Das 27. Capitel.
Wenn man die Kinder unter einem Jahre lässet in Spiegel schauen / so werden sie stoltz.

[55] Das Spiegel-Schauen an und vor sich selbst ist zwar gar eine gute Erfindung / die an sich habende Gestalt zu erkennen; alleine der Mißbrauch des Spiegel-Schauens ist keines weges zu billigen. Das wissen alle allzukluge Weiber, darum sind sie besorget, wenn die Kinder gar zu zeitig, nehmlich, unter einem Jahre in Spiegel schaueten, sie möchten auch einen Mißbrauch begehen, und hernach durch fernere Gewohnheit des Spiegels-Schauens nur stoltz werden, und treffen auch damit das Pflöckgen gantz genau, denn es heist: Jung gewohnet, alt gethan. Aber dieses kan ich denen Weibern dennoch keines weges zugestehen /daß, so man die Kinder unter einem Jahre in Spiegel sehen liesse, sie um deßwillen[55] stoltz würden; denn im ersten Jahre ist noch kein solcher Verstand bey denen Kindern, daß sie so ferne könnten nachsinnen, als sey diese Gestalt im Spiegel die ihrige, sondern, ich habe an gar vielen Kindern, die noch nicht übers Jahr alt sind gewesen, selbst wahr genommen, daß sie aus kindischen Actionibus so viel haben spüren lassen, daß sie die Gestalt im Spiegel für andere Kinder achten, derowegen bin ich folgender Meynung: Wenn ich Kinder zu erziehen hätte, wolte ich sie im ersten Jahre fleißig in Spiegel sehen lassen, denn alles das / womit sie im ersten Jahre umgehen, dessen sind sie in folgenden Jahren satt und überdrüßig! e.g. Klappern, Paternoster und dergleichen: Also werden sie auch vielmehr einen Verdruß am Spiegel-Schauen schöpffen, wenn man sie vorher / offt auch wohl wieder ihren Willen / vor den Spiegel getragen hat, daß sie also nicht gern hinein sehen werden. Hingegen, wenn sie langsam zum erstenmahl in Spiegel schauen, da sie schon beginnen ein Nachsinnen zu kriegen, so ist es ihnen ein gantz neu Wunder-Werck, und behalten die Begierde desto länger, alsdenn wird ihnen zuweilen etwas neues angezogen, welches sie im Spiegel gewahr werden, und sehen, wie es ihnen so fein stehet, und lernen bald stoltz werden, welches aber vom ersten Jahre keines weges kan besorget werden; und will ich meinen Kopff zum Pfande setzen, wenn durch das Spiegel-Schauen im ersten Jahre ein Kind zum Laster der Hochmuth verwahrloset werde. Aber / ihr lieber ehrlichen Mütter! lasset euch[56] eines andern Unheils verwarnen, nehmlich: Wenn eure Kinder, und sonderlich die Töchtergen, wollen in die Höhe wachsen, so gestattet ihnen das offte Spiegel-Schauen nicht, denn sie treten aus Hoffart davor, und werden (wenn ihr ihnen zumahl alle neue Moden zu tragen gestattet,) von demselben noch stöltzer. Und solcher gestalt / so ferne ihr ihnen diesen Mißbrauch des Spiegel-Schauens nicht zeitlich unterbrecht, so seyd ihr an der Kinder Laster, nehmlich der Hoffart, und nicht der Spiegel, schuld, werdet auch am jüngsten Gericht, sammt euern stoltzen Töchtern, schwere Rechenschafft geben müssen. Ich habe zwar mein Lebtage keine stoltze Kinder gesehen, da nicht deroselben Eltern stoltze eingebildete Narren wären gewesen, wo nicht in Kleidern, doch gewiß in Hertzen. Wer mir nicht will glauben, der sehe sich ein wenig um, und examinire ein und andere Umstände, ich wette, daß ichs getroffen habe.

Quelle:
Schmidt, Johann Georg: Die gestriegelte Rocken- Philosophie. 2 Bände, Chemnitz 1718 (Bd. 1), 1722 (Bd. 2), [Nachdruck Weinheim; Deerfield Beach, Florida 1987]., S. 55-57.
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