Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

[182] Lieber Freund und Dichter!

Ich hab' mir's ja gedacht! Nicht ohne Grund bleibt man noch im Sommer in Neapel! Du drückst Dich zwar so diskret aus, daß ich keine Ahnung habe, ob es sich um eine Prinzessin oder um eine Orangenverkäuferin handelt und ob der durch Olivenzweige glänzende Mond oder das Licht einer blauen Kristallampel »Zeuge Deiner Seligkeiten« ist, aber das ist ja auch nebensächlich. Und diese Liebschaften in der Fremde haben einen so besonderen Reiz! Das Ende kommt so ungezwungen –, eines Morgens reist man ab, nachdem man am Abend vorher – keinen Abschied genommen. Nachreisen tun sie einem ja doch nicht: erstens ist es zu kostspielig, und zweitens ist es der Verräter nicht wert, und drittens gibt es ja noch andere Männer in der Nähe. Was mich anbelangt, mein verehrter Dichter, kann ich Dir kaum was Neues mitteilen. Es sei denn, daß ich noch einsamer geworden bin seit dem Derbytage, an welchem ich Dir das letzte Mal schrieb. Du, damals bin ich richtig in den Wurstlprater gegangen, aber – es war ekelhaft. Bevor Dampfbäder und Parfüms ins niedere Volk gedrungen sind, werde ich mich kaum mit demselben befreunden können. Das ist wahrscheinlich eine Gemeinheit von mir; aber ich kann mir nicht helfen. Ich möcht' ja so gern, daß es allen[182] Menschen gut ging', aber ich frag' nur: Wenn die Glücklichen auch in einem fort unglücklich darüber wären, daß es Unglückliche gibt, wo wären denn dann überhaupt die glücklichen Leut'!

Glücklich – das ist so gesagt. Ich gehöre zu der Sorte, die man dafür hält; in Wirklichkeit geht's manchen, welche sich für vier Kreuzer Rum und damit Lebenslust kaufen können, viel besser. – Nämlich nach dem Wurstlprater bin ich doch noch auf den Konstantinhügel. – Ach ja! Ich dachte anfangs, der Kontrast müsse wirken! Ich machte mir das selbst möglichst deutlich. Siehst Du, jetzt warst Du unter lauter Menschen, mit zerfransten Hosen, fettigen Hüten, rauhen Stimmen – die »Kurze« rauchen, die sich die ganze Woche gerackert haben und den muffigen Geruch ihrer Vorstadtwohnungen in den Haaren tragen –, unter Weibern, die sich in der Küche geplagt haben und mit den Kindern und mit allem möglichen »Häuslichen« –, unter Dirnen, die sich heute abend in den Praterauen werden liebkosen lassen; – – und jetzt kommst Du zu den wohlsoignierten Herren in eleganten Sommerkostümen – die leise sprechen, heute früh ihr Bad genommen haben, ägyptische Zigaretten oder Pfosten à 2.50 rauchen und zwölf Glas Cognac trinken, ohne um eine Nuance röter im Gesichte zu wer den –, zu den Damen mit gepflegten, rosigen Nägeln – welche schwarze Seidenstrümpfe tragen, zum Teil auch schwarze Seidenhemden (Fritz behauptet es, und Weidenthaler lächelt dazu in sich hinein) – die nach Violette de Parme duften und alle Gemeinheit nur in der Seele haben! – Wie hübsch, wie taktvoll das ist! Da ich mich um ihre Seele nicht kümmere, sind sie einfach entzückend. – Also wie gesagt, ich freue mich schon, und komme hinauf, und da, in einem der Zelte, sitzen sie richtig alle beisammen, Fritz und die Seine, Malkowsky und die Seine, Weidenthaler alleine – und außerdem haben sie sich noch den Fellner mitgebracht, Du kennst ihn ja, der den Girardi kopiert und krakauerische Couplets singt und überhaupt viel lustiger ist, als seine Nebenmenschen begreifen, welchen er je nach Rang und Alter zwischen fünf und zweihundert Gulden schuldig ist.

Also da bin ich plötzlich unter ihnen und mach' mir den Kontrast recht deutlich. Ich sauge den Duft ein, der von den knisternden Kleidern der Damen und ihren Haaren ausgeht, ich berühre mit meinem Fuße die reizend chaussierten Füßerln, alles sozusagen aus wissenschaftlichem Interesse. Ich höre dem Fellner zu Couplets singen und lach' mit und erkläre mir: Der ist doch wirklich ein lieber Kerl. Ich trinke mit der Kleinen vom Fritz[183] Bruderschaft, während er mir immerfort zuredet: Na, gebt's euch nur ein Pussel – lächerlich, unter Kameraden! und ich laß mir ein Pussel geben und spüre ihre Zahnderln an meinen Lippen, was ja eigentlich sogar unter Kameraden nicht mehr egal ist – ich trink' vier Glas Cognac, Prunier mit sechs Sternen, und rauch' einen Pfosten à 2.50 – und immerfort, immerfort hab' ich das vertrackte Gefühl: Ja, amüsant ist das alles durchaus nicht! Und es wird später, und unten warten die Fiaker, und in einen setzt sich der Weidenthaler und der Malkowsky mit Seiner, und der Fellner auf den Bock hinauf, als wenn's ein Witz wär', indessen hätte er sonst zu Fuß in die Stadt müssen, und in den zweiten ziehn mich Fritz und seine Donna, sie sitzt zwischen uns. Also jetzt, weil's gar so fidel war und ein gar so schöner Abend, noch einmal zum Lusthaus hinuntergerast, durch die dunkeln Alleen, so dunkel, daß man seine eigene Geliebte nicht sehen kann, was sich Mizi natürlich sehr zu Nutzen macht, und dann wieder zurück, und der Fellner auf dem Bock singt: »'s Herz von an echten Weana« – und die Kleine vom Malkowsky will tauschen, das heißt nämlich, der Weidenthaler soll in den andern Wagen und ich zu ihnen, und die Fritzische will mich nicht hergeben. Kurz, es war ungeheuer fidel! Und jetzt zum Prater hinaus. Wohin? Noch zum Sacher, heißt es, ins Separee, ein bissel Klavierspielen und tanzen. Gut also, zum Sacher. Der Fellner springt vom Bock, spielt den Lakai, öffnet die Wagenschläge, die Weiber hüpfen heraus, wir finden den kleinen Salon frei, den mit dem Klavier, es wird Champagner und Cognac gebracht; der Weidenthaler setzt sich zum Klavier, spielt einen Walzer, Fritz wünscht dringend, ich möchte mit Mizi tanzen, Bruderschaft tanzen, Bruderschaft tanzen, es wird also gewalzt, Malkowskys edle Dame empfindet Übelkeiten, liegt auf dem Kanapee, Weidenthaler knöpfelt die Taille auf, und allgemein wird ihr rosa Mieder bewundert. – Plötzlich sagt sie: Mir ist schon wieder gut, Kinder, und weiter wird gewalzt, und der Fellner macht großartige Pirouetten, erfindet einen Solotanz, über den man sich kugelt. Er kopiert die Cereale, die Rathner und schließlich den Girardi. Fritz lümmelt in einer Ecke, schlägt nur noch zeitweise die Augen auf, Weidenthaler haut blödsinnig auf die Tasten los; ein besorgter Kellner erscheint an der Türe. – Es wird still, in malerischen Gruppen sitzt man um den Tisch herum, Malkowsky, riesig elegant, entfernt sich und begleicht vor der Tür die Rechnung. Champagner hat man getrunken, Cognac auch, jetzt also noch Champagner mit Cognac, und das schöne[184] Fest hat ein Ende. – Und nun treten wir alle hinaus. Die zwei Paare winken uns gnädigst aus den Fiakern Lebewohl zu, und Weidenthaler, Fellner und ich stehen da.

Wir wollen noch ins Scheidl, da stehen aber schon die Sesseln auf den Tischen, die Kellner kehren aus, und die Lichter sind zum Teil abgedreht. Bleibt also nur noch ein Nachtcafé. Weidenthaler und Fellner können nicht anders; ich drücke ihnen freundlich die Hand und verlasse sie. – Hierauf folgt ein langer einsamer Spaziergang um den ganzen Ring. Der Morgen brach an, es war eine herrliche Luft, und ich fühlte – das muß anders werden. Das geht nicht mehr so weiter, diese Gesellschaft, dieser Ton, diese Hohlheit, diese Verblödung, nein, nein, nein! – Die Weiber und die Männer sind mir gleich zuwider. Die Parfüms und die Seidenstrümpfe sind doch nicht alles, wenn sie alles sind! – Ich ging den Stadtpark entlang, der erste Dämmerschein des Tages lag schon drüber. Da sind nun die Erinnerungen gekommen. – An das, was ich Jugendliebe nenne. Ich meine nicht die platonische, wo man Fensterpromenaden macht und sie einem dann weggeheiratet wird, weil man erst siebzehn Jahre alt ist. Nein, die andere, die nicht genug gewürdigte, die erste vernünftige Liebe, die zu irgendeinem kleinen Mäderl aus der Vorstadt, die bei Tag im Geschäft ist, die man abends an der Straßenecke erwartet und die man dann nach Mariahilf oder Fünfhaus begleitet – und die nichts anderes will als einen Ausflug am Sonntag oder einen Abend beim Volkssänger oder einen Sitz auf die dritte Galerie zu der neuen Operette oder ein Brasselett um einen Gulden und sehr, sehr, sehr viel Liebe. Nein, wie das damals schön war! Fahrten im Omnibus von Hietzing herein. – Spaziergänge in Weidlingau im Wald, tief im Wald. – Ja, das ist, was mir not tut. Es ist unglaublich, wie mein Geschmack verdorben worden ist, seit ich so ungeheuer elegant bin und den Ehrgeiz habe, die bestangezogene Geliebte in Wien zu besitzen. Wer weiß, an wie viel köstlichen Wesen ich achtlos vorbeigegangen bin. Und wer weiß, ob ich noch was für sie bedeuten würde, für sie, die viel, viel, sehr viel Liebe brauchen und die mit dem feinen Instinkt natürlicher Weiblichkeit meinen Augen und meiner Stirn die Müdigkeit und die Überreiztheit ansehen könnten. So ein frischer, junger Mensch sollte man wieder einmal sein, heiter, verliebt, mit der Sehnsucht nach Holunderduft, Frühling und Zärtlichkeit. Oh, das sehen sie einem an, die süßen Mädeln, die den Frühling und die Liebe wollen, und plötzlich hängt einem so ein herziges Ding am Arm, und man hat[185] eine Geliebte statt einer Maitresse. – Diese Sehnsucht lehrt mich, daß ich jünger bin, als ich dachte, und darum befinde ich mich eigentlich wohler als in der letzten Zeit. Wer weiß, ob Du mit Deiner Neapolitaner Liebe nicht mitschuldig bist an dieser Erkenntnis? – Es ist spät geworden, mein Lieber, ich hab' Dir drei Stunden lang geschrieben. Nun gehe ich auf die Straße hinunter bummeln. Wer weiß? – Es liegen Abenteuer in der Luft! Durch mein offenes Fenster weht ein Abendduft herein, der mich um zehn Jahre jünger und dümmer macht! Und jetzt – jetzt, in Fünfhaus oder in der Alservorstadt, steckt vielleicht eben vor einem einfachen Holzrahmen-Spiegel ein sechzehnjähriges Jungfräulein eine Blume an die Brust, ohne zu ahnen, daß sie für mich bestimmt ist!

Wenn ich nur wüßte, ob in der Alservorstadt oder in Fünfhaus? So gar kein festes Ziel zu haben! Lebe wohl!

Dein treuer

Alfred

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 182-186.
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