Sechszehenter Period.

[256] Und nun war' ich in München, dieser alten, feierlich prächtigen, von Menschen wimmlenden Stadt, der schon der große Gustav Adolf Räder wünschte, um sie nach Schweden rollen zu können. Mein edler Beschüzer wies mir eine Wohnung bei seinem ehmaligen Sekretar Käser an, der ein aufstrebender, weltkluger, geschikter und biderherziger Mann war. Sein Gefühl fürs Schöne und Wahre entfaltete sich immer mehr, und gab ihm den sanften Karakter, den jeder an ihm schäzte, der sich auf den Werth einer schönen Menschenseele verstand. Er entwarf mir eine sehr treu gezeichnete Skizze vom Geiste der Baiern, der in der Residenz maskirt, aber nicht verändert war. Eine Derbheit, die dicht an die Gränze der Grobheit streift, fällt dem Ausländer am ersten ins Gesicht. Ihr voller Dialekt beleidigt nur eine zeitlang, am[256] Ende gefällt er. Kein deutsches Volk scheint zum Niedrigkomischen aufgelegter zu seyn, als die Baiern und Salzburger. Ihr Scherz ist massiv, und erregt nicht Lächeln, sondern hochaufschallende herzliche Lache. Ihr Ernst hat vieles von spanischer lächerlichsteifer Grandezza. Der Pöbel war damals noch im tiefsten Aberglauben versunken, und die Grossen schienen über die Religion wenig nachzudenken. Bei dem allen wird man selten in einem Lande eine allgemeinere, heißhungrigere Lehrbegierde antreffen, als in Baiern. Auf den sogenannten Dulden oder Messen werden die protestantischen Buchhändler meist ausgekauft. Der gewöhnliche Gesprächstof auf Kaffeehäusern, bei Tafeln, und in grossen Gesellschaften, ist litterarischen Innhalts. Da ich bald in die besten Häuser eingeführt wurde; so stuzt' ich nicht wenig, die ersten Damen des Hofes bei welschen, französischen, auch englischen Schriftstellern anzutreffen, und meist ein treffendes Urtheil über ihre Leserei von ihnen fällen zu hören. Deutsch lasen sie damals noch wenig; ja ich kannte eine der ersten Damen,[257] die erst aus Geßners mit lateinischen Lettern gedrukten Idyllen deutsch lesen lernte. Doch gab es einige, die nicht nur deutsch lasen, sondern auch die Sprache rein und besser als ihre Gemahls aussprachen, und gut schrieben. Die Gräfinn von Sessel hat einen Aufsaz über die Gallerie zu Schleißheim verfertigt, der einem Kenner Ehre machen würde. Die Gräfinnen Sinzheim, Preusing, Morawizky, – und wer kann die Sterne des bairischen Adels alle aufzählen?? – verrathen so viel Zartheit des Geschmaks, daß der Schriftsteller, der Weltton zu studiren sucht, kaum weiter zu reisen braucht. Ueber diß alles sind sie so für die edelsten Menschengefühle gestimmt, daß sie von jeder Berührung fremden Elends überlaut zu klingen scheinen. Ohne Damengunst war damals in München gar nicht fortzukommen. In ihren Handen waren die Preise, die dem Verdienste ausgetheilt wurden. Die Kavaliers waren damals Freunde der Jagd, der Landökonomie, der Pracht – nicht selten auch der schönen Wissenschaften und Künste.1[258] Die vornehmste Standespersonen, selbst die Kurfürstinn arbeiteten für's deutsche Theater, das eben damals anfieng die Kinderschuhe abzulegen. Die elendesten Schauspiele, meist mittelmässig aufgeführt, gefielen, und verdrangen die welschen komischen Opern. In Sitten, Tracht, Schauspielen, parodirte man beständig die Oestreicher, ohnerachtet der Haß der Nazion gegen seine alten Feinde das Gegentheil hätte hervorbringen sollen – fast so, wie der Japaneser ein Gegenfüßler der Chineser ist. Meine Empfelungen, und eigner Drang machten mich bald im Orchester bekannt, das ich zwar zahlreich, aber in ziemlicher Unordnung antraf. – Konzertmeister Kröner – nun tod! – war ein angenehmer Solospieler, nur zu tändlend; sein Bogen zog die Noten nicht mit der Wurzel heraus, sondern berührte blos ihre Spizen. Das[259] zu häufig angebrachte Tempo rubato machte seinen Vortrag muthwillig, und nicht schön. Als Konzertmeister übertraf ihn der selige Holzbogen weit. Der Kurfürst – Er schlumm're sanft im Schauergewölbe des Theatinertempels! – hatte viel richtiges musikalisches Gefühl, spielte die Gambe meisterhaft, sezte Messen für die Kirche, und strich mehrentheils bei den Sinfonieen, an der Seite Kröners, die erste Violine mit. Ich hatte die Gnade, mehrmal vor ihm zu spielen. Die edelste, vom Stolz unaufgeblähteste Fürstenseele, die man sich denken konnte. Tiefe Ehrfurcht vor Gott, die ihn nie verließ, lehrte ihn bei Zeiten den vorübergehenden Schimmer weltlicher Hoheit verachten, und nach einer Würde streben, die ewig bleibt. Es war mir oft, wenn ich in meiner Gottesvergessenheit durch die Strassen faselte, ein neuer, herzerhebender Anblik, wenn ich mitten unter einem andächtigen Haufen diesen Fürsten mit einem Wachslichte in der Hand, zu Fus vor die Thüre eines armen Sterbenden eilen, und knieend warten sah', bis ihm der Geistliche[260] das hochwürdige Sakrament gereicht hatte. Die ihm oft vorschwebende, ganz nahe Auswurzlung seines grossen Stammes betrübte ihn zuweilen bis zu Thränen. Dieser wehmüthigen Herzensstimmung ihres Fürsten hatten es auch seine grosse und kleinen Bedienten zu danken, daß nicht viel nach ihrer Haushaltung gefragt wurde. Auch bis auf die Oper und das Orchester erstrekte sich diese Lizenz. Der trierische Kapellmeister Sales sezte eben damals eine neue Oper, die ich weitläufig genug in der deutschen Kronik angezeigt, und dabei die damaligen bairischen Sänger karakterisirt habe. Ich errichtete mit diesem braven, ungemein liebreichen und äusserst dienstfertigen Manne die vertrauteste Freundschaft, und erweiterte meine Einsichten durch seinen Umgang. Seine jezige Gattin, die Prima Donna der genannten Oper, ist die bescheidenste, tugendhafteste Sängerin, die ich jemals angetroffen habe. Eine tugendhafte Theaterprinzeß verdient auf allen Rosenfesten, in und ausser Deutschland, die schönste und erste Krone.[261]

Secchi war der zweite grosse Hautboist, den ich gehört habe. Er seufzte die Töne heraus, und erregte daher mehr süsse Schwermut, als le Brün, dessen Blutmischung jovialischer ist.2 Das Temperament hat sehr viel Antheil an der Bildung des Virtuosen; ist dieser so glüklich, ein Instrument zu wählen, das gleichsam seine eigene Herzenstöne nachhallt; so schwimmt er mit dem Strome und wird allenthalben den Hörer mit sich fortreissen. Wählt er aber ein temperamentwidriges Instrument – z.E. ein Lolli wählte die Harmonika und Franklin hätte die Trompete gewählt; – so hätten beede nicht groß werden können, denn sie hätten gegen den Strom gearbeitet. Reuner war einer der grösten Fagotisten in Europa, wohl mehr brausend als delikat. – Aber du trauter Freund der Tonkunst sage mir: haben nicht die Solo's auf Baßinstrumenten, wenn sie stundenlang dauern, alle etwas widriges? den innern musikalischen Sinn beleidigendes? Ist's nicht, als[262] wenn das Fusgestell sich über die Bildsäule mokirte? Ein Konzert auf einem Violon klang mir nie anderst, als die zitternde Stimme eines besoffenen Alten im Kor der frölichen Jugend. Kapellmeister Tozzi spielte damals seinen bekannten Roman mit einer Hofdame, und ließ daher das Orchester sich selbst über, das, wie gesagt, nicht recht zusammenstimmte, zusammenbraußte, wie die donnernde Katarakte der pfälzischen Hofmusik.3 Da der herrschende Geist in der Tonkunst auch hier welscher Geist war, so erregte es meine Aufmerksamkeit weit mehr, wenn ich bei vielen Gelegenheiten den eignen musikalischen Nazionalgeist der Baiern kennen lernte. Man kann nichts lieblichers, nichts herzerfreuenders hören, als ihre Liedels, wie sie's nennen, die gemeiniglich von Schnurranten allenthalben herumgeleiert werden. Ihre Weibsleute haben meist sehr angenehme Stimmen, und eine eigene, ungemein reizende Manier. Ich habe mir einige von ihren[263] Liedels – der Text ist mehrentheils erbärmlich, sonderlich wenn er nicht komisch ist – gemerkt, und mußte sie hernach hundert und tausendmal in allen Gesellschaften singen und spiellen. – Solche Bemerkungen haben mich überzeugt, daß, so wie wir noch keinen Dichter haben, der die ganze deutsche Nazion so allgewaltig gepakt hätte, wie Homer die Griechen, es uns auch an einem Tonkünstler fehle, der alle Menschen, Thiere, Bäume und Steine unsers Vaterlandes, wie Orfeus tanzen mache. Unsere welsch-franzosisch-deutsche Musik wird diß Wunder eben so wenig würken, als unsre poetischen Ananasgewächse, die zwar für jeden Gaumen etwas haben, das ihn küzelt, aber zu kostbar und zu fremd sind, als daß sie deutsche Hausmannskost werden könnten.4 Hin, Tonkünstler und Dichter, nach Böhmen, Oestreich, Baiern, Sachsen, Schwaben! – hin an alle deutsche Ströme, und belausche die Urlaute unsers Volks, wie sie mit Lied und Sang aus dem Herzen[264] quellen – ahme sie nach, veredle sie, und du wirst alle deutsche Nerven dröhnen, alle Herzen hüpfen, alle Augen glühen, und alle Glieder beben machen! – Meine mir liebste Beschäftigung in München war, die Kirchen zu besuchen, und die Messen zu hören; denn ich trug immer – und trag' es noch – ein Ideal von Kirchenmusik im Herzen herum, das ich hier gewis realisirt zu finden glaubte. – Aber ich betrog mich hier fast eben so sehr als überall. Zwar hört' ich von Priestern und Korknaben einige Antifonen nach alter Manier – und treflich vorgetragen, aber alle mit Instrumenten begleitete Kirchenmusik war meistens profan. Der Sänger seufzte unter dem Sturme der Begleitung, wie ein verirrtes Kind im Walde, drinn der Sturmwind raßt. Die Motifen waren meist der Oper entpflükt, die Köre dünne und leer, die Fugen schnelles, rasches, gauklendes Gejag von Buben, und nicht Wetteiferung und Nachahmung des himmlischen Freudengesangs. Die Melismen, Läufer, Verzerrungen der wandelbaren Wörter, wollüstig süsse Vorschläge,[265] die den Hauptton kaum fühlbar machten, leichtfertige Sprünge – und Mangel alles Pathos, aller Himmelsgluth, machten jedem die Kirchenmusik mehr ärgerlich als erbaulich. Ich hörte einige Kyrien, aber geistlos – Credo – aber ohne Wärme – Agnus Dei, die nicht bluteten, sondern spielten – Psalmen, die in einem unmächtigen Amen und Halleluja erstarben. Da dieses beinahe die allgemeine Gestalt der heutigen Kirchenmusik ist, so haben unsre grossen Komponisten sonderlich aufzusehen, wie sie diesem Verderben steuern, und Hoheit und Andacht wieder in Tempel führen wollen.5 Ich habe mit manchem grossen Meister über dieses wichtige Thema gesprochen, und sie versicherten mich, daß ich nirgends in der Welt mein Ideal leiblicher und dargestellter antreffen würde, als in Wien, wo dermal nicht nur der Siz deutscher Musik, sondern beinah' aller Musik zu[266] seyn scheint. – Ich fand damals in ganz München keine grosse Flügelspieler – denn auch hier hat das Klavier durch die Oper gelitten: bis ich im glänzenden Gefolge des reichen Grafen von Palm den jungen Kiefer aus Regenspurg bemerkte, der alle Anlagen zu einem wahren Klavieristen hatte, und sonderlich das Fortepiano meisterhaft behandelte. Wenn Michel seitdem sein schönes Talent ausgebildet hat, so gehört er unter die angenehmsten deutschen Komponisten; die immer weniger werden, je mehr man sie zwingt, sich zu expatriiren. – Da ich mit Tönen mein Ohr nicht selten zu voll füllte, so suchte ich mich öfters in den Gesellschaften der Desmaret's und Schega's auszuleeren, und Empfindungen von anderer Art Plaz zu machen. Desmarets war ein grosser Porträtmaler, voll Feuer, ein Verschönrer wie Rigaud, ohne die Aehnlichkeit zu zerstören, Meister in Zeichnung und Kolorit – aber weniger Seelenmaler als Vandeyk, Hollbein, Kupezky – und selbst als unser Graf. Schega war der zweite Hedlinger – seine Suite[267] von bairischen Fürsten gehört unter die wichtigsten und besten Medaillen der alten und neuen Zeit. Lippert, ein einsichtsvoller Kenner, in dessen Gesellschaft ich manches Leiden vergaß, lehrte mich einen jungen Historienmaler kennen, der nicht arm an eigner Erfindung war, aber so stark ins Licht malte, daß alle Deutlichkeit verschwand. Licht in Licht ist wenigstens für unsere Welt sehr unmalerisch und beleidigt unser stumpfes Aug. Die übrigen in Baiern, sonderlich in München, Nimfenburg, Schleißheim und Dachau so reichlich ausgesaten Kunstwerke sind von andern bereits hinreichend beurtheilt worden. Ich kann also schweigen, wenn ich nur noch hinzuseze, daß es in München mehr als anderstwo sehr feine Kunstaugen giebt, denen nicht leicht eine Tinte, Tirade, Nüanz, in den Werken der bildenden Künste entwischt. –

Meine volle Aufmerksamkeit wurde damals auf die Revoluzion gelenkt, die der Fall des Jesuiterordens veranlaßte. Der Boden bebte noch vom Hinsturz dieses Kolossenbildes.[268] Der Pöbel glaubte, nun sei der jüngste Tag vorhanden, und die Gelehrten zimmerten Erziehungsplane. Das Pädagogium der Jesuiten, hieß es, ist nun hingetrümmert, der Boden rasirt, und nun soll ein neues besseres, dauerhafteres Gebäude errichtet werden, darinn keine Monopolisten, sondern Männer lehren sollen, die Weisheit und guten Geschmak als allgemeine Waare für jedermanns Kauf ausbieten. Der Baron von Leuden führte mich zum Geheimenrath von Lori, der unter einer Schanze von gedrukten und geschriebenen Erziehungs- und Unterweisungssistemen, aus allen Provinzen Deutschlands protestantischen und katholischen saß, und sich mit patriotischem Feuer diesem rühmlichen Geschäfte unterzog. Er sprach gleich von seiner Tonne die er wälzte, mit vieler Einsicht, und nahm mich in sein Haus. Ich hatte nun ein eigenes Zimmer, einen Flügel, die schöne Bibliothek, und noch mehr als diese, den Umgang Lori's. Unsere Morgenstunden waren meistens gelehrten Unterredungen gewidmet, an denen oft andre Gelehrte, sonderlich Lippert,[269] und der brave Kanonikus Kollmann6 Antheil nahmen. Ich theilte mit, was ich vom Erziehungswesen der Protestanten wußte, fand aber bald, da es eine sehr häklichte Sache war, sich in ein Geschäft zu mischen, das Partheien veranlaßte. Das Haupt einer wichtigen Parthei war der bekannte Kanonikus Braun, ein gelehrter Mann, dessen Sistem aus dem Guten der Protestanten und Katholiken zusammengesezt war, und nur zu wenig Eigenes für die Bedürfnisse seiner Nazion hatte. – Lori blikte tiefer und nahm das Lokale in seinen Plan, verwarf Manches, das nicht auf sein Vaterland zu passen schien, und drang – sonderlich auf eine gewisse Einfachheit des Erziehungswesens, die Bürger für diese und jene Welt bilden sollte. – Braun drang durch, und hat nach diesem seinen Plan in manchen Schriften der Welt vorgelegt, die[270] gewiß viel reiche Kenntnisse verrathen. Man wird aber bald sehen, daß die Vielwisserei, die aus Frankreich nach Deutschland kam, hier eben so wohl als dort, aufgeblasene, viel und nichts wissende, seichte, schönlallende Schwäzer, die überall und nirgends zu Hause sind, hervorbringen werde. In einem Briefe des grossen Herders an den Baron von Leuden, den er eben damals an ihn schrieb, heißt es: »Man will jezt Weisheit aus Fingerhüten schlürfen, nicht mehr mit geizigen Zügen aus dem Helme der Minerva Wasser, dem kastalischen Quell entschöpft, trinken. Diß jungferliche züchtige Schlürfen schikt sich nicht für Ihre Baiern! Lassen Sie sie ex pleno trinken!« Der nun gestorbene Bibliothekar Oefelen, einer der hellsten Köpfe in Baiern, urtheilte auf eben diesen Schlag, als ich mit ihm über das größte politische und moralische Thema, die Erziehung, sprach. Alle Plane die ich gesehen habe, sind Kapuzinersuppen; dünne, damit sie ausgeben, brühreich ohne Kraftbrokken. Man wird unsre Jünglinge eben so sattigen, als die Bettler[271] in Kapuzinerklöstern. In der freien Luft fühlen sie es, wie wenig sie Kraft geholt haben. – Die Zeit ist da, wo lebendige Beispiele die Wahrheit dieser Aussprüche der Weisen bestättigen werden. Mein Herr von Lori, dessen Hausgenosse ich nun war, gab mir inzwischen mehr als eine Gelegenheit, seinen edlen Karakter zu bewundern. So gelehrt und reichhaltig seine Schriften sind, so verriethen doch seine Privaturtheile noch weit tiefere, aus dem richtigsten Wahrheitsgefühl hervorkeimende Kenntnisse. Die Wissenschaften assen, tranken, reißten, übernachteten mit ihm, wie mit dem römischen Konsul. Da er gleichsam der Gesezgeber der Universität Ingolstadt war, so schreiben sich die dasigen schönen Anstalten auch meistens von ihm her. Er kannte nicht Einen Zeig nur am Baum des Erkenntnisses, er kannte Wurzel, Stamm und Wipfel; daher geisselte er die Fehler der Theologen eben so streng als der Rechtsgelehrten, Aerzte und Weltweisen ihre Vergehungen. Sein moralischer Karakter war groß und einzig. Patriotismus und uneigennüzige Tugend war die[272] Grundlage davon. Als zur Berichtigung des Erziehungswesens eine eigene Kommission niedergesezt wurde, und die Mitglieder derselben von der Festsezung ihres Gehalts wegen dieses neuen Geschäffts sprachen; so stand er auf und sagte mit edlem Unwillen: »wer solche Geschäffte aus Begierde des Lohns unternimmt, wird ein sehr schlechter Rathgeber sehn. Ich verlange nichts!« – Der erleuchtet'ste Geist kan nicht gleichgültiger gegen die Eitelkeit der Grossen, gegen Reichthum und Weltglanz sehn, als es dieser Mann war. Ob er gleich bei seinem Fürsten im höchsten Ansehen stand, und in den wichtigsten Geschäfften gebraucht wurde, so blieb er doch der rechte und schlechte Mann, der er zuvor war. Er lebte äusserst mässig, hatte ein Kleid für den Sommer, eins für den Winter; das war seine Garderobbe; achtete des Gelds so wenig, daß er keines zählen, keines bei sich tragen mochte, und schenkte, was ihm an seiner Besoldung übrig blieb, den Armen und seinen Freunden. Zeremoniöse Wakelköpfe und Pantins nach der Mode, floh er, wie den Teufel.[273] Geradheit, Deutschheit, Offenheit des Herzens, Genie, Gelehrsamkeit, vaterländisches Feuer, männlichen Ernst im Lichtschein der Freundlichkeit – solche Eigenschaften mußte man an sich haben, um bei ihm Eingang zu finden. Schurk war ihm Schurk, und Dummkopf Dummkopf, er mochte im Golde strozen, und Pomadedüfte um sich verhauchen, oder schlecht gekleidet und unfrisirt seyn. Er lieb unverheurathet. »Man ist mehr Patriot, sagt' er, wenn man kein Weib hat.« Sein Kopf war ungemein helle, wenn ihn nicht hipochondrische Nebel verdüsterten, die nicht selten in ihm aufstiegen. Wahrheit forschen, sie in allen Staubwinkeln suchen, die Gesundne anbeten, und sich ihr ewig vertrauen, war das Eigenthümliche dieser edlen und schönen Menschenseele. Mit Einem Worte: er gehörte unter die zwar etwas sonderbaren – Abweichung vom Ueblichen ist nicht immer bizarre Laune – aber herrlichsten Menschen unsers Vaterlandes, die Gott am meisten schäzt, weil er sie allein am besten kennt. Grosse Männer, unter andern Haller, wechselten Briefe[274] mit ihm, und sandten ihm ihr Schriften zu. Sie schäzten sonderlich an Lori sein weises Harren auf höhere Aufschlüsse, seine Erkenntnis der menschlichen Schwäche, und draus folgende Beugung unter den Starken im Himmel. Man muß warten, tönt er oft dem grossen Leibniz nach, bis alles reif wird.7 – O wie demüthigend war es für mich, wenn ich in mancher nüchternen Stunde mich an einem solchen Manne hinaufmaß! – Das Schiksal dieser Brutusseele unter der nachfolgenden Regierung ist bekannt. Er starb als ein Verbannter in Neuburg, hochgeschäzt und in seiner Armuth unterstüzt von so manchem bidern Baiern. Ich machte ihm die Grabschrift:


Hier liegt Lori

Ein ächter Baier

fester Seele,

starken Sinnes

ohne Falsch

[275] Freund der Wahrheit

Feind aller Schlangenkünste

Patriot, Weiser, Krist,

Erst jezt ists ihm wohl.


Mein thörichter Hang zur Abwechslung warf mich, wie auf Meereswogen umher. Ich war bald da bald dort, und ob ich gleich nicht mit der gehörigen Ruhe Beobachtungen anstellte: so entgieng mir doch das Grosse, Auffallende, Originelle, fast niemal. So entdekte ich bald in dem Grafen Lambert, dessen Schriften den Deutschen und Franzosen gleichviel Vergnügen machten, die schlaue, sarkastische Miene, die das Lächerliche und Ausserordentliche blizschnell entdekt, und es in der Jake oder im Talare darzustellen weiß. Ich hab' ihn im Hause des welschen Grafen Savioli kennen lernen, der vielleicht der erste vornehme Ausländer ist, der deutsche Schauspiele und Erzälungen schrieb, die viel Wiz und Studium unserer Sprache verrathen. Die bairische Akademie, der Klopstok in seiner gelehrten Republik den verdienten Ehrenzweig reichte, schien damals aus ökonomischen[276] Gründen, etwas von ihrem ersten Feuer verloren zu haben. Die würdigen Männer, aus denen sie bestand, waren damals dem Markgrafen von Anspach zu Ehren, der den Kurfürsten besuchte, sämtlich versammelt. Ihre Schriften enthalten manche tiefe filosofische, sonderlich historische Untersuchung. Oefele, der zugleich Bibliothekar war, spricht in seinen lateinischen Schriften mit dem vollen runden Römermunde, und wetteifert mit unserm Schwaz, Geßner, Ernesti, und Heyne – bald werden unsre Lateiner hingestorben seyn! – Ich traf ihn bei'm Seneka an, als ich ihn besuchte; er sprach vieles mit mir, alles in römisches und griechisches Salz getaucht. Sein Kopf glich beinahe Horazen's Kopf auf antiken Münzen und Gemmen. Die Münchner Bibliothek hat viel ungemein seltene Manuskripte, worunter die Partituren des alten grossen Kapellmeisters – Lasso meine Aufmerksamkeit vorzüglich reizten. Ich wünschte nichts mehr, als diese ehrwürdigen Denkmale der alten Musik bekannt gemacht zu sehen, noch mehr[277] sie aufführen zu hören. Aber wie würden sich unsere Musiker, die an fünf, sechs und mehr geschwänzte Noten gewöhnt sind, entsezen, wenn sie diese, wie Quadersteine ± daliegende Noten, die nicht wie Mükenfüsse Krabeln, sondern wie Elefantenhufe Drängen ausdrüken sollten! – Und unsre Porzelänmännchen und Marzipanpuppen, was würden die sagen? – O Lasso, Lasso, bleib' liegen, bis dich die bessere Nachwelt entmodert! –

Man sieht es, wie schnell ich wieder in ganz München, in hohen und niedern Gesellschaften, in Gesandtschaftshäusern und Bierschenken, in Büchersälen und gedankenlosen Zusammenkünften, der Jupiter's und Silen's, den Juno's und ihren Stubenmädchen, Virtuosen und Schnurranten, gesezten Weisen und lüftigen Landstreichern bekannt wurde. Ein grosser Fehler von mir, der mich wie im Trillahause solange herumtrieb, bis ich schwindelte und sank. O wie oft schien mir mein Geneus, er verließ mich nie gar, der gute, langmüthige Genius, auch[278] wenn mir Kakodämone Gift einspieen – aus dem Thyest des Seneka zuzurufen, auch bei'm Anblike des glanzreichsten deutschen Adels, sich im Vorsaale des Fürsten, wie Gestirne drängend – zuzurufen: – auch wenn die donnernde Sinfonie an Marmorgeländern hinunterscholl – mir zuzurufen: nicht wie sterbender Hauch, sondern wie Posaunenschall:


»Stet quicunque volet, potens

Aulæ culmine lubrico;

Me dulcis saturet quies!

Obscuro positus loco

Leni perfruar otio!

Nullis nata Quiritibus

Aetas per tacitum fluat!

Sic, cum transierint mei

Nullo cum strepitu dies,

Plebejus moriar senex!

O illi mors gravis incubat,

Qui notus nimis omnibus

Ignotus moritur sibi!«[279]


»Steh', wer da wolle, hoch und kühn

Auf des Hofes schlüpfriger Höhe!

Mir behage süsse Ruhe!

Gelagert im bergenden Schatten,

Möcht' ich geniessen erquikende Rast!

Keinem Höfling bekannt

Solte mein Leben im Stillen verfliessen!

Denn, wenn sie vorüberzögen

Getäuschlos, meine Tage;

So stürb' ich als gemeiner Greis!

O! schwer legt sich der Tod auf den,

Der Jedermann zu sehr bekannt

Sich selber unbekannt, stirbt!«


Solche Sprüche der Weisen, und so vernünftige Wünsche durchblizten meine Seele, und machten oft – doch nur auf Augenblike – die ganze scheußliche Nachtgruppe meines Herzens helle. Man drang nun in mich, meine Religion, in der ich geboren und erzogen war, der Katholischen aufzuopfern. Aber ein unwiderstehlicher Widerwillen, der sich wie eine Felsenwurzel in meinem Herzen gegründet hatte, hielt mich davon zurüke.[280] Ich sah zwar manche tugendhafte, edle, grosse, gottselige Menschen um mich, die vor dem Dornenpfade der Verläugnung und Nachfolge Jesu weniger zu scheuen schienen, als viele unsrer Protestanten. Der Gottesdienst war sinnlich, prächtig, und nicht selten rührend. So viele Orden und Brüderschaften, die sich durch die Beobachtung der strengsten Ordensregeln zur Ausübung der Kristenpflichten tüchtig machten, Priester, die den Fusboden des Tempels küßten, tausend zur Barmherzigkeit geöfnete Hände, knieende Sünder vor den Füssen des Priesters, die mich wieder an die Kirchenzucht der apostolischen Zeiten erinnerten; Büssende mit der blutigen Geissel in der Hand – die hallenden, zum Gebete für Sterbende aufforderende Gloken, feierliche Leichenzüge, Gebete um die Ruhe und Vollendung der Todten – herzerhebende Gemälde in Tempeln, Kapellen und Klöstern, die interessantesten Szenen aus dem Leben Jesu und seiner Nachfolger darstellend – rührten, durchdrangen, durchsägten mein Innerstes. – Noch steht der Franziskaner vor[281] meiner Seele, der eben vor einem in ihrem Klostergarten herrlich in Fresko gemalten Kristusbilde, das noch blutig von der zerfleischenden Geissel der Kriegsknechte zu sehn schien, betend knieete, und plözlich aufstand, als ich in Garten trat. Sein helles Auge schimmerte Andacht herunter. »Ein herrliches Gemäld' Ihr Hochwürden!« – »Das Original ist noch herrlicher,« sagt' er lächelnd. – »Und warum wenden Sie sich nicht zum Original?« »Es scheint Sie sind ein Protestant; – aber der Künstler hilft nur meiner Fantasie nach, mein Geist schwebt bei'm rechten Kristus. Können Sie denn beten ohne Bild vor Ihrer Seele? Ist es nicht besser, ein Meister malt uns die Heiligen, als unsere kränklende Fantasie?« – Ich konnt' ihm nichts antworten. Er führte mich im Garten und Kloster herum, und sagte zu mir: »via crucis est via salutis, das sagte Kristus und die heiligen Väter alle. Sie mögen Protestant bleiben, oder Sich zu uns wenden: so müssen Sie auf dem Kreuzesweg zur Seeligkeit eingehen.« – Er verlies[282] mich segnend. – Kreuzesweg! dacht' ich, der meinige ist der Allerbetrübteste. Ich trage Fesseln des Lasters, und habe überdies noch Fluch zu erwarten. Der kristliche Kreuzträger hat Ruh' und süssen Frieden mitten unter der Last; denn er folgt seinem Herrn nach. – Aber du!! – du wälzst dich in den Pfüzen der Welt, stinkst dich und andere an, trägst den brennenden Pfeil des Mißvergnügens mit dir herum, darfst nicht gen Himmel bliken, bist ein zweifach erstorbner fauler Baum – bist – ein Ungeheuer bist du! – ein niedriges Ungeheuer, das der Teufel selbst verachtet, weil du zu dumm bist, die Güter des Leben recht zu geniessen. – Denn in der That litt' ich mitten im Ueberfluß oft Mangel. Heute speißte ich an der strömenden Tafel eines Grossen, und morgen in der Bierschenke mit Lakaien – oft gar nicht. Zu diesem traurigen Zustande kam noch der Drache Hipochondrie, der mich nirgends mehr peinigte, als in München. Die Gemälde schienen mir zu gähnen, die Bildsäulen zu wakeln, die Tonkünstler zu heulen – ich[283] riß mich aus der Stadt, sah das tröpflende Schwerdt auf dem Rabenstein liegen, und den zukenden Missethäter neben ihm; suchte Grotten, Höhlen, Gräber; – die Raben schienen auf mich herabzukrächzen, die Weihen sich über mir zu kreissen; Sturm war mir lieber als Stille, und die Mitternacht angenehmer, als der schönste glanzreichste Wintertag. – Teuflische Gedanken schwärzten meine Seele: morde, daß man dich wieder mordet! – Ersäuf' dich in diesem Strome! – Aber was wird aus deinem Weibe und deinen Kindern werden? – dieser einzige Gedanke hielt mich von Gewaltthat zurük.

Ich schrieb' um diese Zeit einen sehr wehmütigen Brief an meine Frau, der sie, statt des Trostes, noch grausamer niederdrükte. Ich selber suchte Trost, und konnte keinen finden, weil ich mich niemand entdekte. Es war mir bekannt, daß mein Freund Deller hier gestorben war. Er kam von Wien, wo er bestohlen und mishandelt wurde, hieher; sollte der verwittweten Kurfürstin von Sachsen, einer grossen Künstlerin, eine[284] Messe komponiren, und bekam ein hiziges Faulfieber mitten unter der Arbeit. Man schafte ihn in's Kloster der barmherzigen Brüder hinaus, wo er, nachdem er mit tausend Thränen seine Ausschweifungen beweinte, im vollen Sommer seines Lebens starb. Ich suchte sein Grab, und ein barmherziger Bruder wieß es mir an der Mauer seines Klosters. Der Bruder hatte Geschäffte; Ich stand also allein hier – am Grab' eines Genie's, eines meiner liebsten Freunde! Mit dem Schwerdte der Kümmernis in der Seele. – »Da schläfst du also Deller, Sohn der Harmonie! Mann von menschlicher Seele! gegeisselt wie ich, von Wein, Mädchenliebe, Unordnung, Leichtsinn und Zweifelsucht! – Du suchtest Ruhe, wie ich; hast du sie hier gefunden? unter Bettlern, Krüppeln, Siechen und Elenden gefunden? – Erbärmlicher Ruhm, ein Genie ohne Tugend gewesen zu seyn!! – Mangel trieb dich herum, deine Freunde erlaubten dir's nicht, in ihrem Hause zu sterben; hier unter der Pflege eines barmherzigen Ordens solltest du dein Leben[285] verächzen, und die Sünde verfluchen, die dir so viel Trost des Lebens raubte; – – der schwäbische Schulmeister, der deine Komposizionen mit gaffender Ehrfurcht und mit gefaltner Hand anhörte, lebt noch, glüklich durch die Ordnung; von seiner Gattinn gepflegt, seinen Kindern geliebt, und wird spät, vom Alter gekrümmt, und lebenssatt, im Glauben an Jesum entschlummern!! – O Ordnung! o Tugend, wie viel mehr bist du, als Geniusflamnie, die, wie der Komet regellos daherzeucht, und Unglük weissagt! – Und nun schlaf' wohl, armer Deller! ich hoff' es, dir habe dein Gott verziehen! – Auch mir!« – – Wütende Thränen stürzten nieder, und ich mußte mich aus dem Kirchhofe reissen, weil ein Bruder mit der Schaufel kam, und dicht neben Deller ein neues Grab für einen Reisenden machte, der eben gestorben war. –

Solcher trüben Stunden hatt' ich viele – und wer sollte es glauben, daß ich so unverschämt war, und zuweilen betete: »Hab' noch eine Weile Gedult mit mir, lieber[286] Gott! Ich bin jezt verirrt! bin trunken! bin ein Narr! wenn ich erwache, so soll's besser geh'n.« Das war so ungefehr der geheime Sinn meines Gebets. Ich erfuhr auch einmal in einer höchstwichtigen Angelegenheit augenscheinliche Erhörung meines Gebets. Wer Gott nach Menschen mißt, wird diß für eine Lüge halten. – Aber wahr ist's! Gott hört auch zuweilen Sünder, und sucht sie durch eine so erstaunliche Herablassung und Güte zu gewinnen. Diese Ueberzeugung und Erfahrung hat nachher manches Gute in meiner Seele gewürkt. Und noch dank' ich dir mein Gott, mit lauten, betenden Thränen, daß du mir Verirrten nachgiengst, und mir oft hörbar zuflistertest: »Was willt du laufen, mein Sohn!? Kehre wieder! Kehre wieder!« – Wenn die Tugend schon hier ihren Sonnenpunkt hat, etwan im tiefsten Leiden, oder am Rande des Grabes; so hat auch gewies das Laster seinen Entfernungspunkt;8 dann muß es entweder in ewige Nacht versinken, oder[287] die ermüdete Seele muß wieder die Sonne suchen, sich wärmen und erleuchten. Meine Sonnenferne war München. Nirgends war ich so unfähig zum Guten, wie hier. Nicht eine Komödie, die ich zehnmal anfieng, und bereits einen Plan dazu entworfen hatte, der Jedermann gefiel, nicht die Berichtigung von Burnei's Reisen, die ich versprach, nicht eine Ode, ein Lied – ein Menuet, nicht einmal ein Brief wollte mir gelingen. Ich war eine Wolke, die kein Wasser gab. Ausser einigen Lekzionen auf dem Flügel, einigen Anleitungen zur Litterargeschichte, Korrekzionen von Aufsäzen, die daselbst gemacht wurden, hab' ich nichts Nüzliches in München gethan. Kanonikus Braun, ein aufgeräumter, vielwissender Mann, bot mir sein Privilegium an, das ihm der Kurfürst gab, eine gelehrte Zeitung zu schreiben. Die Religion sollte aber vorher geändert werden, und da hatt' ich gewaltige Anstösse. Für's erste sah' ich gar bald aus vielen Beispielen, daß eine Religion wie die Katholische, die sich bei all ihrem Guten, so weit vom Quelle abgeirrt[288] hat, entweder zum Aberglauben oder Unglauben leite, und das Herz nie ganz befestige. Wenn ich auf's Land gieng, so sah' ich in jedem hohlen Baume, in jeder Blende eines Hauses, ein flittergoldnes Bild irgend eines Heiligen, und die betrog'ne Einfalt davor knieen – in Wäldern Nischen, mit eingenagelten fünf Wunden – unter dem Volke einen überhaupt so erniedrigenden Aberglauben, daß ich oft in den Zeiten des diksten Heidenthums zu leben glaubte. Die Linien des Aeussersten von zwei einander entgegengesezten Dingen scheinen nicht anzugränzen, sondern sich ineinander zu verlieren; daher ist der Schritt vom Aberglauben zum Unglauben so bald gethan. Es giebt in München mehr als Ein Haus, wo in einem Stokwerk Pater Koche'ms Legenden, im andern Edelmann's oder Voltär's Schriften klassisch verehrt werden. Die Verachtung oder Gleichgültigkeit gegen die Bibel ist so groß, daß selbst Doktoren der Theologie, wenigstens damals, dieselbe nicht in der Grundsprache lesen konnten, und die Laien durften und konnten sie nicht lesen.9[289] Der Ton im Predigen ist meist komisch, kaum besser als die spöttische Schwanzpredigt, die ein schlauer Kenner der bairischen Homiletik herausgab. Braun wird Mühe haben, diesen Stall durch sein Beispiel allein zu misten. Die Erbauungsbücher sind in einem so elenden kraftlosen Stile, und mit so wenigem Kristussinne geschrieben, daß es einem belesenen Lutheraner grauen muß, solches Zeug zu lesen. Dogmatik, Hermeneutik, Exegetik, unparteiische Kirchengeschichte, lag damals in der Verwüstung, und vielleicht ist es Karln Theodorn aufbewahrt gewesen, der Reformator seines neuen Volks zu werden. – Noch ein Umstand, der den entschlossensten Konvertiten abschreken mußte, war der, daß man anfieng, nicht mehr mit dem alten Eifer Bekehrte zu machen, und die sogenannten Neubekehrten selbst sehr kalt, oft verächtlich, als Ausschüslinge ihrer ehmaligen Glaubensgenossen zu behandeln. Herr Osterwald,[290] ein gelehrter, verdienstvoller und rechtschafner Mann, hat diß auf eine so empfindliche Art erfahren, daß er sich meist in den Verborgenheiten seines Studierzimmers aufhielt, und ein sehr dumpfes, trübseliges Leben führte. – Eben als ich diese Schwierigkeiten in meinem Herzen wog, so erhielt ein angesehener Mann in München, auf seine Anfrage wegen meiner, aus Stuttgart eine Rükantwort, die allen meinen Bedenklichkeiten und Entwürfen auf einmal ein Ende machte. Dieser Stuttgartische Korrespondent, der freilich viel Schlimmes von mir sagen konnte, malte mich noch schlimmer ab, als ich seyn mochte; ließ mir nicht einmal das wenige Gute, das selbst Feinde an mir bemerkt haben wollten.10 Er sezte sonderlich hinzu, daß ich keinen heiligen Geist glaubte, und vorzüglich deswegen das Würtembergische hätte räumen müssen. – Fort mit ihm! hieß es nun allenthalben in München. Ich hatte kaum Zeit Abschied zu nehmen; aus Schaam beobachtete ich nicht[291] einmal diese Pflicht gegen den so theuren Lori. Der Kurfürst und einige meiner Gönner und Freunde ertheilten mir doch ein ansehnliches Geschenk – und sogleich wurde der Ballon geschwungen, und ich flog wieder in der freien Luft. – Man wird bald merken, daß die Vorsehung selbst meine Feinde brauchte, um mich nach und nach dahin zu bringen, wo ich einmal umkehren, meine Thorheit beklagen, und Gott suchen sollte.

Wohin Kerl? dacht' ich, als ich zum Thor hinausfuhr. Der Postwagen wurde mir bald zu enge. Ich stieg aus, und schnappte nach Luft. Wohin Kerl? Stokholm, Petersburg, Wien, schwebten mir immer heller vor der Seele, bis ich mich entschlos nach Stokholm zu reisen, ob ich gleich sehr schöne Aussichten nach Petersburg und Wien hatte. Der Karakter des Königs von Schweden, und der englische Gesandte des Vesmes, der eben von München aus dahin abgereißt war, hatten den grösten Antheil an diesem meinem Entschlusse. Ich war ganz gesund, sezte mich in den Kahn, seegelte in's hohe Weltmeer, und ließ seine Wogen mit mir spielen.


Ende des ersten Theils.

1

Der Graf von Sinzheim, einer meiner ersten Beschüzer, ist ein geschmakvoller Kenner der Tonkunst, in dessen Hause ich manche frohe und lehrreiche Stunde verlebte. Er ist jezt wie ich höre, Präsident des geistlichen Gerichts – ein Posten, der seinem Geist und Herzen vollkommen anpaßt.

2

Leider, heißt es jezt – war; denn er starb jüngst zu Berlin.

3

Jezt aber sind beede Kapellen in ein grosses Eins zerflossen.

4

Bürger und Hiller haben indessen schon viel geleistet.

5

Mich freut's, daß Kapellmeister Reichard – dieser lange nicht nach Verdienst geschäzte Mann, hierinne mit mir so genau zusammenstößt – noch mehr Vogler, der Unsterbliche.

6

Dieser trefliche für Wissenschaft und Kunst höchstbegeisterte Mann hatte vor einigen Jahren das blutige Schiksal, von einer Tochter des Baron von Leuden auf seinem Landgute Affingen – unvorsichtiger Weise – erschossen zu werden.

7

tempus expectandum, donec omnia maturescant.

8

Aphelium und Periphelium sind hier die Anspielung – Sonnenferne, Sonnennähe.

9

Ist jezt – Dank sei' es dem weisen Josef, einem Karl Theodor, und dem unsterblichen Braschi – so vortheilhaft abgeändert, daß wir dem seligen Augenblik der Religionsvereinigung immer heller entgegen sehen.

10

Der Mann lebt noch in grossen Ehren; ich hoffe, er soll sich jezt schämen, jemals so schlecht und bösartig von mir geurtheilt zu haben.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Schubartߣs Leben und Gesinnungen. Erster Theil, Stuttgart 1791, S. 256-293.
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