zu Göttern macht uns der Gedanke,

Der hier durch meine Seele glänzt;

Daß keines Raumes enge Schranke

Das sel'ge Götterreich begrenzt.
[12]

So laß uns denn auf unsern Pfaden

Umher nach Bundesgliedern spähn,

Und alle mild und freundlich laden,

In unser Paradies zu gehn.


So Manchen werden wir begegnen,

Die einsam gehn den Dornengang,

Und einst mit uns die Stunde segnen,

In der uns diese Glut durchdrang.


Im Mondschein werden wir sie finden,

Im Zeichen, das uns Glück verheißt,

Und dem verwandten Geiste künden

Wird schnell sich der verwandte Geist.


Wir wollen in den Bund sie schließen,

Sie mit dem Friedenskusse weihn

Und Brüder sie und Schwestern grüßen

Und der Gefundenen uns freun.


Quelle:
Max Schenkendorf: Gedichte, Leipzig o.J, S. 11-13.
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