Der Hahn und der Adler

[197] Eine Fabel ohne Moral.


Ein Fürst war einem Hahnen hold –

»Warum nicht gar! Was? einem Hahnen?«

Ja, ja, er liebt ihn mehr, als seine Unterthanen.

Sein Kamm war Purpur, seine Federn Gold.

Dumm war er zwar; jedoch sein Kikriki

Galt an dem Hofe für Genie.

Kein Höfling durfte sich erdreisten,

Dem Hahnen was zu thun. Ihn speisten

Prinzessinnen mit eigner Hand,

Und schmückten seinen Hals mit einem goldnen Band.

Der Hofmann ehrte ihn, der oft vor Neid erstickte,

Wenn sich die Dame niederbückte

Und dann der Hahn den Marmorarm bepickte.


An einem Morgen flog der Hahn

Hinab zum Garten, schlug die Flügel

Und krähete von einem Rasenhügel

Den goldnen Morgen an.[197]

Ein Adler flog vorbei. Der stolze Haushahn schrie

In seiner schmetternden Trompetenmelodie:

Wohin, Herr Bruder! schon so früh?

Quälst du dich noch mit Sonnenflug?

Zu deinem Glück ist's schon genug

An einem Hahnenflügelschlage.

Komm und genieße goldne Tage!

Die Könige bewundern dich,

Dich speisen Fürstinnen mit hoher Hand, wie mich,

Was willst du dich mit Donnerkeilen plagen?

Kann Zeus sie denn nicht selber tragen?


Schweig, sprach mit einem ernsten Blicke

Der Sonnenflieger zu dem Hahn,

Ich fliege zu der Wolkenbahn;

Du aber bleibst im Staub zurücke.

Ein Schwätzer, leer, wie du, ist's werth,

Daß ihn der goldne Höfling ehrt.

Ihr Beifall und ein Band ziemt deinem Hahnenwitze;

Ich aber fliege zu dem Sitze

Des Donnerers, und trage Blitze,

Und der Olympos sieht mich lächelnd an;

Selbst Vater Zeus der donnern kann,

Giebt mir zum Lohne väterliche Blicke

Dann eil' ich stolz zum Felsennest zurücke,

Und Teuts erhabner Bardenchor

Singt aus dem Eichenhain zu meinem Fels empor.

Vor trunkner Wollust schlummr' ich hin,

Und fühl's, daß ich ein Adler bin.


Die Muse der Geschichte spricht:

In Cassel gilt die ganze Fabel nicht.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 197-198.
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