Liebesmorgen

[9] Gelagert sprachlos saßen wir im Kreise,

Ein Jeder sann den Morgenträumen nach;

Da öffnete die Pforte sich, und leise

Tratst du herein und standst in dem Gemach,

Und neigtest dich nach deiner holden Weise,

Verschämt und kaum vom ersten Schlummer wach,

Und blicktest schüchtern auf, uns mit den süßen

Schlaftrunknen Aenglein halb im Traum zu grüßen.
[9]

Ist das der Blick, der aus der Locken Kranze

So stolz hervorgeleuchtet und gesiegt?

Ist das die Brust, die sonst bei Fest und Tanze

In weicher Seide schwellend sich gewiegt?

O wie sie nun sich, frei von allem Glanze,

So fromm in die bescheidnen Tücher schmiegt!

Wie schmückt das Haar so schlicht der Stirne Bogen,

Wie hat der Blick sich scheu zurückgezogen!


O dürft' ich als die Meine dich begrüßen

In dieser keuschen, stillen Morgentracht,

Wo nur der Sonne Lichter dich umfließen,

Nicht eitler Lampenschein und falsche Pracht.

O dürft' ich diesen milden Reiz umschließen,

Nach jeder einsam durchgehofften Nacht

Dir liebend in dein Morgenantlitz blicken,

Ans Herz dich, den verhüllten Himmel, drücken!

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 9-10.
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