Dämmerungsphantasie

[208] An Cäcilie.


Vergebens senkt mein Geist in der Wissenschaft

Verborgnes Reich sich, forschet der alten Zeit

Verhüllten Quellen nach und träumt im

Thörichten Stolz von dem Kranz des Nachruhms:


Dein süßes Bildniß spottet den heil'gen Ernst

Von meiner Stirn fort: ach, wenn die Huldgöttin

Sich lächelnd naht, so kränzt die Weisheit

Fröhlich mit Myrten die Silberlocken.


Nicht länger duld' ich dann das verhaßte Joch:

Mit freiern Schwingen über das frost'ge Land

Des Wissens schwebt mein Geist, und staunend

Fühl' ich ein Herz mir im Busen schlagen.


Der Ehre Blendwerk, welches in früh'rer Zeit

Mich einst umspielte, jeglichen eitlen Wahn

Vom Lob der Mitwelt, von des Enkels

Staunendem Schweigen verscheucht mir siegreich


Dein zartes Lächeln, welches der Blüthe gleich,

Die halb verhüllt vom Saume der Knospe noch

Sich schüchtern zeigt, der geist'gen Freude

Leiseres Wehen in dir verkündet.
[209]

Ich folg', ich folge, reizendes Bild, wohin

Dein Wink mich leitet; über das weiche Grün

Der Wies' und durch den Duft der Haine

Folg' ich mit ewiger, süßer Sehnsucht!


Mit leisem Flüstern säuselt in stiller Luft

Der Tanz der Dämmrung; freundlich erwachen rings

Im Kelch der Blüthen, wo beim Rieseln

Hüpfender Wellen sie sanft geschlummert,


Die Traumgebilde; sieh, zu dem Rosensaum

Des fliehnden Tages schwingen sie leicht sich auf,

Und in der Sonne letztes Lächeln

Tauchen sie leise die linden Flügel.


Bethaute Kränze dann um die heiße Stirn

Der wachen Sorge winden die Freundlichen,

Und Sehnsucht um den Mund der Liebe

Hauchen sie, Lust auf des Kindes Wange.


O, schweb' empor am Rande der dunklen Welt,

Und gleich dem Dämmern ferner Erinnerung,

Die sinnend uns aus Lust und Wehmuth

Gaukelnde Zaubergebild' entfaltet,


Gieß ihn herab vom schweigenden Pfad, o Mond,

Den geist'gen Schimmer, daß die verklärte Flur

Zum sel'gen Traum der schönern Zukunft

Werd' und die irdische Form verhülle.
[210]

Hier laß uns ruhn, am Silber des flücht'gen Quells;

Gleich deiner Seele giebt er, vom luft'gen Strahl

Des keuschen Lichts umwallt, mein Bild mir

Reiner zurück und der Liebe würd'ger.


O senk ihn nieder, Heilige, senk' auf mich

Den Blick, worin der ewige, leise Schmerz

Des zartern Busens friedlich lächelt;

Schmerz ist die einzige Lust der Sehnsucht. –


So wallt des schönern Lebens erblüh'nder Lenz

Einst beim Erwachen um den verklärten Geist,

Wie jetzt bei deinem Blick der Glanz der

Reineren Liebe mein Herz umleuchtet.


O, möcht' ich sterben! möcht' ich im Traum der Lust

Von hinnen scheiden! Nimmer erträgt das Wehn

Des kalten Nords die zarte Blüthe,

Welche der wärmere Hauch gepflegt hat.

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 4, Leipzig 1819–1820, S. 208-211.
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