Fünfzehenter Period.

[238] Und nun saß 'ich im Reisewagen, an der Seite eines vornehmen Gesandten, unter dem Karakter eines Konvertiten. Die ganze Person des Baron von Leiden sprach zwar männlichen, aber nicht zurükschrekkenden Ernst. Sein Geist, an die Strenge der verschwiegenen Staatskunst gewöhnt, trat langsam oder gar nicht aus dem Gewölke – nachdem er seinen Gefährten trauen oder nicht trauen konnte. Was er blikken lies, war schön, im Lichte der Vaterlandsliebe und der reinsten Gewissenhaftigkeit leuchtend. Er sprach mit Begeisterung von seinem Vaterlande, und trug schon damals das Geheimniß auf dem Herzen, das hernach bei dem Tode seines Fürsten ausbrach. Ob er gleich seiner Religion eifrigst zugethan war; so schäzte er doch die Gelehrsamkeit und Aufklärung der Protestanten, und empfahl sie seinen Landsleuten unaufhörlich zur Nachahmung. Er reißte blos[238] deßwegen nach Göttingen, um sein Ideal von einer guten Universität darnach zu messen, und es bei Gelegenheit auf Ingolstadt anzuwenden. Die Geschichte und das Staatsinteresse seines Vaterlandes kannte er vollkommen. Man kann nicht arbeitsamer, auch mitten auf der Reise, treuer, verschwiegner, ökonomischer seyn, als er es war. Er schrieb die deutsche Sprache rein und nachdrüklich; auch sprach er sie ohne alle Affektation, besser, als sonst ein Baier aus. Er ärgerte sich über die Stümmlungen der Hannoveraner, Hessen und Pfälzer, und vertheidigte den vollen Ton seiner Landessprache. Sein Herz ist voll Liebe, Nachsicht und Verträglichkeit. Ich hab' ihn, so lang' ich ihn kannte, nie zanken, nie fluchen hören. Ein ruhiger Verweiß, in einen Volksspruch gekleidet, ist alles womit er straft. Er lebt mäßig, und ist selbst sein strengster Richter. Die Religion ist ihm über alles theuer; er hört die Einwürfe der Freigeister an, und seine Seele bleibt ruhig auf ihrem Grunde liegen. Ein feiner Scherz gefällt ihm zwar wohl, er selbst aber kleidet sich am liebsten in Ernst. Mit Einem[239] Wort: er scheint das Maas eines Weisen und tugendhaften Staatsmannes bis auf wenige Striche zu haben. Wir kamen unter den angenehmsten Unterredungen nach Aschaffenburg, wo er mit dem Minister von Grosschlag wichtige Geschäfte abzuthun hatte. Ich hatte das Glük, einen ganzen Tag in der Gesellschaft dieses treflichen Ministers zu seyn. Ja wohl ist es eine Wollust einen grossen Mann zu sehen! – Grosschlag gehört unstreitig unter die verdientesten und größten Männer unsers Vaterlandes. Die Rastlosigkeit und das Feuer seines hohen Genius kündigt sich schon in seiner Miene, seiner Stellung, seinen Gebärden, an. Er funkelt in der Glorie des Genies. Staatskunst, Weltweisheit, Geschichte, schöne Wissenschaften und Künste, Pädagogik, Sprachen, Menschenkenntniß, Religion – alles liegt im Kreiße, den der Zauberstab seines Genius um ihn herzog. Was er spricht, befiehlt, thut – hat das Gepräge eines zum Gesezgeber gebornen Geistes. Wenn man sich erinnert, welche Schwierigkeiten er überwand, bis er das Erziehungswesen im Mainzischen ordnete, mit welchen Minotauren[240] und Drachen er zu kämpfen hatte, bis er Erfurt wieder emporhob – und was seine Seele leiden mußte, als der plözliche Tod seines weisen Fürsten alle seine grossen mühsamen Anstalten wie im Donnersturme niedertrümmerte; der wird es fühlen, welch ein Geistermaler dazu gehöre, das Eigenthümliche, nüanzirte Grose dieses Mannes darzustellen. Wir sprachen von tausend Dingen – ich als Neuling, er als Meister. – »Wie sind Sie der Mann geworden, Ihr Exzellenz?« fragt' ich; »durch einen romantischen Zufall,« erwiederte er. »Ich war ein wollüstiger, leichtsinniger, absichtloser Wildfang in meiner Jugend, bis ich einst, wie durch ein Wunder, auf der Jagd einen Mann antraf, der sich mit mir unter einen Baum sezte, alle meine Anlagen vom Gesicht herunterlas, meine Sitten bestrafte, und mir in kurzen, weitgreifenden Grundsäzen zeigte, wie ich künftig mein Leben einzurichten hätte. – Ich befolgte diese Grundsäze, und bin nun, was ich bin. Mein Mentor, ein alter erfahrner Edelmann, freute sich über meine Folgsamkeit, und ist vor Kurzem im Frieden gestorben.« –[241] Ich sah mit diesem treflichen Kopfe den Main hinunter den dicht am Schlosse vorbeizog, hörte eine sehr schöne Musik, womit man dem anwesenden Kurfürsten den Morgengruß gab, durchblikte mit geizigem Auge die ganze Schönheit der weiten Gegend, durch manche schöne deutsche Heldenthat so groß, so ehrwürdig! – und horchte der tiefsinnigen Weisheit meines Perikles. – O Gott! ich hatte der Freuden viel; verzeih's, daß ich zu wild war, um sie weislich geniessen zu können! – Ich rieß mich aus dem Zauberkreise dieses Mannes, und reißte mit meinem Beschüzer über Dieburg – (auch hier fanden wir in der Anlage eines Hesperidengarten die Geniushand des Herrn von Grosschlag,) nach Darmstadt, wo ich in meinem Leben die schönste und regelmäßigste Kriegsmusik hörte. Meine Seele stieg, und witterte Krieg, als ich diß vortrefliche Musikkor vor einem Haufen der schönsten und geübtesten Soldaten von der Welt, herschreiten sah. – Aber besanftigt und zu Empfindungen der Schwermuth heruntergestimmt wurde diese Seele, als ich im Garten des Landgrafen, im[242] schauervollsten Dikicht das Grab, mit der melankolischen Urne drauf, sah, in dem die weise und kristliche Landgräfinn schlummern wollte. Sie war eben damals in Rußland, um dem Grosfürsten ihre Tochter zuzuführen. – Aber die Freude, eine Kristinn zu seyn, zog sie der vergänglichen Ehre weit vor, Kaisern und Königen ihre Töchter gegeben zu haben. Das daselbst befindliche Exerzierhaus ist ein Meisterstük der Baukunst, und ergözte mich um so mehr, weil es ein Deutscher gebaut hatte. Im ganzen Gebäude ist weder Säule noch Pilaster; die auf dem Dachstuhle wie Riesenarme ineinandergeschlungene Hang- und Tragbalken, tragen das ganze Gebäude, in welchem zweitausend Mann bequem manövriren können, gleichsam in der Luft. Wenn ich ein Engländer wäre, so würd' ich nicht unangemerkt lassen dürfen, daß der verstorbene Landgraf – sonst ein Mann von wahrem Heldengeiste; wie seine Kriegsthaten erweisen, – die Schwachheit hatte, nach der kleinen Ehre zu geizen, der erste Tambour in Europa zu seyn. Doch, man erlaube den Fürsten ihre Schwachheiten zu haben; denn sie sind[243] Menschen wie wir; und wir begehen ja der Schwachheiten zu tausenden. –

Wir kamen nach Würzburg, wo der Gesandte dem ersten bairischen Minister, Grafen von Sinzheim, – der seinen Bruder, den damaligen Fürstbischof besuchte, – den Erfolg seiner Reise zu hinterbringen hatte. Hier spielt' ich vor dem Fürsten, und sprach mit ihm über verschiedene wichtige Gegenstände, sonderlich über die weise Anordnung der dasigen Universität, die zum zweiten Rang nach Göttingen, emporstrebte; – oder vielmehr nach dem ersten Range unter den deutschen katholischen Universitäten. – Der Fürst zeigte viel Einsicht, und einen sehr aufgeraumten, hellen Geist. Man mußte mir auf seinen Befehl alle Schönheiten seines Schlosses zeigen, die hier reicher ausgestreut sind, als ich sie irgendwo gesehen hatte. Bauart und Anlage des Schlosses ist vortreflich; sonderlich sind die Treppen so schön, breit, licht, bequem, daß sie dem besten griechischen Baumeister Ehre machen würden. Das Dekkenstük von Tiepoli, die Karaktere der vier Welttheile ausdrükkend, ist ein[244] Meisterwerk. Ich stand so lange darunter, bis mein Nakken vom Emporschauen, und mein Herz vom Nachgefühl, – denn jedes nüzliche Beschauen der Kunstwerke muß Nachgefühl, oder ein stilles Nachzittern vom Vorgefühl des schaffenden Künstlers seyn, – ermüdete. Dem Fürsten gefiel meine Aufmerksamkeit auf die Schönheiten seiner Residenz ungemein wohl, ich mußte alle Säle und Zimmer durchstreifen, und meine Anmerkungen darüber machen. Vieles in diesem Palaste ist geringfügig, mehr durch abwechslende Farben, als durch hohen Sinn täuschend. Der dicht dabei liegende Garten ist weder ganz ausgearbeitet, noch schön angelegt, und über das noch mit den erbärmlichsten Statüen verunstaltet. Man führte mich nach Veitzechen, einem reizenden Sommerhause des Fürsten; man überschwemmte mich da mit Höflichkeitsbezeugungen, zeigte mir alle Anlagen, Grotten, nachgeäffte Ruinen, gemalte Bildsäulen, im komischen, ganz und gar ungriechischen Geschmake, Säulen am Salon, auf musivische Art mit gefärbten Kieselsteinen verziert, und tausend Dinge, die den, der von[245] Schwezzingen herkam, nur mit einem matten Schlage rührten. Ein bronzirtes Pferd, mitten im See, auf einer Säule stehend, schien viel Kunst zu verrathen. Der Bildhauer, der dies alles verfertigte, war ein Selbstgelehrter von lüftigen Sitten, der ausser wenigen Formen, keine Meisterstükke der Skulptur gesehen hatte, und also blos die Ideale seiner eignen Fantasie kopieren mußte. Indessen fiel es dem Reisenden sehr schwer auf, Büffons, Harlekins, Skapins, Hannswurste, Anselmo's, Kolombinen, bunt und lieblich gemalt, wie auf den Münchner Tarokkarten, aus Stein gehauen, und im bunten Zirkel einander angrinsend, im Garten eines geistlichen Fürsten zu sehen. Doch die Heiligen, kan man denken, gehören in die Kirche. Ich genoß inzwischen die Welt in Würzburg, die hier recht schekigt und kraus durcheinanderwimmelt, so gut ich konnte. Unter andern besucht' ich auch den berühmten Konvertiten Herwig, und mußte mich ungemein wundern, ihn kaum ausfragen zu können; so wenig war er bekannt. Auch die wenigen, die ihn kannten, sprachen kalt[246] und mit verächtlichen Seitenblikken von ihm. Ich habe nach diesem noch mehr Anlaß zur Anmerkung gefunden: »daß Renegaten bei Türken und Kristen zwar willig aufgenommen, aber meistens bald verachtet werden.« Ich traf endlich Herwig in einem Winkel der Stadt, parterre wohnend, an, sprach manches über die Litteratur, sonderlich über seinen Aristofanes, und über seine Plane, den Geschmak in den hiesigen Gegenden zu verbreiten, mit ihm, und glaubte das tiefliegende Mißvergnügen seines Herzens aus einigen trüben Zügen seines Antlizes herunterlesen zu können. Ich rühmte hernach, selbst gegen den Fürsten, die mannigfaltige Geschiklichkeit dieses Mannes: die Folge aber hat gewiesen, daß Würzburg der Plaz nicht für einen Mann wie Herwig war. Ich mußte mich sehr betrügen, oder er hat seinen Abfall von der evangelischen Kirche gewiß schon hundertmal bereut; so sehr er auch in seinen neusten Schriften durch hizige Ausfälle auf die Protestanten, das Gegentheil zu äussern scheint.1[247]

Ich sezte mich nun wieder zu meinem Beschüzer in Wagen, und ließ mich in gedankenlosem Unsinn fortrollen, wohin er wollte. So unbeschreiblich leichtsinnig ich war; so durchblizte doch zuweilen der Schauergedanke mein Innerstes, welch ein plan- und zwekloses, Gott- und der Welt unnüzes Leben ich führte; wie ich durch Ausschweifungen meine Gesundheit zerstörte; meine schöne Naturanlagen in rasender Unordnung verderbte, und jezt im Begriff wäre, einen Schritt zu thun, der mich meiner ganzen Familie zum Greuel machen müßte, weil damals unter vielen Lutheranern – katholisch- und verdammt werden – eins war. Diese Gedanken wölkten sich immer dichter und schwärzer in meiner Seele, je näher ich dem Aufenthalte meiner Blutsverwandten kam. Wir weilten einen Tag in Ellwangen, drei Stunden von Aalen, wo meine Eltern waren, die mich schon lange für einen ungerathenen Sohn hielten,[248] und in bangsamer Ungewißheit waren, wo mich der Sturm in der Welt herumtrieb. Ich glaubte die vaterländische Luft zu fühlen, und schauderte darinnen, wie ein Missethäter. »Aber dacht' ich, die Wooge Unordnung hat dich schon zu weit verschlagen, und nun geh's, wohin es wolle.« In den wenigen Stunden, die ich mich in Ellwangen aufhielt, und die mein grosmuthiger Beschüzer alle lehrreich und ergözend auszufüllen suchte, lernte ich an dem Grafen von Oetingen einen der seltsamsten Karaktere kennen. Sein phisischer und moralischer Geschmak war gleich originell. Er nährte sich meist mit Zukker, was den Leib betraf, und seine Seele speißte sich mit türkischen, persischen, arabischen, kabalistischen alchimistischen und hieroglifischen Delikatessen. Seine in vielen Quartanten zusammengeschriebene Gedanken, Reflexionen, Urtheile über tausenderlei, meist ungewöhnliche Gegenstände, würden für den Forscher des menschlichen Herzens der lehrreichste Zeitvertreib seyn, und dabei großen Nuzen gewähren.2[249]

Auch die Phisiognomie dieses Mannes hatte was ganz Eigenes, und verdiente einen ansehnlichen Plaz in Lavaters grossem Werke. –

Wir kamen nach Nördlingen; speißten daselbst. Wie mein Herz da laut emporschlug, als mich jeder Stein an meinen ehmaligen hiesigen Aufenthalt erinnerte – und wie diese Schläge so furchtbar wurden, als ich an meinen lieben Bökh dachte, der hier Archidiakonus war, und an meine zärtliche Schwester Juliane, die ich beede aus Furcht ihrer verdienten Bestrafung nicht zu besuchen wagte; das wird mir der glauben, der wie ich die Qual eines halbgetödteten Gewissens mit sich herumtrug. Ich fühlte die Seeligkeit dieser meiner Freunde, die schon dreizehen Jahr im Schoose der Tugend und Ordnung, den Frieden des Gewissens und jede Freude des häußlichen und geselligen Lebens kosteten,[250] und von nichts, als von den traurigen Nachrichten von mir, geängstet wurden; – diß fühlt' ich in schnellem, wie Schwefeltropfen auffallendem Angstgefühl, und konnte kaum den Augenblik erwarten, bis mich der Wagen wieder aus Nördlingen riß. Kaum war ich aus diesem beklemmenden Dunstkreiße heraus; so verschlang die alte Nacht in mir den fallenden Lichtstrahl wieder, und seine Stätte wurde noch finsterer.

Wir kamen endlich über Donauwerth3 und Augspurg in Affingen an, einem nur zwo Stunden von lezterer Stadt entliegenden Landguthe des Gesandten. Der arbeitsame, von Reisen ermüdete Staatsmann, war hier einige Wochen Ehgemahl, Vater, Richter und Landwirth; der Zärtlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit[251] und Ordnung ergoß. Ich durchstreifte inzwischen, wie von Furien gejagt, das Landguth meines Beschüzers, glozte aus weiten Augen Alleen, Plantagen, Zimmer, Gemälde, Bücher, Gärten, Wälder und Haine an, besuchte die benachbarten Geistlichen, stürmte Unsinn aufs Papier, fuhr einigemal nach Augspurg, um die dasigen deutschen Schauspiele auszuzischen; kam zurük, aß, trank, lernte verschiedene Menschengesichter, krumme und gerade, Denkermienen und Pausbakken der Dummheit und des aberglaubischen Wahns kennen, lachte, und brütete Schwermuth, alles so durcheinander, wie man es von einer solchen, von der Leidenschaft geschüttelten Seele erwarten konnte. Die Gemalinn des Gesandten, eine Schwester des damaligen Bischofs von Freysingen, war ein schönes, ihren Gemahl zärtlich liebendes, ihre Kinder sorglich erziehendes, und von der Hofluft noch gar nicht angestektes Weib. Der Hofmeister des ältesten Sohns war ein gutmeinender, aber in wissenschaftlichen Dingen sehr kleiner Mann. Der Gesandte fand hernach einen jungen Geistlichen[252] in Mannheim, dem er seine Kinder mit sehr schönem Erfolg anvertraute. Es war Westenrieder, der sich jezt durch so schöne Geistesprodukte auszeichnet.

Mitten unter Beschäftigungen dieser Art erhielt' ich auf einmal zween Briefe von meinem lieben Weibe. Sie waren beede in zärtliche Schwermuth, weibliche Sorgsamkeit, girrende Liebe, und innige Dankbarkeit getaucht. Meine Gattinn hatte, seitdem ich in der Welt herumjagte, Schmetterlinge fieng, und Blumen beroch, das bitterste Leiden auszustehen. Sie war einige Zeit in Ludwigsburg, ohne Hülfe von Seiten der Menschen, den bittersten Vorwürfen meiner Feinde ausgesezt, in allen Gesellschaften als Bettlerinn angesehen, kalt bemitleidet und heiß verachtet, und zog mit ihren Kindern, sich auf Gott verlassend, ihrer Heimath zu. Da fand sie ihre Mutter am hizigen Fieber schwer darnieder liegend. Sie drükte die rauchende mütterliche Hand, pflegte ihrer Mutter, ihrem Bruder, bot rechts und links Hülfe, bis ihre Knie brachen, und das Gift der Krankheit sie selbst aufs Bette warf. Sie[253] brütete einige schrekliche Tage sinnlos in ihren Qualen hin, und als sie das Erstemal wieder die Augen zum neuen Leben aufschlug; so stammelte sie die Frage: »wo ist mein Mann?« – Und eben da, bot ihr, ihr treuer Vater, der sie nie verließ, einen Brief von mir in's Bette, der sie mehr erquikte, als alle Arzneien. Sie genaß, und hofte wieder aufs neue wegen meiner; denn mein Weib hat niemalen, selbst in den größten Verfinsterungen meiner Seele, alle Hofnung wegen meiner Wiederkehr zu Gott, fahren lassen. Sie betete vielmehr im Stillen desto ernstlicher für mich, und schien die Gewißheit ihrer Erhörung immer mit sich herumzutragen. Meine Kinder giengen in die Geißlinger Schule, standen manche Stunde zu Haus vor meinem Porträt, und wollten es mit ihren Thränen und liebevollen Ausdrükken in's Leben rufen. Ich Unwürdiger hatte eine Gattinn und Kinder, die mich nie beleidigten, nie betrübten, sondern mir durch Gehorsam und Liebe die Stunden des Lebens zu einfältigen, frohen Schaferstunden zu machen strebten. – Die Gedanken marterten mich, daß ich bald[254] meine Briefe verbarg, und Gelegenheit suchte, ihre trüben Eindrükke wegzustürmen. Diese ereignete sich gar bald, indem ich mit dem Gesandten, im Oktober 1773. zu München anlangte. – Es wandelte mich um diese Zeit der bangsame Seelenzustand an, daß ich immer fliehen wollte, ohne zu wissen vor wem, und wohin? – Daher fand ich im beständigen Herumschwärmen, die noch einzige übrige Art von Erholung für mich. – Fliehen, fliehen wollt' ich – aber vor wem? – Vor Gott? – Vor mir? – Ach vor beeden! Gott dacht' ich mir, als meinen Feind, und ich war mir selbst zur Last geworden. Der künftige Zustand der Verdammten bricht schon hier an den Lasterhaften aus. Dann welch ein Zustand war der meinige!! –


Der Mensch ist göttlichen Geschlechts,

Voll Vorgefühl der Wahrheit und des Rechts;

Verlezt er diß Gefühl, so sträubt sich sein Gewissen.

Von welchen Furien wird dann sein Herz zerrissen!

1

Es geht ihm jezt sehr wohl, und er bereut seinen Abfall von der evangelischen Religion nicht, weil er Zeiten erlebt hat, wo sich vieles Religionslicht über die Katholiken verbreitet – indem die Protestanten zum Theile, beim Talglichte ihrer Vernunft frohloken.

2

Bei dieser Gelegenheit muß ich die Anmerkung beifügen, daß die Klage unserer Schriftsteller, über den Mangel origineller Karaktere unter den Deutschen gerecht sei. Wir haben ihrer nicht so viel, wie die Engländer; aber doch keinen Mangel daran. Man habe nur Augen zu sehen, Verstand zu prüfen, Scharfsinn einzudringen, Geist zu schreiben, und Genie, wie Fielding, Smollet – darzustellen.

3

Donauwerth ist eine in vielem Betrachte sehr wichtige Stadt – weiland voll der enthusiasmirtesten Lutheraner, nun, durch ehmalige Gewaltthat seiner Freiheit beraubt, voll des diksten Katholizismus. Furcht und Pfafferei hat den ganzen Karakter seiner Innwohner verpfuscht. Ich blieb einige Tage hier, und sezte mich alle Tage auf den Höhen des dasigen Schellenbergs, der ein Gebeinhügel voll Todten, durch den Sturm vom 2. Junius, 1704. wurde.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Schubartߣs Leben und Gesinnungen. Erster Theil, Stuttgart 1791, S. 238-256.
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