Drittes Kapitel

[123] In den nächsten Tagen nahm Doktor Gräsler öfter als sonst Gelegenheit, die Hauptstraße des Städtchens zu durchstreifen, in der unbestimmten Erwartung, Sabinen zu begegnen. Einmal lief er sogar, wie von einer Ahnung ergriffen, während seiner Sprechstunde, als das Wartezimmer zufällig eben leer stand, die Treppe hinab und tat einen eiligen, doch vergeblichen Gang bis zur Trinkhalle und wieder zurück. Am Abend dieses selben Tages erwähnte er wie beiläufig am Stammtisch, daß man ihn neulich ins Forsthaus gerufen habe, und horchte angespannt und etwas kampfbereit, ob etwa über Fräulein Sabine ein leichtfertiges Wort fiele, wie es in aufgeräumter Herrengesellschaft auch ohne Berechtigung wohl gelegentlich auffliegen mag. Aber die Familie Schleheim schien, wie das matte Echo seiner Mitteilung dem Doktor verriet, außerhalb jeden Interesses zu stehen; und nur ganz beiläufig war von Berliner Verwandten des sogenannten Försters die Rede, bei denen die Tochter, die der Tischgesellschaft offenbar nicht einmal als sonderliche Schönheit galt, zuweilen die Wintermonate verleben sollte.

An einem der nächsten Spätnachmittage entschloß sich Doktor Gräsler zu einem Spaziergang, der ihn allmählich in die Nähe des Forsthauses führte. Von der Straße aus sah er es stumm im Schatten des Waldes liegen, und auf der Veranda gewahrte er die Gestalt eines Mannes, dessen Gesichtszüge er nicht zu unterscheiden vermöchte. Einen Augenblick blieb er stehen und fühlte sich heftig gelockt, geradeswegs ins Haus zu treten und sich, als[123] hätte eben der Zufall ihn hier vorbeigeführt, nach dem Befinden der Frau Schleheim zu erkundigen; aber er besann sich rasch, daß dies, als mit seiner ärztlichen Würde kaum vereinbar, falscher Auffassung begegnen könnte. Von diesem Spaziergang kam er müder und verdrossener nach Hause, als er es nach einer so geringfügigen Enttäuschung für möglich gehalten, und als er Sabinen auch in den nächsten Tagen im Städtchen nicht begegnete, begann er zu hoffen, daß sie verreist oder am Ende gar für immer von hier verschwunden wäre, was ihm im Interesse seines seelischen Gleichmaßes eigentlich wünschenswert erschien.

Eines Morgens, als er, längst nicht mehr mit dem Behagen der ersten Tage, auf seinem besonnten Balkon das Frühstück einnahm, wurde ihm gemeldet, daß ein junger Herr ihn zu sprechen wünsche. Als gleich darauf ein hochgewachsener hübscher Junge im Radfahranzug auf dem Balkon erschien, zeigte er sich in Haltung und Gesichtsschnitt von einer so unverkennbaren Ähnlichkeit mit Sabine, daß der Doktor nicht umhin konnte, ihn wie einen Bekannten zu begrüßen.

»Der junge Herr Schleheim –?« fragte er in mehr überzeugtem als fragendem Tone.

»Der bin ich«, erwiderte der Junge.

»Ich habe Sie gleich an der Ähnlichkeit mit – Ihrer Mutter erkannt. Bitte, nehmen Sie Platz, junger Mann. Ich bin noch beim Frühstück, wie Sie sehen. Was gibt's? Die Frau Mama wieder leidend?« Es war ihm, als spräche er zu Sabine.

Der junge Schleheim blieb stehen, die Kappe höflich in der Hand. »Der Mutter geht's gut, Herr Doktor. Seit ihr Herr Doktor so ins Gewissen geredet haben, ist sie etwas vorsichtiger geworden.«

Der Doktor lächelte. Es war ihm sofort klar, daß Sabine ihre eigenen Befürchtungen zum Zwecke besserer Wirkung ihm als dem Arzte in den Mund gelegt hatte. Plötzlich fiel ihm ein, daß Sabine selbst diesmal die Kranke sein könnte, und er erkannte an der unvermuteten Beschleunigung seines Pulses, wie sehr ihm das Wohlbefinden des jungen Mädchens naheging. Doch ehe er noch zu fragen vermochte, sagte der Knabe: »Es handelt sich diesmal um den Vater.«

Doktor Gräsler atmete auf. »Was fehlt ihm? Hoffentlich nichts Ernstes.«

»Ja, wenn man das wüßte, Herr Doktor. Er hat sich so sehr verändert in der letzten Zeit. Es muß vielleicht gar keine wirkliche[124] Krankheit sein. Er ist nämlich schon zweiundfünfzig Jahre alt.«

Der Doktor runzelte unwillkürlich die Stirn. Etwas kühl fragte er: »Also welche Erscheinungen geben Ihnen denn Anlaß zu Besorgnis?«

»In der letzten Zeit, Herr Doktor, hat der Vater Schwindelanfälle, und gestern abend, wie er vom Sessel aufstehen wollte, ist er beinahe hingefallen und hat sich nur mühselig am Tischrand festgehalten. Und dann, wenn er sein Glas nimmt, um zu trinken, das merken wir schon lange, zittern ihm die Hände.«

»Hm.« Der Doktor sah von seiner Tasse auf.

»Ihr Herr Vater nimmt sein Glas wohl ziemlich oft in die Hand, und wahrscheinlich ist nicht immer Wasser im Glas –?«

Der Junge sah zu Boden. »Es kann freilich auch ein wenig damit zusammenhängen, meint Sabine. Und dann raucht der Vater auch den ganzen Tag.«

»Nun, mein lieber junger Herr, Alterserscheinungen müssen das ja eben nicht sein. Also, der Herr Papa wünscht meinen Besuch?« fügte er höflich hinzu.

»So einfach ist das leider nicht, Herr Doktor. Der Vater dürfte gar nicht wissen, daß Sie seinetwegen kommen, er hat nie was von einem Doktor hören wollen. Und Sabine meint, ob man es nicht auf einen Zufall hinausspielen könnte.«

»Auf einen Zufall?«

»Zum Beispiel, wenn Herr Doktor nächstens einmal wieder am Forsthaus vorbeikämen, wie neulich am Nachmittage, da würde die Sabine Sie von der Veranda aus grüßen oder anrufen, und Herr Doktor kämen heran – und – und dann müßte man eben weitersehen.«

Der Doktor fühlte sich bis in die Stirn rot werden. Und mit dem Löffel in der leeren Tasse rührend, sagte er: »Zum Spazierengehen reicht ja meine Zeit leider nicht sehr oft. Allerdings neulich einmal, ach ja, da bin ich wohl recht nah am Forsthaus vorbeigekommen.« Er wagte nun aufzuschauen und sah zu seiner Beruhigung den Blick des Knaben völlig harmlos auf sich gerichtet. In geschäftsmäßigem Ton fuhr er fort: »Wenn es nicht anders zu machen ist, so will ich denn Ihren Vorschlag – – freilich, mit einem Gespräch auf der Veranda wird wenig getan sein. Ohne gründliche Untersuchung läßt sich ja doch nichts sagen.«

»Selbstverständlich, Herr Doktor. Wir hoffen ja, daß der Vater sich allmählich auch dazu entschließen wird. Aber wenn Sie ihn[125] zuerst nur einmal sehen würden! Herr Doktor haben ja so viel Erfahrung. Vielleicht könnten Sie's ermöglichen, Herr Doktor, dieser Tage einmal nach Ihrer Ordination, am liebsten freilich wäre es uns schon heute –«

Heute – wiederholte Gräsler bei sich – heute schon könnte ich sie wiedersehen! Wie wunderbar! Aber er schwieg, blätterte in seinem Notizbuch, schüttelte den Kopf, schien vor unüberwindlichen Schwierigkeiten zu stehen, bis er plötzlich einen Bleistift nahm, entschlossen irgend etwas ausstrich, was gar nicht dastand, und auf die nächste Seite, da ihm dieses Wort eben zuerst einfiel, »Sabine« schrieb. Und er entschied sich freundlich, aber kühl: »Also schön, sagen wir denn: heute zwischen halb sechs und sechs. Ist Ihnen das recht?«

»Oh, Herr Doktor ...«

Gräsler erhob sich, wehrte die Dankbezeugungen des Knaben ab, gab ihm Empfehlungen an Mutter und Schwester mit und reichte ihm zum Abschied die Hand. Er trat dann vom Balkon in sein Zimmer und sah vom Fenster aus, wie der junge Schleheim mit seinem Rad aus dem Hausflur kam, die Kappe fester in die Stirn drückte, sich flink und geschickt aufschwang und bald um die nächste Ecke verschwunden war. Wäre ich nur um zehn Jahre jünger, dachte der Doktor, so könnte ich mir einbilden, das Ganze sei nichts als ein Vorwand des Fräulein Sabine, um mich wiederzusehen. Und er seufzte leise.

Bald nach fünf Uhr, in einem hellgrauen Anzug, dessen Trauercharakter im übrigen durch den Flor um den linken Arm gewahrt blieb, fuhr er von Hause ab. Seine Absicht war es, den Wagen in der Nähe des Forsthauses halten zu lassen; aber viel früher schon, bald nachdem er das Bereich der Villen verlassen hatte, sah er zu seiner angenehmen Überraschung auf dem schmalen Wiesenpfad, der sich längs der Landstraße hinzog, Sabine und ihren Bruder sich entgegenkommen. Er sprang aus dem langsam talaufwärts fahrenden Wagen und reichte zuerst Sabinen, dann dem Knaben die Hand.

»Wir müssen Sie sehr um Entschuldigung bitten«, begann Sabine leicht erregt. »Es ist uns nämlich nicht gelungen, den Vater zu Hause zu halten; und vor dem späten Abend wird er wohl nicht zurück sein. Ich bitte sehr, seien Sie mir nicht böse.« Der Doktor hätte gern eine verdrossene Miene gezeigt, es gelang ihm aber nicht, und er sagte leichthin: »Das tut ja nichts.« Er sah auf die Uhr mit gerunzelter Stirn, als gelte es eine neue Einteilung[126] für den Rest des Tages zu treffen; dann schaute er auf und mußte lächeln, da er Sabine und ihren Bruder wie zwei Schulkinder, die eigentlich eine Rüge erwarteten, am Wegrand stehen sah. Sabine trug heute ein weißes Kleid, ein breitrandiger Strohhut hing ihr an einem losen gelben Band über den linken Arm herab, und sie sah viel jünger aus als neulich.

»Und an solch einem heißen Nachmittag,« sagte der Doktor beinahe vorwurfsvoll, »sind Sie mir zu Fuß so weit entgegengekommen! Das war wirklich nicht notwendig.«

»Herr Doktor,« entgegnete Sabine ein wenig verlegen, »ich möchte doch vor allem, zur Vermeidung jedes Mißverständnisses, ausdrücklich betonen, daß auch dieser nicht geglückte Besuch selbstverständlich geradeso wie jede ärztliche Visite –«

Der Doktor unterbrach eilig. »Da muß ich doch bitten, mein Fräulein. Auch wenn unser Anschlag heute gelungen wäre, von einer ärztlichen Visite könnte keineswegs die Rede sein. Vielmehr bitte ich, mich bis auf weiteres nur als Mitverschworenen zu betrachten.«

»Wenn Sie die Sache so nehmen, Herr Doktor,« erwiderte Sabine, »so machen Sie es mir einfach unmöglich –«

Doktor Gräsler unterbrach nochmals: »Es war heute ohnedies meine Absicht gewesen, eine Spazierfahrt zu unternehmen. Und vielleicht gestatten Sie mir, Ihnen, da es sich schon so fügt, den Wagen zur Nachhausefahrt zur Verfügung zu stellen, ja? Und wenn Sie mich mitnehmen wollen, so darf ich mich vielleicht bei dieser Gelegenheit nach dem Befinden Ihrer Frau Mama erkundigen.« Er fühlte sich als Mann von Welt und nahm sich flüchtig vor, im nächsten Sommer doch wieder in einem größeren Badeort seine Praxis auszuüben, obwohl er in solchen bisher niemals Glück gehabt hatte.

»Der Mutter geht's ausgezeichnet«, sagte Sabine. »Aber wenn Sie den Abend schon verloren geben, Herr Doktor, wie wär's« – und sie wandte sich an ihren Bruder –, »wenn wir dem Herrn Doktor unsern Wald zeigten, Karl?«

»Ihren Wald?«

»Wir heißen ihn so«, sagte Karl. »Er gehört wirklich uns allein. Von den Kurgästen kommt keiner so weit. Da gibt es wunderschöne Partien. Manche wie im Urwald.«

»So was muß man sich natürlich ansehen«, sagte der Doktor. »Ich nehme dankbar an.«

Der Wagen wurde für alle Fälle in die Nähe des Forsthauses[127] dirigiert, und Doktor Gräsler, von den Geschwistern geleitet, schlug einen Feldweg ein, der ganz schmal, so daß eines sich hinter dem andern halten mußte, zuerst zwischen mannshohen Ähren, dann über Wiesengrund in den Wald hineinführte.

Der Doktor sprach davon, daß er schon sechs Jahre allsommerlich hierherkäme und die Gegend eigentlich doch nicht recht kenne. Dies aber sei nun einmal sein Los. Schon als Lloydarzt habe er meistens nur die Ufer gesehen, bestenfalls die Hafenstädte und deren nächste Umgebung; tiefer ins Land zu streifen, habe der Dienst beinahe immer verwehrt. Da Karl durch wiederholte Fragen sein Interesse für ferne Gegenden und Seereisen kundgab, nannte der Doktor aufs Geratewohl die Namen mancher Küstenorte, in die oder an denen vorüber sein Beruf ihn vor Jahren geführt hatte; und daß er so als eine Art von Weltfahrer gelten durfte, gab seiner Rede eine Lebhaftigkeit und Laune, die ihm sonst nicht immer zu Gebote standen. Von einer Lichtung aus eröffnete sich ein anmutiger Ausblick nach dem Städtchen, von wo das gläserne Dach der Trinkhalle in der Abendsonne heraufglitzerte. Man beschloß, eine Weile zu rasten. Karl streckte sich der Länge nach ins Gras hin, Sabine setzte sich auf einen abgehauenen, entrindeten Baumstamm; Doktor Gräsler aber, der seinen hellgrauen Anzug keinerlei Fährlichkeiten aussetzen wollte, blieb stehen, erzählte von seinen Reisen weiter; seine Stimme, sonst trotz häufigen Räusperns etwas belegt, erklang ihm selbst mit einer neuen oder ihm wenigstens fremd gewordenen Weichheit, und er fand sich mit einer Teilnahme angehört, deren er schon lange nicht genossen hatte. Am Ende erbot er sich, die Geschwister heimzubegleiten, so daß der Vater, wenn er schon zu Hause wäre, ohne weiteres an eine zufällige Begegnung glauben könnte, wodurch dann die Bekanntschaft in der harmlosesten Weise eingeleitet sei. Sabine nickte in einer kurzen, ihr ganz eigenen Art, was dem Doktor eine entschiedenere Zustimmung erschien, als Worte bedeutet hätten. Auf dem sich leicht bergab senkenden, immer breiter werdenden Waldwege war es nun hauptsächlich Karl, der die Unterhaltung führte und Reise-, ja Entdeckungspläne entwickelte, in deren kindlicher Abenteuerhaftigkeit Nachklänge kürzlich gelesener Jugendschriften nicht zu verkennen waren. Früher als der Doktor erwartet hatte, stand man vor dem Gartenzaun, und zwischen den hohen Tannen, in verdämmerndem Weiß schimmerte die Rückseite des Forsthauses mit ihren sechs schmalen, gleichförmigen Fenstern. Auf dem[128] zertretenen Rasen zwischen Haus und Zaun, roh gezimmert, stand ein länglicher Tisch mit Bank und Sesseln.

Da Karl vorausgelaufen war, um Nachschau zu halten, blieb der Doktor eine Weile mit Sabinen allein unter den Tannen stehen. Sie sahen einander an, der Doktor lächelte etwas verlegen; da Sabine ernst blieb, bemerke er, die Blicke langsam nach verschiedenen Seiten wendend: »Welch ein Friede hier«, und räusperte leise. Karl erschien an einem offenen Fenster und winkte lebhaft. Der Doktor verlieh seinem Antlitz beruflichen Ernst und folgte Sabinen durch den Garten auf die Veranda, wo der Förster und seine Frau sich eben von dem Sohn die Geschichte der nachmittägigen Begegnung berichten ließen. Gräsler, durch die falsche Bezeichnung Förster noch immer irre gemacht, hatte erwartet, sich einem langbärtigen, derben Mann im Jägeranzug mit der Tabakspfeife im Mund gegenüberzusehen und war nun verwundert, als ihn ein schlanker, glattrasierter Herr mit schwarzem, eben erst ergrauendem, sorgfältig gescheiteltem Haar freundlich, aber mit einer irgendwie theatralisch wirkenden Vornehmheit begrüßte. Doktor Gräsler begann damit, den schönen Wald zu preisen, mit dessen ganzer Herrlichkeit ihn erst Karl und Sabine bekanntgemacht hätten; und während sich ein Gespräch über das trotz der reizvollsten Umgebung doch so langsame Aufblühen des Badestädtchens entspann, unterließ Doktor Gräsler keineswegs, an dem Herrn des Hauses seine ärztlichen Beobachtungen anzustellen, vermochte aber vorerst nichts Auffallendes an ihm zu entdecken als eine gewisse Unruhe des Blicks sowie ein oft wiederkehrendes wie verächtliches Zucken der Mundwinkel. Als Sabine das Abendessen meldete, wollte Doktor Gräsler sich verabschieden, doch der Förster, in übertriebener Liebenswürdigkeit, ließ es nicht zu, und so saß der Doktor bald mit Eltern und Kindern am Familientische, über dem von der holzgetäfelten Decke eine grünbeschirmte Lampe herabhing. Er sprach von dem bevorstehenden Samstagkränzchen im Kursaal und wandte sich mit der Frage an Sabine, ob sie an derlei Veranstaltungen manchmal teilnehme.

»In den letzten Jahre nicht mehr«, erwiderte Sabine. »Früher, als ich noch jünger war –« Und dem abwehrenden Lächeln des Doktors zur Erwiderung fügte sie gleich und, wie ihm schien, nicht ohne Bedeutung bei: »Ich bin nämlich schon siebenundzwanzig.«

Der Vater warf eine spöttische Bemerkung über die kleinlichen[129] Verhältnisse des Badestädtchens ein, fing an, mit Lebhaftigkeit vom Zauber der großen Städte und des bewegten Weltlebens zu reden, und aus seinen weiteren Äußerungen war zu entnehmen, daß er früher Opernsänger gewesen war und diese Laufbahn erst lange nach seiner Verheiratung aufgegeben hatte. Während er nun allerlei Namen nannte von Künstlern, an deren Seite er gewirkt, von Gönnern, die ihn hochgeschätzt, und endlich von Ärzten, deren falschen Behandlungsmethoden er den vorzeitigen Verlust seiner Baritonstimme verdankte, leerte er ein Glas nach dem anderen, bis er ganz plötzlich ermüdet schien und mit einem Male einem verbrauchten und alten Manne gleichsah. Nun hielt es der Doktor an der Zeit, sich zu empfehlen. Die Geschwister begleiteten ihn zum Wagen und erkundigten sich ängstlich nach dem Eindruck, den er von ihrem Vater gewonnen hätte. Doktor Gräsler, wenn er sich auch heute schon getrauen wollte, eine ernstere Erkrankung auszuschließen, sprach die Erwartung aus, bald zu weiterer Beobachtung und lieber noch zu einer ordentlichen Untersuchung Gelegenheit zu finden, ohne die er als gewissenhafter Arzt doch nichts Bestimmtes aussagen könnte.

»Findest du nicht,« wandte sich nun Karl an seine Schwester, »daß der Vater schon lange nicht so gesprächig war wie heute abend?«

»Das ist wohl wahr,« bestätigte Sabine, – und zu Doktor Gräsler gewendet mit einem dankbaren Blick, »Sie sind ihm gleich sympathisch gewesen – man hat es deutlich merken können.«

Mit einer bescheidenen Handbewegung wehrte der Doktor ab, versprach auf der Geschwister Bitte, in den nächsten Tagen seinen Besuch zu wiederholen, und stieg ein. Die Geschwister blieben beide noch eine Weile am Straßenrande stehen und schauten dem Wagen nach. Unter einem kühlen Sternenhimmel fuhr der Doktor nach Hause. Sabinens Vertrauen erfüllte ihn mit Befriedigung, und mit einer um so süßeren, als er vermuten durfte, es nicht allein seinen ärztlichen Fähigkeiten zu verdanken. Es war ihm wohl bewußt, daß er, insbesondere in den letzten Jahren, müder und gleichgültiger geworden, seinen Kranken gegenüber es oft genug an wahrer menschlicher Teilnahme hatte fehlen lassen, und nach langer Zeit ging ihm heute wieder einmal die Hoheit eines Berufes auf, den er in verflossenen Jugendjahren zwar mit Begeisterung erwählt, dessen er sich aber gewiß nicht stets auf gleiche Weise innerlich wert erwiesen hatte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 123-130.
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