Zwölfte Romanze

[138] Schweigend durch des Waldes Dunkel,

Da der Morgen kaum noch graute,

Zogen alle sie gewaffnet,

Um die Kriegsgenossen trauernd,

Nach dem Roncisvaller Grunde,

Wo die Toten sie in Haufen,

Einige noch lebend ächzen

Durch einander sahn mit Grausen.

Oliverus, dessen Seele

Fern schon war vom Erdenraume,

Seinen Leichnam fanden gräßlich

Da am Boden ihre Augen,

Kreuzweis an vier hohe Pfähle

Ausgestreckt mit starken Tauen,

Von der Scheitel bis zur Sohle

Ganz zerrissen und zerhauen,

So mit Lanzen, Schwertern, Messern,

Wie von grimmer Drachen Klauen.

O, was war da für ein Klagen,

Schreien und Geheul der Trauer.

Jeder wehklagt um die Seinen,

Die der herbe Tod ihm raubte;

Wiederklangen aus dem Tale

Durch den Wald die Klagelaute.

Kaiser Karol schmerzentbrannter,[138]

Leidvoll sich die Haare raufend,

Schwur bei dem allmächt'gen Gotte:

Nichts soll hemmen ihn im Laufe,

Nimmer will er irgend rasten,

Bis sein Schwert im Blute rauche

Jener heidnischen Verräter,

Die so manchen Mann ihm raubten. –

Da den Heiden sie nun folgen

Ward erhöret sein Vertrauen;

Unbeweglich stand die Sonne

Wohl an dreier Tage Dauer,

Bis bei Saragossas Burgen,

An der Ebra Uferauen,

Karol sie hat überfallen,

Ganz in Freud' und Fest berauschet.

Da die Rache nun vollzogen,

Ließ er hin zu jenem Baume

Alle Kranken, Schwerverwund'ten,

Dort wo Roland schloß die Augen,

Führen, um sie streng zu fragen,

Weil im Heere war der Glaube,

Durch Verrat sei es geschehen,

Weil er Ganelon vertraute.

Um das klarer zu erkunden,

Soll im Zweikampf nach dem Brauche

Dietrich für den Kaiser streiten,

Daß man Gottes Urteil schaue,

Pinabell für den Verräter,

Einer seiner Freund' und Trauten.

Doch als Pinabell erschlagen,

Läßt der Kaiser ohne Zaudern,

Da die Schuld nun liegt am Tage,

Keines Zeugen es mehr brauchte,

An vier wilde Rosse binden

Vor des ganzen Heeres Augen

Ganelone, den Verräter,

Die ihn so zerrissen grausend,

Ihn zerstückten in vier Teile

Nach den Enden des Weltraumes.

Diesen Tod mußt' er erleiden,

Bis er einstens klagt noch lauter,

Wenn am jüngsten Tage schrecklich

Schallt des Weltgerichts Posaune.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 138-139.
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