(X.)

[269] Den 14ten November besuchte mich Hahn: mein Kommandant hatte mir diese Gnade vom Herzog erbeten. Ich war schwach und krank an diesem Tage; aber die Ehre eines solchen Besuchs, das Glük einen Mann vor mir zu sehen, den Gott zu meinem Lehrer ausersah, und den ich aus vollem Herzen liebte, durchströmte mich mit einem Gefühle, das den Schauern der Auferstehung gleicht. Was ich suchte, das fand[269] ich an ihm: den Mann, der im sanften Lichte der ersten christlichen Einfalt daherleuchtet; dessen Herrlichkeit unter dem Schleier der tiefsten Demut ruht; der den unaussprechlichen Wert einer Menschenseele kennt, und selbst rohen Sündern mit Schonung begegnet; der nur heiß wird, wenn man von Gott, seinem Gesalbten, und dem künftigen Königreiche spricht; dessen Gespräche tiefe Weisheit und sanfte Liebe athmen; und der sich und alles vergißt, wenn er eine Seele seinem Herrn und König zuführen kann. –

Ich weiß nicht, wie mir war, als er mir so gegenüber saß, meine Zweifel beantwortete, meinen Seelenzustand prüfte, und mir die weisesten Verhaltungsgeseze gab. – War dir anderst, Abraham, als du im Schatten deiner Hütte Engel Gottes bewirthetest? – O Menschengeschlecht, welch' edle, schöne Seelen hast du! Selbst patriarchalische Einfalt, altchristliche Hoheit und[270] Würde ist noch nicht ganz aus dir weggeschwunden ... Aber solche heilige Trümmer des Paradieses liegen, wie die Wahrheit, verstekt; man muß sich durch manche, oft ärgerliche Hindernisse durcharbeiten, bis man sie findet, – und hat man sie gefunden; so muß man schon ein vom Geiste gesalbtes Auge haben, um ihren hohen Wert schäzen zu können. –

Noch immer muß ich mich wundern, wie es doch möglich ist, daß ich dem Systeme eines Mannes so ganz beipflichten kann, dessen Karakter von dem meinigen, so viel abstechendes, unendlich verschiedenes hat. Aber der Geist der Wahrheit fügt sich in alle Karaktere, wenn er gleich in der sanften stillen Seele wirksamer seyn kann, als in der feurigen, ungestümen Seele. Das Ungestüm legt sich, wenn die Wahrheit gebietet. – Ich habe erst seit diesem Augenblik die Grösse des Christen kennen und schazen gelernt, und zugleich eingesehen, wie schwach,[271] wie kränkelnd, wie gebrechlich, wie umschlägig noch meine Frömmigkeit sei. Fleisch soll Geist werden; und ach, wie gewaltig fühl' ich noch in jeder Stunde die Anfälle des Fleisches! wie ermüdet oft meine Geduld! wie meine Aufmerksamkeit auf das Wort! wie vergeß' ich oft in kritischen Augenbliken meiner schönen Entschlüsse! Wie fliest oft mein Gebet so kalt, wie Wasser am Felsenstein herunter! wie ringt noch mein Geist mit der Finsternis, wie der Mond mit nächtlichem Gewölk! wie fliegt oft meine Vermessenheit hoch über der Sonne, und wie zagt oft mein Kleinmut im Staube! Wie zweifelt der Glaube, wie fröstelt die Liebe, wie bangt die Hofnung! wie fühl' ich oft die Wehen des unter der Geburt liegenden Geistes!! – O Gott, Gott, wann wird der Vorhang reissen, und das Allerheiligste unenthüllt da stehen? Wann werd' ich so rein seyn, um dich schauen zu können, wie du bist? –[272]

Da mein Verlangen Gott zu sehen, mit jedem Tage zunimmt; so konnt' ich der Meinung Hahns damals noch nicht beistimmen: »wir würden in alle Ewigkeiten keinen andern Gott sehen, als Jesum, der der sichtbare Thron der Herrlichkeit Gottes bleiben werde.« – Freilich, wenn ich mir Gott, entweder als den zusammengedrängtesten Lichtpunkt, oder, als die unbegränzteste Ausdehnung vorstelle; so scheint es, seine Geschöpfe würden ihn nie sehen, wie Er ist. Aber kann man nicht von jeder Linie aus auf den Mittelpunkt sehen? durchschaut denn nicht der Geist, mit dem wir gesalbt werden, die Tiefen der Gottheit? Steht's nicht ausdrüklich in unzählichen Schriftstellen, und sonderlich in der herzerhebendsten Stelle der ganzen Schrift Offenb. XXI. v. 3. Gott werde unter uns seine Hütte haben, wir werden ihn sehen, mit ihm sprechen, ςομα κατα? Wenn alles offenbar werden soll; so muß auch Gott endlich aus seiner Verborgenheit hervortreten, und sich als Vater[273] an der Spize der ganzen Schöpfung zeigen ... O das muß eine von den höchsten Gottesfreuden seyn! ja, das muß in den Tagen der Ewigkeiten der schönste Tag seyn, wenn Gott aus seiner Verborgenheit hervortritt, und sich nun allen seinen betenden, schweigenden, verstummenden, all in Einem großen Blik des entzükten Staunens zusammentreffenden Geschöpfen – als Gott und Vater enthüllt! – Wenn kein banger Blutstropfen mehr in seinen Geschöpfen wallt; wenn kein Engel mehr klagt, kein Wurm sich mehr krümmt, kein Schlachtfeld mehr raucht, kein Schlachterstahl träuft, kein Armer mehr am Zaune hülflos schmachtet; kein Elendthier mehr in epileptische Verzukungen schäumt; – wenn Kerker, Rabensteine, Todtengrüfte, Feuerseen, Angst- und Schauernächte, wenn Zweifel und Wahn und alles, was Leiber würgt und Seelen lastet, weggeschwunden ist, und nun das ganze All entsündigt, entlastet, neugeboren, im Urlichte der gegenwärtigen[274] Gottheit schwimmt – und endlich nach Tagelangem Schweigen, alles Laut und Stimm' und Jubel, und jauchzender Aufschrei wird, daß die Höhen der Schöpfung erbeben! – Wenn von allen tausendmaltausend Seiten Freude ausströmt und Freude zurükfließt; wenn Gott die erste Freudenträne weint!! – Meine Knie wanken, mein Auge dunkelt, mein Ohr klingt, ich kann den grösten, schönsten, seligsten der Gedanken nicht tragen – denn ich bin Staub!! – Genug, übergenug, ich werde Gott schauen!

Hahn versprach mir eine Diät für meine Seele aufzusezen, und sie mir zuzuschiken. Ich erhielt sie bald nach seinem Besuche, und freute mich, daß ich bisher oft mehr, freilich zuweilen auch weniger that, als er mir vorschrieb. Zur Erbauung meiner künftigen Leser, will ich sie wörtlich hier einrüken:


Gedanken, wie Hr. Schubart seine Zeit in seiner Gefangenschaft am nüzlichsten anwenden könnte.

[275] »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würde ich 1.) Morgens, so bald ich aufgestanden, und mich angezogen hätte, auf meine Knie vor Gott niederfallen und ihm danken, daß er mich diese Nacht nicht habe sterben oder krank werden lassen, auch daß er mir bis daher das Leben gefristet, und mich nicht in meinem ehmaligen Unglauben hingerissen; sondern die Wendung nach seiner Warmherzigkeit so gemacht, daß ich nun zu mir selbst gekommen, und in stiller Einsamkeit ohne Störung von Weltgeschäften oder Zerstreuungen und böser Gesellschaft ruhig dem grosen Geheimnis seines Willens nachdenken, und mich im Glauben der ewigen Erwählung in seinem Sohne mit Weile gründen kann: ... Auf diesem Wege kann man sodann erweket werden, für das Wohl eines Fürsten, seines Kommandanten, und seises Hauses aus dankbarem Sinn zu beten, weil[276] doch diese die Werkzeuge sind, wodurch Gott Ihnen so viele Wohlthaten, die ihren Bezug bis in die Ewigkeit hinein haben, erwiesen hat.«16

»Daneben könnte vorzüglich um weitere Erleuchtung, wahre Demut, und fortgehende, festhaltende Herzensänderung gebeten werden.«

»Je mehr man in Demut sich vor Gott erniedriget, seinen tiefgewurzelten Unglauben, Leichtsinn und andere böse Gewohnheiten, die schon einen festen Siz in den Gliedern und in den verschiedenen Organen bekommen haben, bedenkt, je mehr man erkennt, wie unbefestigt man noch seyn würde, wenn man heute seine Freiheit erlangte: je mehr man also ins Licht der Ratschlüsse Gottes eindringt, und ihm auch seine jezigen Umstände und Gefangenschaft danken lernt, desto mehr wird[277] das Gebet Frucht bringen. Auch die Regierung an jedem Tage, – daß man auch an diesem Tage einen Schritt in der Befestigung weiter wachse, daß man lerne im Glauben wandeln, und im Geist leben, hängt von Ihm ab. Denn die finstern Kräfte der bösen Engel können unser Gemüt auch in der Gefangenschaft zerstreuen, und auf böse Vorwürfe lenken; uns kalt, müde, träg machen, daß wir am Lesen und Beten Ekel haben, und unzufrieden über unser Schiksal sind.«

»2.) Nun würde ich lesen, und zwar der Ordnung zuförderst den güldenen Text der Schrift. Aber auch dieses mit einem vorhergehenden Aufsehen auf Gott, die Quelle und den Vater des Lichts, damit ich mich ja nicht an den einfältigen und doch tief gehenden, und viel in sich fassenden Ausdrüken der Schrift, nach der Gewonheit der Weltgelehrten ärgern, sondern mit einem lernbegierigen, meine tiefe Unwissenheit erkennenden Gemüte lesen möchte.«

»Hier wäre gut, zum Abwechseln jeden Tag etliche Kapitel aus den Büchern Mosis, alsdann und vorzüglich in den Psalmen nach Oetingers[278] Uebersezung, zu lesen; denn hier ist Vorschrift, wie man alle seine Umstände Gott vortragen, von Gott unmittelbar annehmen, und vor GOtt im Glauben nach Davids und Jesu Art wandlen soll. Jesus selbst hat durch die Aussprüche am Kreuze gezeigt, daß ihm die Psalmen bekannt gewesen, und daß er in den Umständen Davids seine Umstände gesunden.« u.s.w.

»Weiter: etwas in den Propheten; aber alles in der Ordnung. Die Propheten aber immer im Blik auf's verheissene Königreich der lezten Zeitdamit Ihnen das bekannt werde, was noch kommen soll; aber mit einem einfältigen kindlichen Glauben: daß Gott dem Wort nach manches erfüllen könne, was uns thöricht und unmöglich scheint, gleichwie er auch von Anfang an gethan: z.B. in Ansehung der Sündflut, Erscheinungen, und Besuch bei Abraham; in den Offenbarungen, die dem Moses zu verschiedenenmalen wiederfahren; ferner bei'm Durchgang durch's rothe Meer, Speisung eines so großen Volkes in der Wüste, und Tränkung desselben aus einem Felsen, wo vorher kein Wasser floß: u.s.w. welches alles die heutigen Gelehrten vorher, eh es geschehen[279] war, eben so wenig geglaubt, und Gott lieber in den engen Bezirk ihres kurzgefaßten Möglichkeitsystems eingeschlossen, und einen jeden Glaubigen ausgelacht hätten, wie vermutlich die vor der Sündflut den Noah ausgelacht, als er den Schiffkasten gebaut; und die zu Sodom den Loth, als er die Zerstörung ihrer Stadt geglaubt.«

»Nun könnten Sie auch im Lebenslauf Jesu nach meinem Testament ein Pensum vornehmen, und sich solches bekannt machen, nach der Zeitordnung, und nach den dabei vorgefallenen Thaten Jesu. Und so könnte dieses Pensum auch die Apostelgeschichte in sich begreifen, wenn der Lebenslauf Jesu zu Ende wäre.«

»Ferner könnte auch ein Pensum in den Briefen genommen werden; und zwar so, daß man den Brief entweder nach dem Wortverstande, nach meiner Anleitung im Testament, zu verstehen, sodann etwas zur Lehre und zum Trost für seine Umstände daraus zu fassen suchte. Das nüzt gar viel, das System Pauli oder eines andern Apostels aus dessen Briefen übersehen zu lernen.«

[280] »Endlich auch noch etwas aus der Offenbarung Johannis, entweder nach meiner, oder Bengels Erklärung. Hölders seine taugt nicht. Er weicht zuviel vom Worte ab; wenn man alles so unbestimmt verstehen darf, was in der Bibel steht, so haben wir gar keine Bibel mehr, und ein jeder kann seine Meinung als Gottes Wort verkaufen, und aus der Bibel beweisen.«17

»Diesen Pensu suchen Sie so zu fassen, daß Sie solche einem erzählen können, nach den Hauptpunkten, und dann auch nach den Nebenpunkten. Z.E. den Lebenslauf Jesu nach der in meinem Testamente befindlichen Bengelschen Harmonie, sollte ein jeder Christ so fassen lernen, daß er solchen einem Kinde von Punkt zu Punkt erzählen könnte: so auch jede Epistel, und vorzüglich[281] die Offenbarung Johannis. Und wenn man das alles auch noch nicht so glauben kann, so sollte man doch zur Prüfung des Systems eines Manes Gottes, wie z.B. Bengel ist, den Zusammenhang desselben recht deutlich zu fassen, sich befleissen, sonst kann man kein Urteil fällen.«

»Dieß, meine ich, werde jeden Tag ziemlich wegnehmen; also, daß wenn man das Essen, und die Bewegung durch Auf- und Ablaufen, und Nachdenken im Zimmer ausnimmt, wenig Zeit mehr übrig bleiben wird. Auch das Essen und Trinken soll mit mündlichem Dank gegen Gott, und seine Gutthäter, und Vorsteher geschehen.«

»Und ohne ernstliches Gebet und Unterredung mit Gott, soll man nicht zu Bette gehen: im Bette aber sich vor Gottes Gegenwart fürchten, und auch vor der Sünde der Selbstbeflekung sich hüten, und dagegen beten, und streiten. Ueberhaupt muß man auf alles Achtung geben, was in einem vorgeht, und nichts zu leicht nehmen, damit man in Zeiten auf den laurenden Feind gefaßt ist.«

[282] »So kann die Zeit meines Erachtens nüzlich hingebracht werden. Dürften Sie schreiben, so wäre es mit gewisser Maase und Einschränkung noch besser, und alsdann wollte ich auch hierüber meine Gesinnungen auf Begehren äussern.«

»So viel vor dießmal in Eil.«

»Hahn.«


So schlos ich das zweite Jahr meiner Gefangenschaft, betend, Gott dankend, voll frommer Entschlüsse, und wie durch ein Wunder, tausendmal ruhiger, als ich das erste schlos.

Den 1ten Februar war der Herzog hier und erlaubte mir die Besuchung des öffentlichen Gottesdienstes. Wieder eine neue Empfindung für mich, als ich nach zwei Jahren unter einer Anzahl Menschen, die sangen und hörten und beteten, im Tempel vor Gott erschien, und mich wie[283] ein Aussäziger, nach der ehmaligen Verordnung Gottes, dem Priester zeigte. Die Ketten der Gallioten, die über's Kirchpflaste rrasselten, mein lieber von Sch****** – den ich durch die Kerkerwand hindurch liebgewann, und den ich nun im Gitterstuhle leibhaftig neben mir stehen hatte, nebst der Schwäche meiner kaum gebornen frommen Gefühle – erfüllten mich bei'm ersten Kirchenbesuch mehr mit Wehmut, als mit Freude. Ein Neubekehrter ist wie ein Mensch, der von einer schweren Krankheit aufstand: seine Tritte sind schwach, sein Ton ist gepreßt, die Farbe bleich, die Blike matt; er fühlt den Hauch der Luft, und das kleinste Steinchen schneidet und schmerzt seine Sole.[284]

16

Es gehört viel Gnade dazu, bis man für strenge – viele Jahrelang daurende Zucht dem Herrn, als für Wohlthaten, danken kann. Es gibt manche finstre Stunde, wo ich dieß nicht vermag. So lang man am Bein sägt: so erkennt man die Wohlthat der Amputation nicht.

d.V.

17

Ich habe Gründe, weder Hahns und Bengels, noch Hölders apokaliptischen System beizutreten. Levater in seinem Jesus Messias, – mehr noch Herder, haben mir das meiste Licht in der Apokalypse gegeben. Hahn, Bengel, Hölder, sind zu wenig Dichter, als daß sie den Sinn orientalischer Feuersymbole erreichen könnten.

d.V.

Quelle:
Schubart, Christian Friedrich Daniel: Schubart’s Leben und Gesinnungen. Zweiter Theil, Stuttgart 1793, S. 269-285.
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