Die Macht des Gesanges

Ein Regenstrom aus Felsenrissen,

Er kommt mit Donners Ungestüm,

Bergtrümmer folgen seinen Güssen,

Und Eichen stürzen unter ihm;

Erstaunt, mit wollustvollem Grausen,

Hört ihn der Wanderer und lauscht,

Er hört die Flut vom Felsen brausen,

Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:

So strömen des Gesanges Wellen

Hervor aus nie entdeckten Quellen.


Verbündet mit den furchtbarn Wesen,

Die still des Lebens Faden drehn,

Wer kann des Sängers Zauber lösen,

Wer seinen Tönen widerstehn?

Wie mit dem Stab des Götterboten

Beherrscht er das bewegte Herz,

Er taucht es in das Reich der Toten,

Er hebt es staunend himmelwärts[209]

Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele

Auf schwanker Leiter der Gefühle.


Wie wenn auf einmal in die Kreise

Der Freude, mit Gigantenschritt,

Geheimnisvoll nach Geisterweise

Ein ungeheures Schicksal tritt.

Da beugt sich jede Erdengröße

Dem Fremdling aus der andern Welt,

Des Jubels nichtiges Getöse

Verstummt, und jede Larve fällt,

Und vor der Wahrheit mächtgem Siege

Verschwindet jedes Werk der Lüge.


So rafft von jeder eiteln Bürde,

Wenn des Gesanges Ruf erschallt,

Der Mensch sich auf zur Geisterwürde

Und tritt in heilige Gewalt;

Den hohen Göttern ist er eigen,

Ihm darf nichts Irdisches sich nahn,

Und jede andre Macht muß schweigen,

Und kein Verhängnis fällt ihn an,

Es schwinden jedes Kummers Falten,

Solang des Liedes Zauber walten.


Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,

Nach langer Trennung bitterm Schmerz,

Ein Kind mit heißen Reuetränen

Sich stürzt an seiner Mutter Herz,

So führt zu seiner Jugend Hütten,

Zu seiner Unschuld reinem Glück,

Vom fernen Ausland fremder Sitten

Den Flüchtling der Gesang zurück,

In der Natur getreuen Armen

Von kalten Regeln zu erwarmen.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 209-210,246-247.
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