Erscheinung

[205] Einsam blieb die Mutter auf der Erde,

Einsam steht die Mutter nun im Leben.

Bleich die Wang', und bleicher noch im Herzen,

Lebt sie schweigend und will schweigend enden;

Denn nur einmal weinte sie von Herzen.

Als sie weinte, ward das Dunkel helle,

Von des Knaben Schimmer sie geblendet.

Ihren Knaben sah sie lächelnd schweben,

Andre Kinder schwebten um ihn ferne.

Tändelnd saß er an der alten Stelle,

Zu dem Spielzeug, das er kannte, redend:


O wie lieb' ich die Sachen,

Die mit mir spielen!

O wie bunt sind die Kinder,

Die mit mir fliegen!


Sie scheinen mich zu hüten,

Und geben Süßes.

Ich sehe, daß ich glänze,

Und habe Flügel.


Mit den Worten war der Schein verschwunden.

In dem Glanz vergaß sich selbst die Mutter;

Doch der Schrecken faßte sie im Dunkel,

Daß sie wohl auf ewig hingesunken,

Wenn nicht neues Licht der Nacht entsprungen.

Ernsthaft winkt das Mädchen tief im Grunde,

Bittet aus der Ferne nimmer ruhend,

Klagend fließt Gesang vom süßen Munde.


Ich bitte um die Mutter,

Ihr gebt mir weiße Rosen;

Ich frage nach der Mutter,

Ihr zeigt des Himmels Bogen.


Ich war so gern auf Erden

Und liebte recht die Sonne;

Nun bin ich leiser Schatten,

Sie winken mir nach oben.


Ich bin ein banges Mädchen,

Der Liebe früh entzogen;

Ich bin noch kindisch blöde:

Was soll ich schon am Throne?[206]


Du hast mich auch verlassen,

Sonst wärst du schon gekommen.

O komm' zu deinem Kinde,

Das ungern dir entflohen!


Als das süße Mädchen sang die Klagen,

War's als ob die Schmerzen alle brachen,

Aufgelöst in Tränen mich zu baden,

Die nun ewig einsam und verlassen,

An das Mädchen denkt und an den Knaben.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 205-207.
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