Der ewige Jude

[366] Eine lyrische Rhapsodie.


Aus einem finstern Geklüfte Karmels

Kroch Ahasver. Bald sind's zweitausend Jahre,

Seit Unruh' ihn durch alle Lande peitschte.

Als Jesus einst die Last des Kreuzes trug,

Und rasten wollt' vor Ahasveros Thür';

Ach! da versagt' ihm Ahasver die Rast,

Und stieß den Mittler trotzig von der Thür:

Und Jesus schwankt' und sank mit seiner Last.

Doch er verstummt. Ein Todesengel trat

Vor Ahasveros hin und sprach im Grimme:

»Die Ruh' hast du dem Menschensohn versagt;

Auch dir sei sie, Unmenschlicher! versagt,

Bis daß er kömmt!«

Ein schwarzer höllentflohner

Dämon geißelt nun dich, Ahasver,

Von Land zu Land. Des Sterbens süßer Trost,

Der Grabesruhe Trost ist dir versagt!


Aus einem finsteren Geklüfte Karmels

Trat Ahasver. Er schüttelte den Staub

Aus seinem Barte, nahm der aufgethürmten

Todtenschädel einen, schleudert' ihn

Hinab vom Karmel, daß er hüpft' und scholl

Und splitterte. »Der war mein Vater!« brüllte

Ahasveros. Noch ein Schädel! Ha,

Noch sieben Schädel polterten hinab

Von Fels zu Fels! »Und die – und die« mit stierem,[366]

Vorgequollnem Auge rast's der Jude:

»Und die – und die – sind meine Weiber – Ha!«

Noch immer rollten Schädel. »Die und die,«

Brüllt' Ahasver, »sind meine Kinder, ha!

Sie konnten sterben! – Aber ich Verworfner,

Ich kann nicht sterben! Ach, das furchtbarste Gericht

Hängt schreckenbrüllend ewig über mir.


Jerusalem sank. Ich knirschte den Säugling,

Ich rannt' in die Flamme. Ich fluchte dem Römer;

Doch, ach! doch, ach! der rastlose Fluch

Hielt mich am Haar, und ich starb nicht.


Roma, die Riesin, stürzte in Trümmer;

Ich stellte mich unter die stürzende Riesin,

Doch sie fiel und zermalmte mich nicht.

Nationen entstanden und sanken vor mir;

Ich aber blieb, und starb nicht!

Von wolkengegürteten Klippen stürzt' ich

Hinunter ins Meer; doch strudelnde Wellen

Wälzten mich ans Ufer, und des Seins

Flammenpfeil durchstach mich wieder.

Hinab sah ich in Aetnas grausen Schlund,

Und wüthete hinab in seinen Schlund:

Da brüllt' ich mit den Riesen zehn Monden lang

Mein Angstgeheul, und geißelte mit Seufzern

Die Schwefelmündung. Ha! zehn Monden lang!

Ich Aetna gohr und spie in einem Lavastrom

Mich wieder aus. Ich zuckt' in Asch', und lebte noch!


Es brannt' ein Wald. Ich Rasender lief

In brennenden Wald. Vom Haare der Bäume

Trof Feuer auf mich –

Doch sengte nur die Flamme mein Gebein

Und verzehrte mich nicht.


Da mischt' ich mich unter die Schlächter der Menschheit,

Stürzte mich dicht ins Wetter der Schlacht,

Brüllte Hohn dem Gallier,[367]

Hohn dem unbesiegten Deutschen:

Doch Pfeil und Wurfspieß brachen an mir.

An meinem Schädel splitterte

Des Sarazenen hochgeschwungnes Schwert.

Kugelsaat regnete herab an mir,

Wie Erbsen auf eiserne Panzer geschleudert.

Die Blitze der Schlacht schlängelten sich

Kraftlos um meine Lenden,

Wie um des Zackenfelsen Hüften,

Der in Wolken sich birgt.

Vergebens stampfte mich der Elephant;

Vergebens schlug mich der eiserne Huf

Des zornfunkelnden Streitrosses.

Mit mir borst die pulverschwangre Mine,

Schleuderte mich hoch in die Luft,

Betäubt stürzt' ich herab und fand mich geröstet

Unter Blut und Hirn und Mark

Und unter zerstümmelten Aesern

Meiner Streitgenossen wieder.


An mir sprang der Stahlkolben des Riesen;

Des Henkers Faust lahmte an mir;

Des Tigers Zahn stumpfte an mir;

Kein hungriger Löwe zerriß mich im Circus.

Ich lagerte mich zu giftigen Schlangen;

Ich zwickte des Drachen blutrothen Kamm;

Doch die Schlange stach, und mordete nicht!

Mich quälte der Drach', und mordete nicht!


Da sprach ich Hohn dem Tyrannen,

Sprach zu Nero: Du bist ein Bluthund!

Sprach zu Christiern: Du bist ein Bluthund!

Sprach zu Mulei Ismael: Bist ein Bluthund!

Doch die Tyrannen ersannen

Grausame Qualen, und würgten mich nicht.


Ha! nicht sterben können! nicht sterben können!

Nicht ruhen können nach des Leibes Mühn!

Den Staubleib tragen! mit seiner Todtenfarbe[368]

Und seinem Siechthum! seinem Gräbergeruch!

Sehen müssen durch Jahrtausende

Das gähnende Ungeheuer Einerlei!

Und die geile, hungrige Zeit,

Immer Kinder gebärend, immer Kinder verschlingend!

Ha! nicht sterben können! nicht sterben können!

Schrecklicher Zürner im Himmel,

Hast du in deinem Rüsthause

Noch ein schrecklicheres Gericht?

Ha, so laß es niederdonnern auf mich!

Mich wälz' ein Wettersturm

Von Karmels Rücken hinunter,

Daß ich an seinem Fuße

Ausgestreckt lieg' –

Und keuch' – und zuck' und sterbe! –«


Und Ahasveros sank. Ihm klang's im Ohr;

Nacht deckte seine borst'gen Augenwimper.

Ein Engel trug ihn wieder ins Geklüft,

»Da schlaf nun,« sprach der Engel, »Ahasver,

Schlaf süßen Schlaf; Gott zürnt nicht ewig!«

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 366-369.
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