X

[385] Der Graf und die Dirne.


Morgen, gegen sechs Uhr.

Ein ärmliches Zimmer, einfenstrig, die gelblichschmutzigen Rouletten sind herunter gelassen. Verschlissene grünliche Vorhänge. Eine Kommode, auf der ein paar Photographien stehen und ein auffallend geschmackloser, billiger Damenhut liegt. Hinter dem Spiegel billige japanische Fächer. Auf dem Tisch, der mit einem rötlichen Schutztuch überzogen ist, steht eine Petroleumlampe, die schwach brenzlich brennt, papierener, gelber Lampenschirm, daneben ein Krug, in dem ein Rest von Bier ist, und ein halb geleertes Glas. Auf dem Boden neben dem Bett liegen unordentlich Frauenkleider, als wenn sie eben rasch abgeworfen worden wären. Im Bett liegt schlafend die Dirne, sie atmet ruhig. – Auf dem Diwan, völlig angekleidet, liegt der Graf, im Drapp-Überzieher, der Hut liegt zu Häupten des Diwans auf dem Boden.


GRAF bewegt sich, reibt die Augen, erhebt sich rasch, bleibt sitzen, schaut um sich. Ja, wie bin ich denn ... Ah so ... Also bin ich richtig mit dem Frauenzimmer nach Haus ... Er steht rasch[385] auf, sieht ihr Bett. Da liegt s' ja ... Was einem noch alles in meinem Alter passieren kann. Ich hab keine Idee, haben s' mich da heraufgetragen? Nein ... ich hab ja gesehn – ich komm in das Zimmer ... ja ... da bin ich noch wach gewesen oder wach worden ... oder ... oder ist vielleicht nur, daß mich das Zimmer an was erinnert? ... Meiner Seel, na ja ... gestern hab ichs halt g'sehn ... Sieht auf die Uhr. Was! Gestern, vor ein paar Stunden – Aber ich habs g'wußt, daß was passieren muß ... ich habs g'spürt ... wie ich ang'fangen hab zu trinken gestern, hab ichs g'spürt, daß ... Und was ist denn passiert? ... Also nichts ... Oder ist was ...? Meiner Seel ... seit ... also seit zehn Jahren ist mir so was nicht vorkommen, daß ich nicht weiß ... Also kurz und gut, ich war halt b'soffen. Wenn ich nur wüßt, von wann an ... Also das weiß ich noch ganz genau, wie ich in das Hurenkaffeehaus hinein bin mit dem Lulu und ... nein, nein ... vom Sacher sind wir ja noch weggangen ... und dann auf dem Weg ist schon ... Ja richtig, ich bin ja in meinem Wagen g'fahren mit'm Lulu ... Was zerbrich ich mir denn viel den Kopf. Ist ja egal. Schaun wir, daß wir weiterkommen. Steht auf. Die Lampe wackelt. Oh! Sieht auf die Schlafende. Die hat halt einen g'sunden Schlaf. Ich weiß zwar von gar nix – aber ich werd ihr's Geld aufs Nachtkastel legen ... und Servus ... Er steht vor ihr, sieht sie lange an. Wenn man nicht wüßt, was sie ist! Betrachtet sie lang. Ich hab viel kennt, die haben nicht einmal im Schlafen so tugendhaft ausg'sehn. Meiner Seel ... also der Lulu möcht wieder sagen, ich philosophier, aber es ist wahr, der Schlaf macht auch schon gleich, kommt mir vor; – wie der Herr Bruder, also der Tod ... Hm, ich möcht nur wissen, ob ... Nein, daran müßt ich mich ja erinnern ... Nein, nein, ich bin gleich da auf den Diwan herg'fallen und nichts ist g'schehn ... Es ist unglaublich, wie sich manchmal alle Weiber ähnlich schauen ... Na, gehn wir. Er will gehen. Ja richtig. Er nimmt die Brieftasche und ist eben daran eine Banknote herauszunehmen.

DIRNE wacht auf. Na ... wer ist denn in aller Früh –? Erkennt ihn. Servus, Bubi!

GRAF. Guten Morgen. Hast gut g'schlafen?

DIRNE reckt sich. Ah, komm her. Pussi geben.

GRAF beugt sich zu ihr herab, besinnt sich, wieder fort. Ich hab grad fortgehen wollen ...[386]

DIRNE. Fortgehn?

GRAF. Es ist wirklich die höchste Zeit.

DIRNE. So willst du fortgehn?

GRAF fast verlegen. So ...

DIRNE. Na, Servus; kommst halt ein anderes Mal.

GRAF. Ja, grüß dich Gott. Na, willst nicht das Handerl geben?

DIRNE gibt die Hand aus der Decke hervor.

GRAF nimmt die Hand und küßt sie mechanisch, bemerkt es, lacht. Wie einer Prinzessin. Übrigens, wenn man nur ...

DIRNE. Was schaust mich denn so an?

GRAF. Wenn man nur das Kopferl sieht, wie jetzt ... beim Aufwachen sieht doch eine jede unschuldig aus ... meiner Seel, alles mögliche könnt man sich einbilden, wenns nicht so nach Petroleum stinken möcht ...

DIRNE. Ja, mit der Lampen ist immer ein G'frett.

GRAF. Wie alt bist denn eigentlich?

DIRNE. Na, was glaubst?

GRAF. Vierundzwanzig.

DIRNE. Ja freilich.

GRAF. Bist schon älter?

DIRNE. Ins Zwanzigste geh i.

GRAF. Und wie lang bist du schon ...

DIRNE. Bei dem G'schäft bin i ein Jahr!

GRAF. Da hast du aber früh ang'fangen.

DIRNE. Besser zu früh als zu spät.

GRAF setzt sich aufs Bett. Sag mir einmal, bist du eigentlich glücklich?

DIRNE. Was?

GRAF. Also ich mein, gehts dir gut?

DIRNE. Oh, mir gehts alleweil gut.

GRAF. So ... Sag, ist dir noch nie eing'fallen, daß du was anderes werden könntest?

DIRNE. Was soll i denn werden?

GRAF. Also ... Du bist doch wirklich ein hübsches Mädel. Du könntest doch zum Beispiel einen Geliebten haben.

DIRNE. Meinst vielleicht, ich hab kein?

GRAF. Ja, das weiß ich – ich mein aber einen, weißt einen, der dich aushalt, daß du nicht mit einem jeden zu gehn brauchst.

DIRNE. I geh auch nicht mit ein jeden. Gott sei Dank, das hab i net notwendig, ich such mir s' schon aus.

GRAF sieht sich im Zimmer um.[387]

DIRNE bemerkt das. Im nächsten Monat ziehn wir in die Stadt, in die Spiegelgasse.

GRAF. Wir? Wer denn?

DIRNE. Na, die Frau, und die paar anderen Mädeln, die noch da wohnen.

GRAF. Da wohnen noch solche –

DIRNE. Da daneben ... hörst net ... das ist die Milli, die auch im Kaffeehaus g'wesen ist.

GRAF. Da schnarcht wer.

DIRNE. Das ist schon die Milli, die schnarcht jetzt weiter n' ganzen Tag bis um zehn auf d' Nacht. Dann steht s' auf und geht ins Kaffeehaus.

GRAF. Das ist doch ein schauderhaftes Leben.

DIRNE. Freilich. Die Frau gift sich auch genug. Ich bin schon um zwölfe Mittag immer auf der Gassen.

GRAF. Was machst denn um zwölf auf der Gassen?

DIRNE. Was werd ich denn machen? Auf den Strich geh ich halt.

GRAF. Ah so ... natürlich ... Steht auf, nimmt die Brieftasche heraus, legt ihr eine Banknote auf das Nachtkastel. Adieu!

DIRNE. Gehst schon ... Servus ... Komm bald wieder. Legt sich auf die Seite.

GRAF bleibt wieder stehen. Du, sag einmal, dir ist schon alles egal – was?

DIRNE. Was?

GRAF. Ich mein, dir machts gar keine Freud mehr.

DIRNE gähnt. Ein Schlaf hab ich.

GRAF. Dir ist alles eins, ob einer jung ist oder alt, oder ob einer ...

DIRNE. Was fragst denn?

GRAF.... Also – Plötzlich auf etwas kommend. – meiner Seel, jetzt weiß ich, an wen du mich erinnerst, das ist ...

DIRNE. Schau i wem gleich?

GRAF. Unglaublich, unglaublich, jetzt bitt ich dich aber sehr, red gar nichts, eine Minute wenigstens ... Schaut sie an. Ganz dasselbe G'sicht, ganz dasselbe G'sicht. Er küßt sie plötzlich auf die Augen.

DIRNE. Na ...

GRAF. Meiner Seel, es ist schad, daß du ... nichts andres bist ... Du könntst ja dein Glück machen!

DIRNE. Du bist grad wie der Franz.

GRAF. Wer ist Franz?

DIRNE. Na, der Kellner von unserm Kaffeehaus ...[388]

GRAF. Wieso bin ich grad so wie der Franz?

DIRNE. Der sagt auch alleweil, ich könnt mein Glück machen, und ich soll ihn heiraten.

GRAF. Warum tust du's nicht?

DIRNE. Ich dank schön ... ich möcht nicht heiraten, nein, um keinen Preis. Später einmal vielleicht.

GRAF. Die Augen ... ganz die Augen ... Der Lulu möcht sicher sagen, ich bin ein Narr – aber ich will dir noch einmal die Augen küssen ... so ... und jetzt grüß dich Gott, jetzt geh ich.

DIRNE. Servus ...

GRAF bei der Tür. Du ... sag ... wundert dich das gar nicht ...

DIRNE. Was denn?

GRAF. Daß ich nichts von dir will.

DIRNE. Es gibt viel Männer, die in der Früh nicht aufgelegt sind.

GRAF. Na ja ... Für sich. Zu dumm, daß ich will, sie soll sich wundern ... Also Servus ... Er ist bei der Tür. Eigentlich ärger ich mich. Ich weiß doch, daß es solchen Frauenzimmern nur aufs Geld an kommt ... was sag ich – solchen ... es ist schön ... daß sie sich wenigstens nicht verstellt, das sollte einen eher freuen ... Du – weißt, ich komm nächstens wieder zu dir.

DIRNE mit geschlossenen Augen. Gut.

GRAF. Wann bist du immer zu Haus?

DIRNE. Ich bin immer zu Haus. Brauchst nur nach der Leocadia zu fragen.

GRAF. Leocadia ... Schön – Also grüß dich Gott. Bei der Tür. Ich hab doch noch immer den Wein im Kopf. Also das ist doch das Höchste ... ich bin bei so einer und hab nichts getan, als ihr die Augen geküßt, weil sie mich an wen erinnert hat ... Wendet sich zu ihr. Du, Leocadie, passiert dir das öfter, daß man so weggeht von dir?

DIRNE. Wie denn?

GRAF. So wie ich?

DIRNE. In der Früh?

GRAF. Nein ... ob schon manchmal wer bei dir war – und nichts von dir wollen hat?

DIRNE. Nein, das ist mir noch nie g'schehn.

GRAF. Also, was meinst denn? Glaubst, du g'fallst mir nicht?

DIRNE. Warum soll ich dir denn nicht g'fallen? Bei der Nacht hab ich dir schon g'fallen.

GRAF. Du g'fallst mir auch jetzt.[389]

DIRNE. Aber bei der Nacht hab ich dir besser g'fal len.

GRAF. Warum glaubst du das?

DIRNE. Na, was fragst denn so dumm?

GRAF. Bei der Nacht ... ja, sag, bin ich denn nicht gleich am Diwan hing'fallen?

DIRNE. Na freilich ... mit mir zusammen.

GRAF. Mit dir?

DIRNE. Ja, weißt denn du das nimmer?

GRAF. Ich hab ... wir sind zusammen ... ja ...

DIRNE. Aber gleich bist eing'schlafen.

GRAF. Gleich bin ich ... So ... Also so war das! ...

DIRNE. Ja, Bubi. Du mußt aber ein ordentlichen Rausch g'habt haben, daß dich nimmer erinnerst.

GRAF. So ... – Und doch ... es ist eine entfernte Ähnlichkeit ... Servus ... Lauscht. Was ist denn los?

DIRNE. Das Stubenmädl ist schon auf. Geh, gib ihr was beim Hinausgehn. Das Tor ist auch offen, ersparst den Hausmeister.

GRAF. Ja. Im Vorzimmer. Also ... Es wär doch schön gewesen, wenn ich sie nur auf die Augen geküßt hätt. Das wäre beinahe ein Abenteuer gewesen ... Es war mir halt nicht bestimmt. Das Stubenmädel steht da, öffnet die Tür. Ah – da haben S' ... Gute Nacht. –

STUBENMÄDCHEN. Guten Morgen.

GRAF. Ja freilich ... guten Morgen ... guten Morgen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 1, Frankfurt a.M. 1962, S. 385-390.
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