Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

[199] Mein lieber Theodor!

Schau Dir den Poststempel nur genau an – Du weißt doch nicht, woher der Brief kommt. Erstens ist hier keine Post. Den Brief holt der Bote ab. Wir sind kaum zwei Stunden von Wien und doch so versteckt, als wären wir hundert Meilen weit. Ein gemütliches Gasthaus, seitab von der Landstraße, im Wald; eigentlich zu einer Mühle gehörend. Einsam, Leute vom Land kehren zuweilen ein; gewöhnlich aber sind wir ganz allein und am Mittag setzt sich höchstens der Wirt an unsern Tisch. Wir stehen in aller Gottesfrühe auf (hier kann man »Gottesfrühe« sagen!), und da kommt vom Wald, der gleich hinter dem Hause anfängt, der ganze herrliche Morgenduft herein. – Den halben oder ganzen Vormittag sind wir dann im Wald oben, liegen zusammen auf einem grauen Plaid, schauen in die Luft und atmen den süßen Frieden ein. Ja, wir haben uns sehr lieb, denn, wie Du zugeben wirst, man muß sich sehr lieb haben, um es in einer solchen Einsamkeit auszuhalten. Aber es ist wirklich schön, und ich kann mich auch über die Verpflegung nicht beklagen. – Am Nachmittag sind wir gewöhnlich lang auf unserm Zimmer, und da schläft sie. So ein Moment ist jetzt zum Beispiel. Und ich hab' mich an's Fensterbrett gesetzt und lasse den Duft vom Wald her auf mich niederwehen, was eigentlich auch die einzige Unterhaltung ist, die man hier haben kann. Aber das Schöne ist, man empfindet gar nicht das Bedürfnis nach was anderem. Wenn sie aufwachen wird, machen wir wieder einen Spaziergang, in den Wald, natürlich, denn es gibt hier keine anderen Spaziergänge. Da führt ein netter schattiger Weg ins nächste Dorf, das recht ärmlich ist, mit lauter halbstockhohen Häuschen – ohne Sommerparteien. Aber das ist ja grad das Schöne. Weit und breit keine Menschenseele, nichts als Bauern, Landleute und so fort. Und wenn wir durch den Wald hingegangen sind, kehren wir abends, wenn's sehr schattig ist, auf der Landstraße in unser Wirtshaus zurück. Auf der Landstraße begegnen wir Postwagen und Leiterwagen und hauptsächlich Müllerburschen. Im Garten nehmen wir dann das Nachtmahl ein. – Nur an Sonntagen sollen sich ab und zu Ausflügler aus Wien her verirren. Da fliehen wir natürlich, denn wir sind nur hergekommen, um vollkommen allein zu sein. Das hat auch wirklich einen wunderbaren Reiz! Besonders am ersten und zweiten Tag hat es einen ganz unbeschreiblichen Reiz gehabt.[200] Wenn man sich lieb hat, erträgt man eben alles. Was mich ein bißchen geniert hat, war der Umstand, daß mein Zimmer gemalt und nicht tapeziert ist. Das ist unangenehm, wenn man so mit der Hand über die Mauer fährt. Aber ländlich ist es, und außerdem sind wir ja so wenig im Zimmer – wir haben ja den Wald. Mit einem Wort: Es ist eine sehr glückliche Zeit, die wir hier verleben, und mein süßes Lieb (hier kann man sagen »mein süßes Lieb«) ist zärtlich und schön. Wenn ich sie jetzt so ansehe, wie sie daliegt, lächelnd im Schlummer – es tut wirklich weh, wenn man denkt, daß es da ein Ende, einen Abschied gibt. – Sie bewegt sich; ich muß diesen Brief schließen. In ein paar Minuten wird sie wach sein und mich fragen, was ich heute gedichtet. – Denn während sie schläft, dicht' ich angeblich. Ja, ich habe es am ersten Tag wirklich versucht, um ihr eine Freud' zu machen – aber Du, das ist wirklich schwer. – Und dabei habe ich mir ein ganz populäres Thema gewählt – die Liebe. Aber es geht nicht. Sie ist jetzt schon ganz gekränkt, daß sie einen Dichter zum Geliebten hat, und noch immer –. Sie schlägt die Augen auf. Leb wohl!

Dein

Alfred

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 199-201.
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