Dritter Akt


[263] Halle des Hotels Völser Weiher.

Vorn links Eingang (Glastourniquet.) Rechts dem Eingang gegenüber Lift, daneben beiderseits Treffen, die aufwärts führen. Hintergrund großer, weiter Erker mit hohen Glasfenstern. Blick auf Wald-, Berg- und Felsenlandschaft. Rechts hinten Portiere vor einem Gang, der zum Speisesaal führt. Am Eingang großer, langer Tisch erhöht, mit Prospekten, Fahrplänen usw., dahinter praktikable Holzwand mit kleinen Fächern für Briefe und Zimmerschlüssel. In der Halle, auch im Erker, Tische und Sitzgelegenheiten. – Auf einigen Tischen Zeitungen. – Schaukelstühle. – Mäßige Bewegung in der Halle, die ohne den Fortgang der Handlung zu stören, mit entsprechenden Unterbrechungen, während des Aktes andauert.

Touristen und Sommergäste, die von draußen hereinkommen, Gäste, die sich im Lift fahren lassen, andere, die die Stiege hinauf und hinunter gehn, gelegentlich ein Kellner, Herren und Damen, die an einem der Tische Zeitung lesen oder plaudern. – Am Lift ein Boy. Hinter dem Tisch am Eingang der Portier Rosenstock, rotbäckiger ziemlich junger Mensch, kleiner, schwarzer Schnurrbart, schwarzes Haar, schlaue, gutmütige Augen,[263] zuvorkommend

und überlegen. Er gibt eben einem Boy Zeitungen, der Boy entfernt sich mit diesen und läuft über die Stiege hinauf. Zwei Herren im Gebirgsanzug kommen von draußen, gehn gleich nach hinten dem Speisesaal zu. Rosenstock macht Notizen in ein Geschäftsbuch. – Über die Stiege. Doktor Meyer, kleiner, etwas schüchterner Herr in nachlässigem Sommeranzug, nähert sich dem Portier. Er hat ihn der Hand eine zusammengefaltete Landkarte.


MEYER nachdem er eine kleine Weile gewartet hat. Herr Portier ...

ROSENSTOCK liebenswürdig, aber nicht ohne eine gewisse Überlegenheit. Bitte, Herr Doktor?

MEYER. Ich wollte mir nur die Frage erlauben, Herr Portier ... ich habe nämlich die Absicht, morgen eine Tour zu machen, und da wollte ich mir die Frage erlauben, ob man zur Hofbrandhütte einen Führer benötigt.

ROSENSTOCK. O, gewiß nicht, Herr Doktor. Der Weg ist nicht zu fehlen, gut markiert.

MEYER. Und wenn ich dann von der Hütte eine Spitze mitnehmen würde? Zum Beispiel den Aignerturm.

ROSENSTOCK lächelnd. Aignerturm?! ... Aignerturm ist die schwerste Tour in der ganzen Gegend, wird sehr selten gemacht. Nur von ausdauernden, schwindelfreien Kletterern. Heuer ist er überhaupt noch nicht gemacht worden.

MEYER. Pardon, ich meinte nicht den Aignerturm. Mit der Karte. Die Rotwand meinte ich. – Die ist doch nicht so schlimm?

ROSENSTOCK. Gewiß nicht. Da kann jedes Kind hinauf.

MEYER. Noch nie was geschehn?

ROSENSTOCK. Ja, gelegentlich sind auch schon von der Rotwand Leute heruntergefallen.

MEYER. Wie! –

ROSENSTOCK. Das ist schon nicht anders im Gebirge. Es gibt eben überall Dilettanten ...

MEYER. Hm. Also ich danke vorläufig bestens, Herr Portier.

ROSENSTOCK. Bitte sehr.


Doktor Meyer entfernt sich, setzt sich im Erker an einen Tisch und studiert seine Karte, später geht er fort.

Zwei Junge Touristen, Rucksack, Havelock, Bergstöcke, kommen von draußen.


ERSTER TOURIST sehr forsch. Guten Morgen. Guten Abend vielmehr.[264]

ROSENSTOCK. Habe die Ehre.

ERSTER TOURIST. Sagen Sie, haben Sie ein Zimmer mit zwei Betten, oder zwei Zimmer mit je einem Bett?

ROSENSTOCK. Wie ist der werte Name?

ERSTER TOURIST. So – muß man sich hier vorstellen? Bogenheimer, candidatus juris aus Halle. Gebürtig aus Merseburg, evangelisch ...

ROSENSTOCK sehr höflich und ganz wenig lächelnd. Ich wollte nur fragen, ob die Herren bestellt haben.

ERSTER TOURIST. Ne, bestellt ham ma nich.

ROSEENSTOCK sehr höflich. Dann bedaure ich sehr, wir haben leider gar nichts frei.

ERSTER TOURIST. Gar nichts? Das ist aber böse. Auch kein Strohlager ... an das man sich klammern könnte?

ROSENSTOCK. Leider, nein.

DER ZWEITE TOURIST hat hintereinander auf zwei Sesseln Platz genommen, die ihm beide nicht bequem genug zu sein scheinen. Endlich läßt er sich in einen Schaukelstuhl fallen.

ERSTER TOURIST zum zweiten. Was machen ma nu? Zu Rosenstock. Wir haben nämlich vierzehn Stunden Marsch in den Beinen.

ROSENSTOCK mitfühlend. Das ist viel.

ZWEITER TOURIST. Ich rühr' mich nicht vom Fleck.

ERSTER TOURIST. Haben Sie gehört, Herr Cerberus? Mein Kollege, der rührt sich nicht vom Fleck.

ROSENSTOCK. Bitte sehr. Raum für alle hat die Halle.

ERSTER TOURIST. Ah, sind wohl Dichter?

ROSENSTOCK. Nur in dringenden Fällen.

ERSTER TOURIST. Also was sollen ma machen? ...

ROSENSTOCK. Wenn die Herren vielleicht zur Alpenrose schauen wollten ...

ERSTER TOURIST. Ist das auch ein Hotel?

ROSENSTOCK. Sozusagen.

ERSTER TOURIST. Glauben Sie, daß es dort was gibt?

ROSENSTOCK. Die haben immer was.

ERSTER TOURIST. Na, versuchen ma die Alpenrose zu pflücken. Zum andern. Auf, mein Sohn.

ZWEITER TOURIST. Ich rühr' mich nicht. Schicken Sie eine Sänfte um mich, Bogenheimer, wenn Sie was gefunden haben ... Oder einen Maulesel.


Er setzt sich zurecht und schlummert bald ein.


ERSTER TOURIST zu Rosenstock. Also passen Sie nur gut auf meinen[265] Kollegen, daß er ja nicht im Schlummer gestört wird. Im Abgehen. Das Wandern ist des Müllers Lust ...


Ab.


EIN EHEPAAR kommt. Ein Boy hinter ihnen mit Handgepäck.

ROSENSTOCK begrüßt sie.

HERR. Das Zimmer bereit?

ROSENSTOCK. Selbstverständlich, Herr Hofrat. Numero siebenundfünfzig.


Glocke. Ehepaar mit dem Boy zum Lift, fahren hinauf.


PAUL KREINDL kommt, eleganter Reiseanzug, weiter Mantel, grüner Hut mit Gemsbart, rote Handschuhe, Rakett mit der Tasche in der Hand. Boy mit Handgepäck hinter ihm.

PAUL. Guten Tag.

ROSENSTOCK. Habe die Ehre, Herr von Kreindl.

PAUL. Ah, was seh' ich ...! Sie, lieber Rosenstock ...? Sie sind jetzt da? Was wird denn der Semmering ohne Sie anfangen?

ROSENSTOCK. Man steigt eben immer höher, Herr von Kreindl. Von tausend ... auf eintausendvierhundert ...

PAUL. Also haben S' was für mich?

ROSENSTOCK. Selbstverständlich. Leider nur im vierten Stock. Wenn Herr von Kreindl nur um einen Tag früher telegraphiert hätten ...

PAUL. Meinetwegen im sechsten. Ihr habt's ja Lift.

ROSENSTOCK. Wenn er nicht grad ruiniert ist ... Ja ... Herr von Kreindl werden zahlreiche Bekannte hier finden. Herr von Hofreiter ist da, die Frau von Wahl mit Herrn Sohn und Fräulein Tochter, Herr Doktor Mauer, der Dichter Rhon, der hier auf seinen Lorbeern ausruht.

PAUL nach jedem Namen. Weiß ... weiß ... weiß. Nach Rhon. Ah, der auch ... Zum Boy. Schaffen Sie das Zeug da hinauf. Da der Boy sein Rakett nehmen will. Ah nein, das behalt' ich in der Hand. Ja, richtig, Sie, lieber Rosenstock, nichts sagen dem Herrn Hofreiter, daß ich angekommen bin. Überhaupt niemandem. Ich will die Leut' nämlich überraschen.

ROSENSTOCK. Herr Hofreiter befindet sich seit gestern auf einer Partie.

PAUL. Was Großes?

ROSENSTOCK. O nein. Herr Hofreiter hat ja die großen Touren aufgegeben – bekanntlich – seit dem Unglücksfall vor sieben Jahren auf dem Aignerturm. Auf die Hofbrandhütte sind die Herrschaften gegangen. Sind auch Damen dabei. Die Frau[266] Rhon und das Fräulein von Wahl. Da kommt grad die Frau Mama von dem Fräulein.

FRAU WAHL die Stiege herunter in etwas zu jugendlichem Sommerkleid.

PAUL ihr entgegen. Küss' die Hand, gnä' Frau.

FRAU WAHL. Ah, grüß' Sie Gott, lieber Paul. Zu Rosenstock. Sind sie denn noch immer nicht zurück?

ROSENSTOCK. Bisher noch nicht, gnädige Frau.

FRAU WAHL zu Paul. Ich bin nämlich in Verzweiflung ... Also nicht gerade in Verzweiflung ... aber ernstlich besorgt bin ich ... Die Erna ist seit gestern auf einer Partie. Zum Lunch hätte sie zurück sein sollen, jetzt ist's fünf, grad war ich oben in ihrem Zimmer, sie wohnt nämlich in nächster Nähe des Himmels ... immer hat sie solche Sachen! und sie ist noch nicht da. Ich bin außer mir.

PAUL. Es ist doch eine große Gesellschaft, wie ich höre.

FRAU WAHL. Das schon. Der Gustl ist natürlich mit und der Friedrich Hofreiter, und der Doktor Mauer und die Frau Rhon.

PAUL. Na, da wird schon nichts g'schehn sein. Also bitte, gnädige Frau, niemandem sagen, daß ich da bin. Wenn die Herrschaften vielleicht zurückkommen sollten, während ich mich umzieh'. Ich möcht' nämlich gern als Überraschung wirken. Gekränkt. Bei Ihnen ist mir das ja leider nicht gelungen, gnädige Frau.

FRAU WAHL. Da müssen Sie mich heute wirklich entschuldigen, lieber Paul, bei der Aufregung. Was gibt's denn übrigens Neues in Baden? Kommt die Genia nicht her?

PAUL. Frau Hofreiter? Sie hat nichts derartiges geäußert. Und ich hab' sie noch vorgestern gesprochen. Da waren wir nämlich alle zusammen, eine größere Gesellschaft, in der Arena. Also ich werde dann schon so frei sein, ausführlich zu berichten. Vorläufig muß ich meinen äußern Menschen in Ordnung bringen. Wenn man so eine Nacht gefahren ist auf der Eisenbahn und dann noch sechs Stunden im Wagen ... Zu Rosenstock. Überhaupt eine Verbindung!

ROSENSTOCK. In spätestens drei Jahren haben wir eine Bahn herauf, Herr von Kreindl. Unser Herr Direktor fährt in den nächsten Tagen nach Wien in dieser Angelegenheit zum Minister.

PAUL. Das ist g'scheit. Meine Sachen sind schon oben, nicht wahr, Rosenstock?

ROSENSTOCK. Jawohl, Herr von Kreindl.[267]

PAUL. Na schön. Also küss' die Hand, gnä' Frau, und nichts sagen. Zum Lift, hinauf.

ROSENSTOCK zur Frau Wahl. Gnädige Frau brauchen sich wirklich nicht aufzuregen. Die Herrschaften haben doch sogar einen Führer mitgenommen.

FRAU WAHL. Einen Führer zur Hofbrandhütte? Davon hab' ich ja gar nichts gewußt. Hören Sie, das kommt mir aber sonderbar vor.

ROSENSTOCK. Es ist ja nur wegen der Rucksäcke. Man braucht doch wen zum Tragen. Und übrigens ist ja das Fräulein Tochter eine so vorzügliche Touristin ...

FRAU WAHL. Das war der Bernhaupt auch ...

ROSENSTOCK. Ja ... rasch tritt der Tod den Menschen an. Es ist ihm keine Frist gegeben ...

FRAU WAHL. Na – sein S' so gut! ...

ROSENSTOCK. Oh bitte ... das bezieht sich selbstredend nicht auf Fräulein Tochter.

FRAU WAHL. Ich hab' übrigens da ein Buch bei Ihnen liegen lassen, lieber Rosenstock, geben Sie mir's her ... in gelbem Einband ... von Rhon ... Ja, das ist es schon ... Ich werd' mich da ein bissel hersetzen und lesen ... Wenn ich nur kann.

ROSENSTOCK. O, dieses Buch wird gnädige Frau jedenfalls zerstreun. Herr Rhon schreibt ja so gewandt.

FRAU WAHL setzt sich an einen der Tische.

DOKTOR MEYER stand in der Nähe mit der entfalteten Karte, wagt sich jetzt hin. Ich wollte mir nur die Frage erlauben, Herr Portier, ich finde nämlich die Bemerkung im Baedeker, daß die Tour sehr beschwerlich ist, und da wollte ich fragen, ob es sich nicht empfehlen würde, wenn ich zwei Führer ...

ROSENSTOCK. Bitte, können auch zwei Führer haben, Herr Doktor.

SERKNITZ kommt von der Stiege herunter. Groß, stark, Lodenanzug, nachlässig gekleidet, Touristenhemd mit Quasten. Zu Rosenstock, ohne sich um Meyer zu kümmern. Briefe schon da?

ROSENSTOCK. Noch nicht, Herr von Serknitz. In einer halben Stunde etwa.

SERKNITZ. Zustände! Die Post ist doch längst heroben.

ROSENSTOCK. Aber bis sortiert wird, Herr von Serknitz.

SERKNITZ. Sortiert!! Setzen Sie mich da hinunter, ich sortier' Ihnen den ganzen Einlauf in einer Viertelstunde. Wenn ich in meinem Bureau daheim so lange brauchte, um zu sortieren! –[268] Das ist so die österreichische Schlamperei. Da klagt ihr dann über den schlechten Fremdenverkehr.

ROSENSTOCK. Wir klagen nicht, Herr von Serknitz. Wir sind überfüllt.

SERKNITZ. Ihr verdient die Gegend nicht, sag' ich.

ROSENSTOCK. Aber wir haben Sie, Herr von Serknitz.

SERKNITZ. Ich erlasse Ihnen den Adel, Herr Portier. Ich fall' Ihnen ja auf diesen Schwindel doch nicht hinein. Übrigens komm' ich gar nicht wegen der Post. Ich komme wegen der Wäsche.

ROSENSTOCK. Bitte, Herr Serknitz, damit hab' ich nichts ...

SERKNITZ. Sie oder wer andrer. Das Mädchen oben weist mich ans Bureau, seit drei Tagen wart' ich auf meine Wäsche.

ROSENSTOCK. Ich bedaure wirklich sehr. Übrigens kommt hier der Herr Direktor.

SERKNITZ. Nicht allein – wie gewöhnlich.

DOKTOR VON AIGNER kommt eben von draußen mit einer sehr schönen Spanierin, von der er sich jetzt empfiehlt.

DIE SPANIERIN zum Lift, fährt hinauf.


Doktor von Aigner, ein Mann von über fünfzig Jahren, noch sehr gut aussehend. Eleganter Gebirgsanzug mit Stutzen, schwarz-grau meliertes Haar, Knebelbart, Monokel, liebenswürdig, nicht ohne Affektation. Kein Hut.


SERKNITZ. Herr Direktor ...

AIGNER bezwingend höflich. Sofort ... Zu Rosenstock. Lieber Rosenstock. Exzellenz Wondra trifft schon morgen ein, statt am Donnerstag und braucht, wie Sie wissen, vier Zimmer.

ROSENSTOCK. Vier Zimmer, Herr Direktor, für morgen ... Wie soll ich denn das machen? Da müßt' ich ja die Leute ... Verzeihn, Herr Direktor, da müßt' ich ja die Leute umbringen.

AIGNER. Gut, lieber Rosenstock, aber möglichst ohne Aufsehn. Zu Serknitz, stellt sich vor. Doktor von Aigner ... Womit kann ich dienen?

SERKNITZ nicht ohne Verlegenheit, die er hinter gespielter Sicherheit zu verbergen sucht. Serknitz ... Ich habe eben ... ich muß meine Entrüstung oder mindestens meine Mißbilligung ausdrücken, – Losbrechend. Kurz und gut, es ist eine fürchterliche Wirtschaft in Ihrem Hotel.

AIGNER. Das täte mir leid. Worüber haben Sie sich zu beklagen, Herr Serknitz?[269]

SERKNITZ. Ich kann nämlich meine Wäsche nicht bekommen. Seit drei Tagen urgiere ich. Ich befinde mich bereits in der größten Verlegenheit.

AIGNER. Das seh' ich. Aber wollen Sie sich nicht an das Zimmermädchen ...

SERKNITZ. Sie sind der Direktor! An Sie wend' ich mich. Es ist immer meine Art gewesen, an die höchste Instanz zu appellieren. Es macht mir wahrhaftig nicht viel Spaß, in diesem Aufzug unter Ihren Gräfinnen und Dollarprinzessinnen zu erscheinen.

AIGNER. Verzeihn Sie, Herr Serknitz, es herrscht bei uns keinerlei Zwang, was die Kleidung anbelangt.

SERKNITZ. Keinerlei Zwang! ... Meinen Sie, man merkt nicht, wie verschieden die Gäste hier behandelt werden?

AIGNER. Oh ...

SERKNITZ. Ich sag' es Ihnen auf den Kopf zu, Herr Direktor, wenn hier, statt eines einfachen Herrn Serknitz aus Breslau, ein Lord Chamberlain oder eine Exzellenz Bülow stünde, Sie würden einen andern Ton anschlagen. Jawohl, Herr Direktor. Und es wäre sehr angezeigt, wenn Sie draußen vor dem Tore ein Plakat anheften ließen: In diesem Hotel fängt der Mensch erst beim Baron oder beim Bankdirektor oder beim Amerikaner an.

AIGNER. Das würde der Wahrheit nicht entsprechen, Herr Serknitz.

SERKNITZ. Meinen Sie, weil ich nicht im Auto hier vorgefahren bin, hab' ich nicht den Anspruch auf die gleiche Rücksicht wie irgend ein Trustmagnat oder ein Minister? Der Mann ist noch nicht geboren, der es sich erlauben dürfte, mich von oben herab zu behandeln. Ob er nun ein Monokel trägt oder keins.

AIGNER immer ruhig. Wenn Sie, Herr Serknitz, etwas an meiner Haltung persönlich kränken sollte, so steh' ich selbstverständlich in jeder Weise zur Verfügung.

SERKNITZ. Haha! Ich soll mich wohl mit Ihnen duellieren? Das ist das Allerneueste. Das müssen Sie sich patentieren lassen. Man beklagt sich, daß einem die Hemden und – sonstiges nicht geliefert wird, und dafür soll man noch totgeschossen werden. Hören Sie, Herr Direktor, wenn Sie glauben, daß Sie damit den Zuspruch Ihres Hotels besonders fordern werden, so befinden Sie sich in einem gewaltigen Irrtum. Auf der Stelle[270] würde ich dieses lächerliche Lokal, dieses Eldorado von Snobs, Hochstaplern und Börsenjuden mit Extrapost verlassen, wenn ich Lust hätte, Ihnen meine Wäsche zum Geschenk zu machen. Vorläufig sehe ich einmal nach, ob sie indes gekommen ist. Ich habe die Ehre, Herr Direktor.

AIGNER. Guten Tag, Herr Serknitz. Zu Frau Wahl hin, die er schon einmal während des Gesprächs durch ein Kopfnicken gegrüßt hat. Guten Tag, gnädige Frau.

FRAU WAHL. Ich bewundere Ihre Geduld, Herr Direktor.

AIGNER. Das lernt sich.

FRAU WAHL. Ich wollte, ich hätte etwas von Ihrer Selbstbeherrschung.

AIGNER. Was gibt's denn?

FRAU WAHL. Ich bin in einer grenzenlosen Aufregung. Unsere Kompagnie ist noch immer nicht zurück.

AIGNER. Aber ich bitte Sie, gnädige Frau ... Von der Hofbrandhütte ist noch jeder zurückgekommen. Das ist ja ein Spaziergang ... Erlauben Sie? Er setzt sich.

FRAU WAHL. Ob ich erlaube? Man muß es immer dankbar annehmen, wenn Sie einmal nicht anderweitig beschäftigt sind ... exotisch ... erotisch ...

AIGNER. Exotisch ... erotisch ...? Das ist nicht von Ihnen, gnädige Frau. So boshaft sind Sie nicht, schöne Frau.

FRAU WAHL. Nein ... es ist von Rhon.

AIGNER. Ja ... ich dacht' es ... Ein Dichter, der Herr Rhon ... ja ... Was Sie da wieder für eine reizende Brosche haben, gnädige Frau! Bauernbarock. Wirklich famos.

FRAU WAHL. Ja, ganz hübsch, nicht wahr? Und gar nicht teuer. Na, billig ist sie grad auch nicht. Der Swatek in Salzburg hebt mir immer die Sachen auf. Er kennt schon meinen Geschmack.

ALBERT RHON mittelgroßer, dicker Herr, mit schwarzem, graumeliertem, etwas ungeordnetem Haar, bequemer Sommeranzug, die Treppe herunter. Grüß' Sie Gott, gnädige Frau. Guten Abend, Direktor. Na, sind unsere Hochtouristen noch nicht zurück?

FRAU WAHL. Was sagen Sie!? Nein!

RHON. Sie werden schon kommen ... werden vielleicht etwas solenn gefrühstückt haben ... Meine Gattin jedenfalls.

EINE SEHR SCHÖNE ENGLÄNDERIN tritt in die Nähe, zu Aigner, mit englischem Akzent. Herr Direktor, darf ich bitten, auf ein Wort.[271]

AIGNER. Bitte ... Zu ihr, mit ihr nach rückwärts.

RHON zur Frau Wahl. Wissen Sie, wer das ist? Seine neueste Eroberung.

FRAU WAHL. Die? Gestern haben Sie mir ja eine andre gezeigt.

RHON. Gestern war's auch eine andre. Ja, das ist ein Mensch! Haben Sie denn eine Ahnung, wie der in der Gegend hier gehaust hat? Sagen Sie, gnädige Frau, ist Ihnen zum Beispiel noch nicht die Ähnlichkeit unseres Oberkellners mit Aigner aufgefallen?

FRAU WAHL. Sie glauben? Sie halten diesen Oberkellner für seinen Sohn?

RHON. Mindestens für seinen Neffen. Ja, das ist so ein Wüstling, – daß ihm auch die Neffen ähnlich sehn.

FRAU WAHL. Daß Sie überhaupt in der Laune sind, Späße zu machen! Zum Lunch wollten sie da sein. Jetzt ist es halb sechs. Ich mache mir wirklich Vorwürfe, daß ich nicht mitgegangen bin.

RHON. Da tun Sie unrecht, gnädige Frau. Was hätten Sie zur Rettung beitragen können? Wir hätten nur ein Opfer mehr zu beweinen.

FRAU WAHL. Schauderhaft find' ich Ihre Witze. Sie scheinen zu vergessen, daß Ihre Frau auch dabei ist. Wie kann man seine Frau überhaupt auf so lange fortlassen?

RHON. Sie wissen, Frau von Wahl, daß mir das Bergsteigen kein Vergnügen macht. Mir fehlt überhaupt das Talent – für das Manuelle sozusagen. Und ferner schreib' ich eine Tragödie.

AIGNER ist wieder hervorgetreten.

RHON. Jetzt sollten sie ja allerdings schon zurück sein. Wenigstens meine Frau. Ich bin gewohnt von ihr, beim Wiedereintritt ins Alltagsleben empfangen zu werden. Wir verbringen die Zwischenakte miteinander.

AIGNER. Meistens beim Büfett.

RHON ihm auf die Schulter klopfend, gutmütig. Ja, ja, Direktor. Sagen Sie übrigens, ist das wirklich eine so ungefährliche Sache, diese Hofbrandhütte?

AIGNER. Ich sagt' es eben früher: Ein Spaziergang. Die Hofbrandhütte trau' ich mir sogar noch zu.

FRAU WAHL. Warum sind Sie nicht mitgegangen, Direktor? Es wäre doch eine Beruhigung.

AIGNER. Ja, ich habe hier leider einiges zu tun, wie Sie ja früher bemerkt haben, gnädige Frau. Und dann, da ich eben nicht[272] viel weiter könnte – als bis zur Hofbrandhütte, zieh' ich es vor, – nicht einmal bis dahin zu gehn.

RHON. Das ist ganz fein. Aber hören Sie, Direktor, da fällt mir eben ein, ist von der Hütte aus nicht der Anstieg zu Ihrem Turm? Zum Aignerturm, mein' ich?

AIGNER. Ja, es war einmal meiner! Jetzt gehört er mir nicht mehr ... Andern freilich auch nicht.

RHON. Das muß doch ein recht eigentümliches Gefühl sein, so zu Füßen eines Turmes zu sitzen, den man als erster bestiegen hat und selbst nicht mehr in der Lage zu sein ... Man könnte hier einen Vergleich wagen ... den ich aber lieber unterlassen will. Nebstbei bin ich überzeugt, Sie bilden sich nur ein, daß Sie nicht mehr hinauf können, Direktor. Ich habe so meine Gedanken über Sie. Ich halte Sie nämlich für einen Hypochonder.

AIGNER. Wollen wir dieses Thema nicht lieber fallen lassen, Herr Rhon?

FRAU WAHL stößt einen leichten Schrei aus.

RHON. Was haben Sie denn, gnädige Frau?

FRAU WAHL. Am Ende sind sie auf dem Aignerturm.

RHON auch etwas erschrocken. Was fällt Ihnen ein?

FRAU WAHL. Selbstverständlich. Sonst müßten sie ja schon zurück sein. Sie haben auch einen Führer mit. Kein Zweifel. Herr Direktor, Sie sind mit im Komplott, gestehn Sie's lieber gleich ein.

AIGNER. Ich kann es beschwören, daß mit keinem Wort ...

RHON. Dort steht ein Führer.

FRAU WAHL. Wo? Das ist ja der Penn. Vielleicht war's der ...

DER FÜHRER PENN steht beim Portier.

RHON UND FRAU WAHL rasch zu ihm hin.

FRAU WAHL. Waren Sie mit der Hofreiter-Partie, Penn? ...

PENN. Freili.

Sehr schnell.

FRAU WAHL. Wo ist meine Tochter?

RHON. Wo ist meine Frau?

FRAU WAHL. So reden Sie doch.

RHON. Wann sind Sie denn überhaupt zurückgekommen?

FRAU WAHL. Wo sind denn die andern? Wieso sind Sie allein? Was ist geschehn ...?

PENN lächelnd. Gnädig' Frau, mir sein schon alle wieder da. Brav hat sich das gnädig' Fräulein gehalten.

FRAU WAHL. Was heißt das?[273]

RHON. Wo waren Sie denn?

PENN. Auf dem Aignerturm sind wir g'wesen.

FRAU WAHL mit leichtem Schrei. Also doch! Also doch! Es ist furchtbar.

AIGNER. Aber, gnädige Frau, da sie doch alle glücklich wieder zurück sind ...

RHON. Auch meine Frau war auf dem Aignerturm? Das ist doch nicht möglich?

PENN. Nein, die kleine Dicke ist nicht mit oben g'wesen. Nur das Fräul'n Erna und der Hofreiter und der Doktor Mauer.

RHON. Und meine Frau?

FRAU WAHL. Und mein Sohn?

PENN. Die haben g'wartet auf uns in der Hütten, bis wir wieder zurück waren.

FRAU WAHL. Aber wo sind sie denn?

PENN. Die Herrschaften sind alle durch die Schwemm 'einagangen, damit s' kein Aufsehn machen.

FRAU WAHL. Ich muß hinauf, ich muß Erna sehn. Zu Aigner. O, Sie ... – Zum Lift hin; da er eben oben ist, klingelt sie verzweifelt. Zu Aigner. Warum sich Ihr Lift meistens im vierten Stock oben aufhält! Das ist auch so eine geheimnisvolle Eigentümlichkeit Ihres Hotels. Zu Rhon. Fahren Sie nicht mit?

RHON. Ich kann warten.


Der Lift herunter mit dem Boy.


RHON zieht Frau Wahl beiseite. Sehn Sie sich einmal den Boy an.

Sonderbare Ähnlichkeit –!

FRAU WAHL. Mit wem?

RHON. Na ... Weist auf Aigner.

FRAU WAHL. Auch ein Sohn von ihm ...?

RHON. Wohl schon ein Enkel.

FRAU WAHL. Ach Gott, Sie ... Fährt mit dem Lift hinauf.

AIGNER zu Penn. Also ihr wart richtig auf dem Turm?

PENN. Ja, Herr Direktor. Leicht ist's nicht gewesen.

AIGNER. Das kann ich mir denken.

PENN. Wissen S', Herr Direktor, ich hab' mir schon denkt, daß das Unwetter vor acht Tagen wird was ang'stellt haben. Ein paarmal haben wir uns fein ducken müssen. Und dann die letzten hundert Meter, weiß der Teufel ... was da g'schehn ist seit dem vorigen Jahr. Da hat man doch noch einen Tritt g'habt und g'wußt, wo man das Seil sichern kann, diesmal ham mir schier fliegen müssen ...[274]

AIGNER. Aber oben war's schön.

PENN. Sell wissen ja der Herr Direktor. Oben is immer schön. Und gar auf dem Aignerturm.

DOKTOR MEYER mit der gänzlich entfalteten Landkarte, schüchtern zum Portier hin.

ROSENSTOCK. Da war' grad ein Führer, Herr Doktor.

MEYER. Danke bestens. Zu Penn hin. Wenn ich mir erlauben dürfte ...

GUSTL WAHL kommt in einem eleganten Sommeranzug, spricht mit einer gewissen affektierten Schläfrigkeit, zuweilen wieder absichtlich bedeutungsvoll. Immer mit Humor. Grüß' Gott, Direktor. Guten Abend, Meister Rhon. Beglückwünsche Sie zu Ihrer Gattin. Sie spielt großartig Domino.

RHON. Sie haben Domino mit ihr gespielt? Warum sind Sie denn nicht oben auf dem Aignerturm gewesen? Sie sind doch ein so großer Tourist. Im vorigen Jahr waren Sie doch auf dem Himalaja oder ...

GUSTL. Das Klettern habe ich längst aufgegeben, jetzt bin ich nur mehr ein Hüttenwanderer. Auch nicht schlecht.

RHON. Und die ganze Zeit haben Sie Domino gespielt? Während die andern in Lebensgefahr geschwebt haben? Von meiner Frau wundert's mich nicht. Frauen haben keine Phantasie. Aber Sie ...

GUSTL. Die ganze Zeit haben wir nicht gespielt. Zuerst hab' ich versucht, mit Ihrer Frau Gemahlin ein Gespräch zu führen.

RHON. Über buddhistische Philosophie wahrscheinlich.

GUSTL. Größtenteils.

RHON. Meine Frau interessiert sich nicht für Buddha.

GUSTL. Ja, den Eindruck hab' ich auch gehabt. Und darum hab' ich dann lieber mit ihr Domino gespielt. Im Freien bitte! Auf einer herrlichen, mit den seltensten Alpenpflanzen übersäten Wiese!

AIGNER. Seit wann haben denn die da oben ein Dominospiel?

GUSTL. Das findet sich immer. Diesmal war's in meinem Rucksack. Ich entferne mich nie auf längere Zeit ohne ein Dominospiel von Hause.

AIGNER. Sonderbarer Geschmack.

GUSTL. Es ist das schwerste Spiel, das es gibt. Schwerer als Schach. Wissen Sie, wie viel Kombinationen es in dem Spiel gibt?

RHON. Woher soll ich das wissen?

GUSTL. Ich aber weiß es ... Ich habe mich jahrelang mit der Philosophie der Spiele beschäftigt.[275]

RHON. Und Sie haben nicht gezittert?

GUSTL. Warum denn? Mir liegt nichts am Verlieren.

RHON. Während Ihre Schwester zwischen Himmel und Erde ...

GUSTL. Aber, bitt' Sie, meiner Schwester g'schieht doch nichts, die wird vierundachtzig Jahre alt.

RHON. Das wissen Sie ganz bestimmt?

GUSTL. Ich hab' ihr das Horoskop gestellt. Sie ist unter dem Skorpion geboren ... die darf noch mit dreiundachtzig Jahren eine Gletscherwanderung wagen, wenn's ihr Spaß macht.

RHON. Sie werden mir doch nicht einreden, daß Sie an solche Sachen glauben?

GUSTL. Warum nicht? – Ich erkenn' sogar den meisten Leuten auf den ersten Blick an – unter welchem Sternbild sie geboren sind.

FRAU ROHN kommt. Kleine, hübsche, ziemlich dicke Frau, stürzt ihrem Gatten an den Hals. Da bin ich wieder.

GUSTL zu Aigner. Schaun Sie sich zum Beispiel die Frau Rhon an ...

AIGNER. Nun –?

GUSTL. Ausgesprochener Steinbock! ...

RHON. Na, laß nur, wir sind ja nicht allein.

AIGNER. Bitte, genieren Sie sich gar nicht.

RHON kühl. Na, ist's schön gewesen, Kind?

FRAU RHON. Aber prachtvoll.

RHON. Ich höre, ihr habt Domino gespielt.

FRAU RHON. Du bist bös'? Ich hab' gewonnen.

RHON. Ist mir jedenfalls lieber, als wenn du auch versucht hättest herumzuklettern.

FRAU RHON. Du, einen Moment hab' ich wirklich daran gedacht. Sie haben mich nur durchaus nicht mitnehmen wollen.

RHON. Na, höre, das fehlte mir noch, daß du auf solche Ideen kommst. Ich habe keine Lust, mir durch die Sorge um dich die Wonne des Alleinseins verderben zu lassen. Wenn du nicht bei mir bist, will ich überhaupt nicht an dich denken müssen.

GUSTL. Dafür hat sie auch nicht an Sie gedacht, Meister Rhon, das versichere ich Sie. Es wird Ihnen schon einmal schlimm ergehn. Ich war nur zufällig nicht das Genre von Ihrer Frau.

RHON. Sagen Sie, Gustl, warum sind Sie denn so taktlos?

GUSTL. Wissen Sie nicht, daß ich darauf reise? Und überhaupt – was ist Takt! Eine Tugend dritten Ranges. Das Wort sogar ist ziemlich neu. Findet sich weder bei den Römern, noch bei[276] den Griechen, noch – höchst charakteristisch – im Sanskrit.

FRAU RHON zu Rhon. Na, und du, was hast du denn gemacht indes? Bist du weiter gekommen?

RHON. Schluß des dritten Aktes, das Publikum stürmt tief ergriffen ins Restaurant ...

FRAU RHON. Da bin ich also grad recht zurückgekommen.

RHON. Ja, nur dauert der Zwischenakt diesmal nicht lang. Von morgen früh an sperr' ich mich wieder ein und bleibe unsichtbar. Werde sogar, wenn du nichts dagegen hast, nicht an der Table d'hôte essen, sondern in der Schwemm', damit ich durch den unerwünschten Anblick blöder Gesichter nicht aus der Stimmung gerissen werde. Du kannst dann wieder Domino spielen.

GUSTL. Gnädige Frau, lassen Sie sich scheiden von ihm. Wie kann man überhaupt einen Dichter heiraten? Das sind Unmenschen. Früher war's viel besser, wo man sich einen Dichter gehalten hat, wie einen Sklaven oder einen Friseur. Übrigens bestehn jetzt noch ähnliche Zustände auf den Azoren. Aber Dichter frei herumrennen lassen, das ist ja ein Blödsinn.

FRIEDRICH kommt in einem eleganten Touristenanzug. Guten Abend, meine Herrschaften, küss' die Hand, schöne Dichtersfrau. Wie, auch schon umgekleidet? Das ist aber g'schwind gegangen.

AIGNER der eben beim Portier steht. Grüß' Sie Gott, Hofreiter.

FRIEDRICH. Guten Abend, Direktor. Zu Rosenstock. Nichts da für mich? Kein Telegramm? Kein Brief? Merkwürdig. Zu Aigner. Also ich kann Ihnen mitteilen, daß sich da oben nicht das geringste geändert hat, auf der Spitze wenigstens. Die Wegverhältnisse sind allerdings wieder ein bißchen schlimmer geworden. Oder ist man nur älter? Jetzt ist es Lebensgefahr, hinaufzuklettern, – aber wenn das mit dem Abbröckeln so weiter geht, ist es der sichere Selbstmord.

AIGNER. Ja, der Penn hat mir berichtet.

FRIEDRICH. Wissen Sie, Aigner, wenn man in diese Rinne kommt, ungefähr dreihundert Meter unterm Gipfel ...

AIGNER unterbricht ihn. Bitte, erzählen Sie mir nichts. Abgetan ist abgetan. Wie hat sich denn die Kleine gehalten?

FRIEDRICH. Erna? Einfach prachtvoll.

AIGNER. Daß Sie sie da mirgenommen haben ... ich muß sagen ...

FRIEDRICH. Sie hat uns mitgenommen. Ich hatte überhaupt nicht die Absicht, den Turm noch einmal in meinem Leben zu[277] machen. Wo ist denn übrigens der Mauer?

AIGNER. Ich hab' ihn noch nicht gesehn.

RHON. Sagen Sie, Herr Hofreiter, wie war's Ihnen eigentlich zumute, als Sie an der gewissen Stelle vorbeikamen?

FRIEDRICH. An der gewissen Stelle? Mein Gott, sieben Jahre sind eine lange Zeit. Ich habe Dinge beinahe vergessen, die viel kürzere Zeit zurückliegen. Ich vergesse sehr rasch ... wenn ich will.

RHON. Nun ja ... man kommt wahrscheinlich öfters an Stellen wieder vorüber, wo jemand neben uns hinabgestürzt ist, nur erkennt man sie manchmal nicht wieder. Glauben Sie nicht –?

FRIEDRICH. Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie wenig ich zum Philosophieren aufgelegt bin, Meister Rhon ...

PAUL KREINDL kommt rasch die Treffe herunter. Habe die Ehre, Herr Hofreiter.

FRIEDRICH ziemlich gleichgültig. Ah – Paulchen? Grüß' Sie Gott.

PAUL. Guten Tag, Herr Rhon. Ich hatte schon einmal das Vergnügen ... Also vor allem habe ich eine Menge Grüße zu überbringen. Zuerst von Frau Gemahlin, ferner vom Oberleutnant Stanzides, dann vom Natternpaar, dann von Frau Meinhold-Aigner, dann vom jungen Herrn von Aigner ...

FRIEDRICH. Erlauben Sie, daß ich vorstelle ... Herr Paul Kreindl – Herr Direktor von Aigner.

PAUL. Ah ... sehr angenehm ... Er schweigt betroffen, dann zu Aigner, gefaßt. Ich habe nämlich das Vergnügen, Ihren Herrn Sohn zu kennen.

AIGNER ruhig. Ich leider nicht.

FRIEDRICH. Also was gibt's Neues in Baden? Ruhig. Wissen S'nicht – kommt meine Frau vielleicht her?

PAUL. Bedaure, mir hat die gnädige Frau nichts gesagt.

FRIEDRICH. Amüsiert man sich gut?

PAUL. Glänzend! Neulich waren wir alle zusammen in der Arena. Die Frau Gemahlin wird Ihnen ja geschrieben haben.

FRIEDRICH. Ja, natürlich.

PAUL. Und vorher waren wir auf der Hauswiese, wo so eine Art Volksfest stattgefunden hat. Wir haben uns auch unter das Volk gemischt. Haben sogar getanzt.

FRIEDRICH. Meine Frau auch?

PAUL. Ja, natürlich, mit dem Herrn Fähnrich ... Und in der Arena, da war eine große Sensation, wie nämlich die Schauspieler von der Bühne plötzlich die berühmte Frau Meinhold[278] in einer Loge entdeckt haben. Sie haben dann eigentlich nur mehr für uns gespielt.

RHON. Was ist denn gegeben worden?

PAUL. Entschuldigen, darauf hab' ich nämlich gar nicht aufgepaßt.

RHON. Für diese Menschen vergießt man sein Herzblut.

PAUL zu Rhon. Ah, ist da nicht Ihre Frau Gemahlin? Die Herren entschuldigen. Zu Frau Rhon und Gustl, die an einem Tisch sitzen.

RHON folgt ihnen.


Friedrich, Aigner.


FRIEDRICH zündet sich eine Zigarette an und setzt sich.

AIGNER. Ich wußte gar nicht, daß meine einstige Familie so viel in Ihrem Hause verkehrt?

FRIEDRICH. Ja, man sieht sich zuweilen. Insbesondere hat sich Ihre einstige Gattin sehr mit meiner Frau angefreundet. Und mit Otto spiel' ich manchmal Tennis. Er spielt famos. Überhaupt – zu Ihrem Sohn kann man Ihnen gratulieren. Man prophezeit ihm eine große Zukunft. Er soll sehr beliebt sein bei seinen Vorgesetzten. Vielleicht ist er der künftige Admiral von Österreich.

AIGNER. Sie erzählen mir Geschichten von einem fremden jungen Mann.

FRIEDRICH. Sagen Sie, Aigner, Sie haben wirklich nicht die geringste Sehnsucht, ihn wiederzusehn?

AIGNER. Wiederzusehn? Sie könnten höchstens sagen, ihn kennen zu lernen. Denn der Fähnrich von heute hat wohl mit dem jungen Herrn, dem ich vor ungefähr zwanzig Jahren den letzten Vaterkuß auf die Stirne drückte, weder äußerlich noch innerlich mehr die geringste Ähnlichkeit.

FRIEDRICH. Also nicht Sehnsucht, ihn wiederzusehn – aber Interesse, ihn kennen zu lernen –? Es wäre jetzt eine famose Gelegenheit. Sie haben nächstens in Wien zu tun –?

AIGNER. Ja, ich muß zum Minister. Wir wollen hier eine Bahn bauen, wie Ihnen bekannt ist. Über Atzwang Völs direkt hier herauf. Sie werden zugeben, daß hier noch drei Hotels stehen könnten.

FRIEDRICH. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Aigner. Steigen Sie bei uns in Baden ab. In unserer Villa ist Platz genug. Wir haben ein schönes Fremdenzimmer. Ja. Ein sehr gemütliches. In dem nur manchmal die Geister von verstorbenen Freunden[279] erscheinen, die früher dort übernachtet haben. Das geniert Sie doch nicht?

AIGNER. Gegen Geister von Verstorbenen habe ich nichts einzuwenden, nein. Aber lebendige Gespenster sind mir unsympathisch.

FRIEDRICH. Es würde mir wirklich verdammt viel Spaß machen, Aigner, Sie mit Ihrem Sohn bekannt zu machen. Man könnte das so hübsch arrangieren – in unserm Garten, wir spielen Tennis, Sie erscheinen plötzlich ... als vornehmer Fremder ...

AIGNER. Danke schön, mein guter Hofreiter. – Ich sag' ja nicht, daß ich einen Zufall dieser Art vermeiden würde, aber – eine arrangierte Begegnung, – das hätte einen fatalen Beigeschmack von Sentimentalität.

FRIEDRICH beiläufig. Warum denn ...?

AIGNER. Auch vergessen Sie, daß ich bei dieser Gelegenheit doch auch wieder meiner verflossenen Gemahlin begegnen müßte – und das möchte ich lieber vermeiden.

FRIEDRICH. Wie Sie glauben.


Pause.


AIGNER. Es gibt übrigens wirklich sonderbare Zufälle ...

FRIEDRICH. Wie meinen Sie das?

AIGNER. Daß Sie mir gerade heute ... von meinem Sohn zu sprechen anfangen ... bei Ihrer Rückkehr von dort oben ...

FRIEDRICH. Es fügte sich so ... Wenn nicht Paul Kreindl begonnen hätte ...

AIGNER. Wissen Sie, wann ich die Erstbesteigung dieses Turmes unternahm, von dem Sie eben herunterkommen? – Es war sehr bald, nachdem ich mich von ... meiner Frau getrennt hatte.

FRIEDRICH. Wollen Sie damit sagen, daß da – ein Zusammenhang bestand?

AIGNER. Gewissermaßen ... Ich will ja nicht eben behaupten, daß ich den Tod gesucht habe – der wäre einfacher zu haben gewesen – aber viel am Leben lag mir damals nicht. Vielleicht auch, daß ich eine Art Gottesurteil herausfordern wollte.

FRIEDRICH. Hören Sie, wenn alle Ehemänner in einem solchen Fall auf Felsen klettern wollten ... die Dolomiten würden einen possierlichen Anblick bieten. Sie haben doch schließlich nichts Schlimmeres getan als mancher andere auch.

AIGNER. Es kommt immer nur darauf an, wie so etwas von dem andern Teil empfunden wird ... Meine Gattin hatte mich sehr geliebt.[280]

FRIEDRICH. Das hätte ein Grund mehr für sie sein sollen, nicht unversöhnlich zu bleiben.

AIGNER. Möglich. Aber auch ich hatte sie sehr geliebt. Hier liegt das Problem! – Unendlich ... Wie keine früher und keine ... na, lassen wir das. Sonst wär' es ja zu reparieren gewesen. Aber gerade, daß ich sie so sehr liebte – und trotzdem fähig war, sie zu betrügen ... sehen Sie, mein lieber Hofreiter, das machte sie irre an mir und an der ganzen Welt. Nun gab es überhaupt keine Sicherheit mehr auf Erden ... keine Möglichkeit des Vertrauens, verstehen Sie mich, Hofreiter –? – Nicht, daß es geschehn, nein, daß es überhaupt möglich gewesen war, das war's, was sie von mir forttrieb. Und ich mußte es begreifen. Ich hätte es sogar vorhersehen können.

FRIEDRICH. Ja, da muß ich allerdings fragen, warum ...

AIGNER. Warum ich sie betrogen habe –? ... Sie fragen mich? Sollt' es Ihnen noch nicht aufgefallen sein, was für komplizierte Subjekte wir Menschen im Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum in uns –! Liebe und Trug ... Treue und Treulosigkeit ... Anbetung für die eine und Verlangen nach einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos. Ja – mein guter Hofreiter, die Seele ... ist ein weites Land, wie ein Dichter es einmal ausdrückte ... Es kann übrigens auch ein Hoteldirektor gewesen sein.

FRIEDRICH. Der Hoteldirektor hat nicht so unrecht ... ja. Pause. Das Malheur war im Grunde nur, daß Ihre Gattin Ihnen draufgekommen ist. Sonst wären Sie vielleicht heute noch die glücklichsten Eheleute.

AIGNER. Ein Malheur – ja ...! –

FRIEDRICH. Wie hat sie's denn eigentlich erfahren?

AIGNER. ... Wie? Auf die einfachste Art von der Welt ... Ich hab' es ihr gestanden ...

FRIEDRICH. Wie –? Sie haben ihr –?

AIGNER. Ja. Das war ich ihr schuldig – gerade weil ich sie anbetete. Ihr und mir. Ich wäre mir recht feig vorgekommen, wenn ich's ihr verschwiegen hätte. So leicht darf man sich die Dinge doch eigentlich nicht machen. Finden Sie nicht ...?

FRIEDRICH. Das war ziemlich großartig gedacht – wenn es nicht eben nur eine Art Affektation war. Oder Raffinement ... Oder Bequemlichkeit ...[281]

AIGNER. Oder alles zugleich, was auch möglich wäre. Denn die Seele – und so weiter.

FRIEDRICH. Und trotz dieser fabelhaften Aufrichtigkeit – und trotz aller Liebe hat Ihre Frau sich nicht entschließen können, Ihnen zu –

AIGNER. Sagen Sie um Gottes willen nicht »verzeihn«. Worte dieser Art passen hier durchaus nicht her. Es gab auch niemals eine Szene zwischen uns oder dergleichen. Es war nur zu Ende, mein guter Hofreiter, zu Ende, unwiderruflich zu Ende. Sofort ... Das fühlten wir beide. Es mußte zu Ende sein ...

FRIEDRICH. Es mußte –?

AIGNER. Mußte. Ja. Nun, lassen wir – die Lebenden ruhn. Die Toten besorgen das im allgemeinen auch ohne unser Zutun.

FRAU WAHL kommt von oben. Ah, da ist er ja –!

FRIEDRICH. Küss' die Hand, Mama Wahl.

FRAU WAHL. Mit ihnen, Friedrich, red' ich über haupt niemals ein Wort mehr. Und wenn sie abgestürzt wäre? Wie ständen Sie da? Könnten Sie mir je wieder unter die Augen treten? Auch mit dem Doktor Mauer bin ich fertig. Wo ist er denn? Es ist ja ungeheuerlich. Ich könnte euch beiden ...

FRIEDRICH. Aber, Mama Wahl, die Erna wär' auch ohne uns hinaufgeklettert.

FRAU WAHL. Ihr hättet sie anbinden müssen.

FRIEDRICH. Das war sie, Mama Wahl. Das waren wir alle. An einem und demselben Seil.

FRAU WAHL. Ein Narrenseil gehört für euch.

ERNA kommt im weißen Sommerkleid. Guten Abend.

AIGNER. Gott grüße Sie, Erna. Gott grüße Sie. Er nimmt sie bei den Händen und küßt sie auf die Stirn. Sie erlauben.

FRIEDRICH. Wie der alte Liszt die jungen Klavierspielerinnen.

ERNA küßt Aigner die Hand. Und wie eine ganz junge Klavierspielerin dem noch nicht besonders alten Liszt.

AIGNER. Aber Erna ...

FRAU WAHL. Das auch noch.

ERNA. Es war die schönste Stunde, Herr von Aigner, die ich je erlebt habe.

AIGNER. Ja, dort oben! ... Und doch hoff' ich, Sie werden noch schönere erleben, Erna.

ERNA. Das halt' ich für schwer möglich. Daß das Leben einem wieder einmal geradeso schön vorkommt, das könnte sich ja vielleicht[282] ereignen. Aber daß einem der Tod zu gleicher Zeit so vollkommen gleichgültig ist, das passiert einem gewiß nur bei solchen Gelegenheiten. Und das ... das ist das Wundervolle! ...


Indes ist die Pott angelangt. Rosenstock ordnet Briefe Hotelgäste kommen, empfangen ihre Korrespondenz usw.


PAUL. Fräulein Erna, gestatten Sie auch mir, Ihnen meine Bewunderung zu Füßen zu legen.

ERNA. Grüß' Sie Gott, Paul, wie geht es Ihnen?

PAUL. Ja, zum Teufel, pardon ... wundert sich denn niemand, daß ich da bin?

FRIEDRICH der sitzt. Hören Sie, Paul, es ist ein viel größeres Wunder, daß wir da sind.

AIGNER steht mit einer schönen Französin etwas abseits.

RHON zu Frau Wahl. Sehen Sie doch, gnädige Frau, das ist die morgige. Er sammelt Vorräte ...

ERNA zu Frau Wahl die sich von Rosenstock ihre Briefe hat geben lassen. Na, Mama ...?

FRAU WAHL. Von Haus. Ah, da ist eine Karte von Ihrer Frau. Zu Friedrich. Sie läßt Sie schön grüßen, Friedrich.

FRIEDRICH. Daß sie kommt – schreibt sie Ihnen nicht?

ROSENSTOCK. Da sind auch Briefe für Sie, Herr Hofreiter.

FRIEDRICH steht auf. So? Ah, da ist ja auch einer von Genia.

GUSTL legt sich Briefe auf die Stirne.

FRAU RHON zu Gustl. Was machen Sie denn da?

GUSTL. Ich lese nämlich Briefe schon lange nicht mehr. Ich leg' sie mir einfach auf die Stirne und weiß, was drin steht.

FRAU WAHL zu Friedrich. Also kommt sie vielleicht doch?

FRIEDRICH. Nein. Sie schreibt, daß Percy seine Ankunft verschoben hat, er ist zu Freunden nach Richmond geladen, bleibt acht Tage dort. So ein Lausbub', – und hat schon Freunde in Richmond.

RHON sitzt und liest seine Korrespondenz. Ha ...

FRAU RHON. Was ist denn?

RHON. Es ist unglaublich. Diese Rundfragen! – Man muß sagen, die Leute werden immer neugieriger. Früher haben sie sich begnügt zu fragen, ob man Makkaroni oder Pfirsichkompott lieber ißt, ob Wagner gekürzt oder ungekürzt aufgeführt werden soll. Aber was sie jetzt schon von einem wissen wollen ... Hören Sie sich das einmal an, Hofreiter.

FRIEDRICH sitzt am Nachbartisch und schaut seine Briefe durch.

RHON. Da fragt eine Frauenzeitschrift: a) in welchem Alter man[283] zuerst das Glück der Liebe genossen, b) ob man jemals perverse Neigungen verspürt habe.

AIGNER zu Hofreiter. Eben erhalte ich eine Anfrage, ob man in unserm Weiher auch baden kann.

RHON. Bei fünf Grad ... brr! –

AIGNER. Ja, wenn sich das noch machen ließe – da wäre die Schweiz einfach tot ...

RHON. Hören Sie, ich habe eine Idee. Sie müssen mich natürlich am Gewinn beteiligen. Sie haben doch da ungeheure Wasserkräfte, die Fälle, die von den Bergen herabstürzen ... wie wär's, wenn Sie Ihren See elektrisch durchwärmen ließen?

AIGNER lacht.

RHON. Sie lachen ... Natürlich! Aber wenn ich nur was vom Technischen verstünde – ich würde euch die ganze Anlage selber baun ... so deutlich seh' ich's innerlich vor mir! Nur das Manuelle fehlt mir. Wenn ich auch das hätte, ich glaube, ich hätte nie eine Feder angerührt.

FRIEDRICH. Ich denk' mir überhaupt manchmal, ob die Dichter nicht meistens nur aus gewissen innern Mängeln ... Dichter werden –?

RHON. Wie meinen Sie das –?

FRIEDRICH. Ich stell' mir vor, viele Dichter sind geborene Verbrecher – nur ohne die nötige Courage – oder Wüstlinge, die sich aber nicht gern in Unkosten stürzen ...

RHON. Und wissen Sie, was Fabrikanten von Glühlichtern gewöhnlich sind, Herr Hofreiter? ... Glühlichterfabrikanten – sonst nichts.

FRIEDRICH. Wär' gut, wenn's wahr wär' ...

EIN BOY bringt Friedrich einen Brief.

FRIEDRICH macht ihn auf, lächelt und beißt sich in die Lippen.

ERNA hat et gesehn.

FRAU WAHL. Adieu, ich muß mich noch umkleiden, adieu, kleine Dichtersfrau, adieu, großer Dichter.

GUSTL öffnet eben einen seiner Briefe.

FRAU RHON. Sie machen ihn ja doch auf.

GUSTL. Das ist nur zur Kontrolle. Die Leut' schreiben einem ja manchmal das Unrichtige.


Frau Rhon und Gustl nach rückwärts, dann ab. Aigner zu Rosenstock, dann ab. Rhon entfernt sich gleichfalls. Es wird beinahe ganz leer in der Halle.


ERNA über Friedrichs Schulter schauend. Liebesbrief?[284]

FRIEDRICH. Raten Sie von wem? Von Mauer ...

ERNA. Oh ...

FRIEDRICH. Er hat soeben ein dringendes Telegramm aus Wien erhalten. Mußte sofort abreisen ... Ist schon fort ... Ich möchte ihn allseits bestens empfehlen.

ERNA. Ich dachte mir so was.

FRIEDRICH. Ich auch. Schon diese Lustigkeit gestern abend, beim Nachtmahl in der Hütte! Und dann seine Stimmung heute beim Anstieg. Beim Zurückgehn hat er überhaupt kein Wort mehr gesprochen ... Ja, Erna, auf einer freiliegenden Wiese, fünfzig Schritte von einer Hütte mit zwanzig Fenstern, sollte man sich eben nicht um den Hals fallen.

ERNA. Sie glauben, daß er das gesehn hat?

FRIEDRICH. Wahrscheinlich.

ERNA. Und glauben Sie, wenn das auf der Wiese nicht passiert wäre, er wäre nicht abgereist? Da sind Sie im Irrtum. Wir hätten einander gar nicht ansehn müssen und er hätte es bemerkt, geradeso wie die andern es merken ...

FRIEDRICH. Was sollen denn die andern merken?

ERNA. Wie es mit uns zweien steht.

FRIEDRICH. Aber Erna, wie sollen denn diese Leute ...

ERNA. Wir haben vielleicht so eine Art Schein um den Kopf.

FRIEDRICH lacht.

ERNA. Ja, so etwas Ähnliches muß es sein. Das hab' ich mir schon manchmal gedacht. Wieso wissen denn gleich alle Leute so was ...

FRIEDRICH. Ich hätte abreisen sollen, Erna.

ERNA. Das wäre aber gescheit gewesen!!

FRIEDRICH. Sie sollten nicht kokett sein, Erna.

ERNA. Das bin ich wirklich nicht.

FRIEDRICH. Also was sind Sie denn?

ERNA. Ich bin, wie ich eben bin.

FRIEDRICH. Das ist Ihr Vorteil mir gegenüber. Ich bin nämlich nicht mehr, der ich war. Ich bin toll seit dem Kuß gestern, toll. Kommen Sie doch näher, Erna. Faßt ihre Hand. Setzen Sie sich hier mir gegenüber.

ERNA. Was sind Sie denn so grob ...!

FRIEDRICH. Erna, ich hab' kein Auge zugetan diese Nacht.

ERNA. Das tut mir leid. Ich hab' wundervoll geschlafen.

FRIEDRICH. In dieser dumpfen Hüttenluft geht's mir übrigens meistens so.[285]

ERNA. Sie hätten's machen sollen wie ich. Ich hab' mir meinen Plaid auf die Wiese hinausgeholt – auf unsere Wiese und hab' mich im Freien hingelegt.

FRIEDRICH. Haben Sie nicht gefroren?

ERNA. Nein. Ich hab' mir aus der Wirtsstube Ihren Mantel geholt und mit dem hab' ich mich zugedeckt.

FRIEDRICH. Also Hexenkünste auch noch? Es ging auch ohne die, Erna!

ERNA. So hab' ich von zehn bis drei herrlich geschlafen, unter den Sternen, und dann bin ich erst zurück ins Zimmer zur guten dicken Frau Rhon.

FRIEDRICH. Erna, Erna! Ich wär' imstande, eine rasende Dummheit zu begehn. Plötzlich versteh' ich allen Unsinn, über den ich mich früher lustig gemacht habe. Ich verstehe Fensterpromenaden, Serenaden. Geste. Ich versteh', daß man mit gezücktem Messer auf einen Rivalen losgehn, aus unglücklicher Liebe in einen Abgrund springen kann.

ERNA. Warum Sie von unglücklicher Liebe reden?

FRIEDRICH ernst. Wozu sich täuschen, Erna! Das gestern abend ... überhaupt diese ganze Partie, der Augenblick auf dem Gipfel oben, der Händedruck, dieser Wahn des Zusammengehörens, dieses ungeheure Glücksgefühl, es war wohl alles nur eine Art von Rausch, von – Bergrausch. Wenigstens für Sie. Hängt mit den dreitausend Meter Höhe zusammen, mit der dünnen Luft, mit der Gefahr. Aber ich persönlich habe wohl die geringste Rolle gespielt in Ihrer Stimmung.

ERNA. Warum sagen Sie das? Ich liebe Sie ja schon seit meinem siebenten Jahr. Allerdings mit Unterbrechungen. Aber in der letzten Zeit ist es wieder sehr schlimm geworden. Ich mache keinen Spaß. Und gar gestern und heut' – und da oben – und jetzt! ... Ach Gott, Friedrich, ich möcht' Ihnen so gern in die Haare fahren und sie verstruweln.

FRIEDRICH. Geben Sie doch acht. Es ist ja nicht notwendig. Hören Sie, Erna, – ich will Sie was fragen.

ERNA. Also fragen Sie.

FRIEDRICH. Also – Wie dächten Sie darüber ... Hören Sie mich gut an! – Ich bin nämlich jetzt wieder ganz vernünftig. Also Erna, Sie wissen ja – meine Ehe, darüber muß ich Ihnen ja nichts weiter erzählen. Die Schuld lag ja größtenteils an mir. Immerhin – wir passen doch nicht so recht zusammen, Genia und ich. Und besonders seit der sonderbaren Geschichte mit[286] Korsakow, die ich Ihnen ja erzählt habe ... Ach Gott, warum mach' ich soviel Worte. Ich möcht' mich von Genia scheiden lassen ... und Sie heiraten, Erna.

ERNA lacht.

FRIEDRICH. Na ...?

ERNA. Weil Sie früher gesagt haben, Sie wären imstande, eine rasende Dummheit zu begehen.

FRIEDRICH. Es wäre vielleicht keine, wenn man's gleich nähme, wie es zu nehmen ist. Ich weiß, Erna, Sie werden mich nicht ewig lieben.

ERNA. Aber Sie mich!!!

FRIEDRICH. Eher ... Übrigens, Ewigkeit! Man steigt im nächsten Jahr wieder auf so ein Türmchen hinauf, und es ist aus mit der Ewigkeit. Oder sie fängt erst recht an. Also was das anbelangt! Ich weiß nur, das weiß ich mit absoluter Sicherheit, daß ich ohne Sie nicht existieren kann. Ich vergehe vor Sehnsucht nach Ihnen, ich werde nichts mehr denken können, nichts mehr arbeiten, überhaupt mich mit nichts mehr Vernünftigem beschäftigen, eh' Sie ... eh' ich Sie in den Armen halte, Erna.

ERNA. Warum haben Sie nicht Ihren Mantel geholt, heut nacht? ...

FRIEDRICH. Ich bitte Sie dringend, spielen Sie nicht mit mir, Erna. Ich bin doch ehrlich genug mit Ihnen. Sagen Sie einfach nein und die Sache ist erledigt. Mauer wird noch einzuholen sein. Zum lächerlich werden hab' ich keine Anlage. Wollen Sie meine Frau werden?

ERNA. Frau? – Nein.

FRIEDRICH. Na, gut.

ERNA. Vielleicht später einmal.

FRIEDRICH. Später –?

ERNA. Lesen Sie Ihre Briefe weiter.

FRIEDRICH. Wozu? Die Fabrik kann von mir aus in die Luft gehn. Alles kann in die Luft gehn. Was heißt das: später! Das Leben ist nicht gar so lang. Frist gewähr' ich keine. Ein Kuß wie der von gestern verpflichtet. Entweder zu sofortigem Abschied oder zu einem bedingungslosen Ja. Warten kann ich nicht. Werd' ich nicht. Sagen Sie nein, und ich fahre noch heute ab.

ERNA. Ich spiele nicht mit Ihnen. Ich weiß, wozu mich unser Kuß verpflichtet.

FRIEDRICH. Erna ...[287]

ERNA. Haben Sie es denn nicht immer gewußt, daß ich Ihnen gehöre?

FRIEDRICH. Erna ... Erna!


Tamtam ertönt.

Der Tourist, der zu Beginn des Aktes eingeschlafen ist, wacht aus einem Traum auf, erhebt sich, schreit auf, heult geradezu und stürzt über die ganze Bühne, endlich hinaus.


FRAU WAHL kommt herunter.

AIGNER trifft mit ihr zusammen. Ah, das ist ja eine Schnalle, die ich noch gar nicht kenne! Entzückend ...

FRIEDRICH. O, da haben wir uns nett verplaudert. Ich hab' nicht einmal mehr Zeit, mich umzukleiden.

FRAU WAHL. Sie sind auch so schön genug. Wo ist denn übrigens der Doktor Mauer?

FRIEDRICH. Ja, richtig, er läßt sich bestens empfehlen, er hat ein Telegramm bekommen, er mußte plötzlich abreisen.

FRAU WAHL. Ein Telegramm, Doktor Mauer? Das ist doch ... Kinder, man verschweigt mir was. Er ist abgestürzt! ... Er ist ... tot!

FRIEDRICH. Na, hören Sie, Mama Wahl, glauben Sie, da könnten wir hier so gemütlich ...

FRAU WAHL. Na, bei euch kann man das nicht wissen.

FRIEDRICH. Ich hätte wenigstens schwarze Handschuhe genommen.

SERKNITZ kommt in Frack, weißer Krawatte, zu Aigner hin. Ich habe die Ehre mich gehorsamst zu melden, Herr Direktor. Die Wäsche ist angelangt, und ich war so frei, mich sofort in eine den Ansprüchen Ihres Hotels entsprechende Toilette zu werfen.

AIGNER. Sie sehn geradezu verführerisch aus, Herr von Serknitz.

SERKNITZ in den Speisesaal.

FRAU WAHL UND AIGNER gleichfalls.


Frau Rhon und Gustl, Rhon, Meyer, verschiedene andere, die von der Treppe herunterkommen, in den Speisesaal.


ERNA UND FRIEDRICH zusammen.

FRIEDRICH laut. Kommen Sie, Erna. Leise. Weißt du noch, was du früher gesagt hast?

ERNA. Ja.

FRIEDRICH. Da drin wird also heute unser Hochzeitsdiner serviert

ERNA. Und es wird, Gottseidank, keiner einen Toast halten.

FRIEDRICH. Und du gehörst mir.[288]

ERNA. Ja.

FRIEDRICH. Erna, überleg' dir gut, was du sagst. Wenn heute nacht deine Tür versperrt sein sollte, so schlag' ich sie ein und es ist um uns beide geschehn.

ERNA. Es wird nicht um uns geschehn sein.

FRIEDRICH. Erna ...!

ERNA. Und ich ahne, es gibt noch schönre Stunden, als die dort oben war auf dem Aignerturm.

FRIEDRICH. Erna ...

ERNA erst jetzt mit dem vollen Ton der Wahrheit. Ich liebe dich! –


Sie gehn in den Speisesaal.

Vorhang.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 2, Frankfurt a.M. 1962, S. 263-289.
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