Das 73. Capitel.
Wenn an denen Thielen in einer Wohn-Stube sich Splitter ablösen / so bedeuten solche fremde Gäste.

[118] Wenn manche Magd oder Weib einen Splitter in der Stuben siehet von denen Thielen abgehen, nimmt sie solchen alsobald, und legt ihn aufrecht auf einen Stuhl, vorgebend, daß es ein Ehren-werther Gast sey. Nun will ich mir zwar den Kopff nicht drüber zu brechen, um nach zu grübeln / woher doch solche närrische Meynung ihren Ursprung haben möge, sintemahl zur Gnüge[118] bekannt ist, daß einem nicht leicht so närrisch träumen kan, als der Weiber ihre thörichten Aberglauben mehrentheils heraus kommen. Jedoch vermeyne ich, daß ich nicht weit vom Ziel treffen werde, wenn ich glaube, daß dieser Punct daher entstanden sey, nehmlich: Es ist die Gewohnheit, daß wenn man Kirchmeß, Hochzeiten, Kind-Tauffen und andere Gast-Gebote auszurichten willens ist, so lässet man vorhero die Gemächer und Stuben scheuren. Durch dieses Scheuren aber werden gemeiniglich Splitter loß geweichet, und mit dem Sande abgekratzt. Wenn alsdenn des folgenden Tages ausgekehret wird, so mag der Besen mit denen Zweigen ein wenig unter eine Spitze eines Splitters kommen / so wird er damit folgend gar ab- und aufgerissen. Dieses geschiehet also zu der Zeit, wenn ohne dem Gäste vermuthet worden, und ist das Kehren und Scheuern schon an sich selbst eine Bedeutung der Gäste, iedoch nicht alle mahl. Die Weiber aber haben dennoch einen ohnfehlbaren Schluß machen wollen, daß die in der Stuben abgerissenen Splitter Gäste bedeuten. Wer es glauben will, der mag es thun, deßwegen beschweret er sein Gewissen nicht; ich glaubs aber nicht.

Quelle:
Schmidt, Johann Georg: Die gestriegelte Rocken- Philosophie. 2 Bände, Chemnitz 1718 (Bd. 1), 1722 (Bd. 2), [Nachdruck Weinheim; Deerfield Beach, Florida 1987]., S. 118-119.
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