Der Schneider auf Reisen

[341] Der Schneider Franz, der reisen soll,

Weint laut und jammert sehr:

»O Mutter, lebet ewig wohl,

Euch seh ich nimmermehr!«

Die Mutter weint entsetzlich:

»Das laß ich nicht geschehn,

Du darfst mir nicht so plötzlich

Aus deiner Heimath gehn.«


»O Mutter, nein, ich muß von hier,

Ist das nicht jämmerlich!«

»Mein Kind, ich weiß dir Rath dafür,

Verstecken will ich dich.

In meinem Taubenschlage

Verberg ich dich, mein Kind,

Bis deine Wandertage

Gesund vorüber sind.«


Mein guter Schneider merkt sich dies,

Und thut als ging er fort,

Nahm kläglich Abschied und verließ

Sich auf der Mutter Wort.

Doch Abends nach der Glocke

Stellt er sich wieder ein,

Und ritt auf einem Bocke

Zum Taubenschlag hinein.


Da ging er, welch ein' Wanderschaft,

Im Schlage auf und ab,

Und wartete, bis ihm zur Kraft

Die Mutter Nudeln gab;[341]

Bei Tag war er auf Reisen,

Doch ach in mancher Nacht,

Da hatt' er mit den Mäusen

Und Ratten eine Schlacht.


Einst hatte seine Schwester Streit

Nicht weit von seinem Haus,

Er hört, wie die Bekämpfte schreit,

Und guckt zum Schlag hinaus.

Mein Schneiderlein ergrimmte,

Macht eine Faust und droht:

»Wär' ich nicht in der Fremde,

Ich schlüge dich zu todt.«

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 341-342.
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