An die Schweiz

[115] Im December 1813.


Es tönt in allen Landen

Ein Ruf zum heil'gen Streit;

In ihrer Kraft erstanden

Ist neu die Christenheit.

Die Stürme Gottes fahren

Und wecken jeden Mann,

Wie da vor grauen Jahren

Der Kreuzeszug begann.


Uralte Kräfte regen

Sich schön und fürchterlich,

In ihrer Gruft bewegen

Die Freiheithelden sich.

Es tritt aus seiner Höhle

Der Felsengreis, der Tell,

Und jauchzt aus voller Seele,

Und prüft den Bolzen schnell.


Und du nur könntest wanken,

Sonst hochgepries'ne Schweiz?

Geöffnet stehn die Schranken –

Hat Freiheittod nicht Reiz?

Du bliebest unentzündet

Von Gottes Wort und Strahl,

Wärst nicht mit uns verbündet,

Und hießest jetzt neutral?


O Schmach der feigen Seele,

Die solches Wort erdacht!

Kein freies Volk erwähle

So schlechte Grenzenwacht!

Dazu gab Gott uns Eisen,

Den Armen gab er Kraft,

Das männlich zu beweisen,

Wuchs mancher Lanzenschaft.
[116]

Wenn's euch nach Schlaf gelüstet,

Wir haben Tag gemeint!

Wir kommen an gerüstet:

Freund, heißt es, oder Feind!

Euch rufen Väterheere:

»Ihr Schweizer! werdet wach!

Der keuschen Mütter Ehre

Errettet von der Schmach!«


»Wir konnten nimmer zeugen

Ein schwächliches Geschlecht;

Und wenn die Völker schweigen,

Die Felsen schrei'n um Recht!

O zündet schnell die Feuer

Auf hohen Alpen an;

Vielleicht erwarmt ein neuer

Held Gottes sich daran.«


Es gründeten die Dreie

Im stillen Felsenthal

Der Freiheit und der Treue

Ein Reich nach Gottes Wahl.

Nicht für ein kleines Streiten

Entbrannte das Gemüth;

Ein Held für alle Zeiten,

Fiel Arnold Winkelried.


Noch hängen Felsenmassen

An die Lawine sich;

Die Frommen ziehn und fassen

Einander kräftiglich.

Oft muß aus kleinem Samen

Die größte That gedeihn:

Darum, in Gottes Namen,

Ihr Schweizer! schlaget drein!

Quelle:
Max Schenkendorf: Gedichte, Leipzig o.J, S. 115-117.
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