Leichtsinniger Rath an einen zärtlichen Dichter

[151] Du willst, mein Freund, dein Liebeslied vernichten,

Weil untreu dir seitdem die Schöne war?

Da mag der Teufel Liebeslieder dichten!

Ein jedes läuft die nämliche Gefahr.


Beim Stirnhaar die Gelegenheit erhaschen,

Und, schlüpft sie fort, dich trösten, sei dein Sinn.

Sie ließ dich doch mehr oder minder naschen,

Und die Erinnrung bleibt dir als Gewinn.


Die Flucht der Jahre läßt sich nicht verschieben;

Mit ihr entflieht die reizende Gestalt.

Willst du sie denn auch so verwandelt lieben,

Und selber so geliebt sein, mit Gewalt?


Die Liebe paßt sich nicht zu Wackelköpfen.

Ihr liebt nicht mehr: gesteht es ohne Scheu.

Doch, könnt ihr beid' am Born der Jugend schöpfen,

So lob' ich die Jahrhundert-lange Treu.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 151-152.
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